Abgang

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Kayl

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„Können Sie mir sagen, wieviel Uhr es ist?“ Die Frage kam überraschend. Ich hatte Schreibplatte, Stift, Radiergummi und ein Buch ins Hallenbad des Hotels mitgenommen und war gewohnt, ohne Ansprache auf der Liege am Beckenrand zu liegen und allenfalls das Planschen der Kinder zu hören.
Sie gefiel mir. Ungeschminkt, ohne Piercing, kein Tattoo, Finger- und Fußnägel echtfarbig, fast in Reichweite neben mir. Ich wies zur Wand gegenüber. „Da hängt eine Uhr.“
Sie lächelte. Ein gewinnendes Lächeln, in dem nur junge Mädchen geübt scheinen. „Ich bin das erste Mal hier, - mit meinen Eltern.“
Hübsch auch ihr rostroter Bademantel, unter ihr auf der Liege ausgebreitet, eine geöffnete Schmuckschatulle mit wohlgeformten Schatz im Bikini.
Mir fiel ein, wie wir als Jünglinge vor fünf Jahrzehnten ziemlich frech das Äußere eines reizvollen Mädchens beurteilt hatten: Da geht dir das Klappmesser in der Tasche auf!
„Gefällt es Ihnen hier?“ Es erinnerte mich an die Standardfrage des ersten Treffens in Discotheken: Sind Sie oft hier? Aber mir fiel nichts anderes ein, um einen Faden zu ihr zu spinnen.
„Meine Mutter hat mich überredet, mitzukommen. Aber es gefällt mir hier, gute Küche, sonniger Balkon, dieses große Schwimmbecken, freundliche Gesprächspartner …“ Sie lächelte verführerisch.
„Danke, danke!“ Das ließ mich abheben. „Wenn man so angenehm dazu angeregt wird …“
Sie legte ihr Buch neben sich auf die Liege. Habe ich ihre Aufmerksamkeit erhöht?
„Ja, wir haben gestern beim Spaziergang einen jungen Wanderer getroffen, der eine zeitlang mit uns gelaufen ist. Eine nette Begegnung. Am Ende haben wir Adressen ausgetauscht.“
„Vielleicht bekommen Sie bald einen lieben Brief“, bemerkte ich und ertappte mich bei dem Gedanken, dass auch ich ihr gern einen originellen Brief schreiben würde.
„Versprochen haben wir’s uns.“
Ich fühlte mich abgemeldet. Gegen einen jungen Wandersmann komme ich Beinahe-Greis nicht an. Was hatte ich nur für unverfrorene Vorstellungen bei einem Altersunterschied von …? Ja wirklich, von einem halben Jahrhundert. Ein Glück, dass sie meine Gedanken nicht lesen konnte.
„Ich hoffe nur, dass mein Freund mit dem Briefwechsel einverstanden ist.“
Auch das noch! Zwei Konkurrenten.
„Was kann Ihr Freund denn gegen Ihren Charme ausrichten?“
Sie sieht zur Decke, schiebt sich auf dem Bademantel zurecht und greift zum Buch.
War das zu viel? Ich sollte meine Worte besser abwägen.
Nicht so oft hinsehen! Trotzdem drehe ich ab und zu den Kopf zu ihr, die sich wieder in ihr Buch vertieft. Es soll nicht auffallen, deshalb lese auch ich weiter. Ich hätte mir Notizen machen sollen zu den Personen, um die es in meinem Buch geht. Nun kann ich dem Pfad der Geschichte nicht mehr folgen, sehe zu den Lampen an der Wand. Neben der Uhr sind da Lampen und ein Thermometer. Die Gradzahl kann ich kaum erkennen. Ich blinzele, sind es dreißig Grad? Das Lachen und Rufen der Kleinen im Becken entfernt sich mehr und mehr, wird zum eintönigen Geräusch. Ich kann das Buch nicht mehr halten.
Kann sie schwimmen? Ich kann sie nicht fragen. Mein Wunschdenken geht mit mir durch, beschert mir Märchenhaftes. Nein, sie kann es nicht.
Ich bringe es ihr bei! Auf meinen Armen, in einem endlosen Unterricht.
Sie kann nicht schwimmen, und ich bringe es ihr bei, ich nehme es auf mich, nehme sie auf meine Arme. Ja, ich brächte es ihr bei. Arme nach vorn, in großen Kreisen nach hinten! Beine anziehen, grätschen, nach hinten stoßen, rhythmisch atmend ruhig auf meinen Armen liegen! Nur beiläufig, ungewollt und doch zwangsweise, würde ich ihr Fleisch in meinen Händen fühlen, weich und warm.
Ruhige Züge, das warme Wasser entspannt. Fühlen Sie meine Arme? Nicht ablenken lassen, auf die Bewegungen achten. Sehen Sie, das Wasser trägt doch schon! Wir trinken was zusammen, wenn Sie schwimmen können, abgemacht? Sie strahlt wie Schneewittchen nach dem Kuss des Prinzen.
Ich schrecke auf. Spritzer treffen mich auf meiner Liege. Ein Junge ist ins Becken gesprungen, obwohl nicht erlaubt. Eine Dusche, die meine Blase anregt.
Ich wälze mich zur Seite und stehe langsam auf, Glied für Glied, wie ein Zollstock. Ich versuche, zur Toilette nicht zu hinken. Ein Hüftgelenk macht nicht mehr mit.
Der Strahl ist kräftiger seit der Prostata-Operation, aber es kommt nicht alles heraus. Ein Rest gerät hin und wieder nach dem Geschäft in die Hose, wenn auch nur tropfenweise. Dagegen wird mich ein lockerer Schneidezahn bald verlassen. Im Spiegel sehe ich ihn noch. Er klappert beim Zähneputzen. Mein Haupthaar war auch mal fülliger.
Ein Glück, dass man mein Vorhof-Flimmern und den Glaukom-Schaden im rechten Auge nicht sieht.
Ich hinke zurück zur Schwimmhalle.
Mein Schwarm, meine heimliche Schwimmschülerin, ist nicht nur im Wasser, nein, sie krault durchs Becken in rekordverdächtigem Tempo, hebt den Kopf nur zum Luftholen seitlich aus dem Wasser und zeigt an der Beckenwand eine perfekte Rollwende.
Sie macht eine Pause, verschränkt ihre Arme auf dem Beckenrand, schleudert das Wasser aus dem blonden Schopf und entdeckt mich, wie ich zum Becken wackele, auf den nassen Fliesen ausrutsche und mich nur mit Mühe aufrecht halten kann.
„Oh, hoffentlich haben Sie sich nicht wehgetan. Können Sie jetzt noch schwimmen? Darf ich Ihnen helfen? Die Leiter ist etwas steil.“
 

Kayl

Mitglied
Liebe SilberneDelfine, sehr aufmerksam gelesen, du hast Recht. Aber hätte ich schreiben sollen: ohne sichtbares Piercing, kein Tattoo zu sehen?
Nebenbei: Die Geschichte ist so ähnlich passiert, nur die Schlusspointe habe ich mir einfallen lassen. Und das Hallenbad (im Waldhotel Heppe) hat keine Leiter sondern eine Treppe. Auch meine körperlichen Gebrechen sind „echt“, und hier hatte eine Freundin von uns zu kritisieren: zu krass!, zu unappetitlich!
Ich stelle immer wieder fest: Das eigene Erleben liefert die besten Plots.
Danke für deinen Kommentar
 

NJSeifert

Mitglied
Toll geschrieben, aber viel kontroverser als sie körperlichen Gebrechen, finde ich diese Tagtraum Sequenz des Schwimmunterrichtes. Mich hat es richtig geschüttelt. Wirklich sehr authentisch! Wahrscheinlich ist das ein gutes Zeichen...
 

hein

Mitglied
Hallo Kayl,

die Geschichte ist gut und nachvollziehbar.
Da meint man, man können noch mal den Helden spielen. Und was kommt dabei heraus: nur über Mitleid erregt man noch das Interesse anderer Menschen.

Ich mag Deinen Stil: gut lesbar und ohne unnötige Schnörkel.

LG
hein
 



 
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