Abkehr

4,00 Stern(e) 1 Stimme

James Blond

Mitglied
Vielleicht ist dies das wahre Glück:
Die Welt kam mir abhanden.
Ich ließ sie schwinden, Stück um Stück,
nachdem sich Freunde fanden.

Die trage ich nun stets bei mir
in meinen Hosentaschen
und seh, dass ich sie nicht verlier:
Sie schlüpfen leicht durch Maschen.

Denn zart ist ihre Lichtnatur,
sie meiden das Gewebe
und halten die Gedankenspur
in wundersamer Schwebe.

Sie bringen sich durch Fugen ein
mit wohlgesetzten Tönen,
als wollten sie vom grellen Schein
der Gegenwart versöhnen.

Ich lausche ihrem Walgesang
und treibe durch die Meere,
so schwerelos trägt mich ihr Klang
in tiefe, weite Leere.
 
Zuletzt bearbeitet:

James Blond

Mitglied
Lieber Aufschreiber,

dankeschön - ich nehme das gern als großes Kompliment, wenn dieser Text allein sprachlich zu überzeugen weiß. Und ich freue mich, dass dies auch gesehen wird.

Der Inhalt lässt sich nicht leicht erschließen, darin stimme ich dir durchaus zu. Ich werde mich allerdings hüten, hierzu eine Leseanweisung zu verfassen, denn das würde dem Text noch weniger gerecht. Als Hinweis vielleicht nur, dass hier ein lyrisches Verständnis von Worten seinen Ausdruck findet: Sie sind nicht länger Träger (oder Überbringer) von Bedeutungen und Inhalten, sondern werden zu Löchern, die Blicke auf eine vielfältige Wirklichkeit gestatten, je nach dem Blickwinkel, aus dem man hindurchblickt.

Liebe Grüße
JB
 

Aufschreiber

Mitglied
Hallo @James Blond,

weißt Du, ich möchte auch keine Erläuterung. Ich kann mich auch nur der Sprache erfreuen, die ich sehr liebe.
Womöglich lese ich es irgendwann wieder einmal und dann trifft mich der Blitzstrahl plötzlicher Erleuchtung?
Bis dahin bleibt mir der Gedanke: "Toll geschrieben."

Beste Grüße,

Steffen.
 

Outymier

Mitglied
die sprachliche Gestaltung gefällt mir auch sehr gut: melodisch musikalisch, und ist der Text eher vage, mysteriös, nicht sofort erfassbar, ihn öfter lesen erschliesst immer wieder neue Interpretationsmöglichkeiten.
 

James Blond

Mitglied
die sprachliche Gestaltung gefällt mir auch sehr gut: melodisch musikalisch, und ist der Text eher vage, mysteriös, nicht sofort erfassbar, ihn öfter lesen erschliesst immer wieder neue Interpretationsmöglichkeiten.
So war es auch beabsichtigt. Lieber Outymier, hab vielen Dank für dein Feedback!

Grüße
JB
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo James,
atmosphärisch gefällt mir das sehr gut, insbesondere der uferlos dahintreibende Schlussakkord!
Sprachlich / melodisch gut gestaltet; an einer Stelle fühlt es sich für mich fragwürdig an:
als wollten sie vom grellen Schein
der Gegenwart versöhnen.
Vertraut ist mir die Wendung "mit etwas versöhnen".

Tja, dann bleibt da noch die Frage: Worum geht es eigentlich? Da ich die Kommentare meiner Vorredner zunächst nicht gesehen habe, blieb alles vage und ich tendierte dazu, dass hier ein "präzise zu greifendes Etwas" gar nicht zu suchen ist / gar nicht gemeint ist. Fühlte mich mit dieser Einschätzung aber unsicher. Deine nachgereichten vorsichtigen Hinweise bestätigen den bedeutungsoffenen Charakter des Gedichts.
Im philosophischen Sinne sprechen mich deine Zeilen sehr an: im Verlieren und Loslassen macht das Ich die Erfahrung des Berührtseins; die Leere ist der Raum, in dem die sensorischen Rezeptoren erwachen. Fülle ist uncool, kann beengen und in die Sackgasse der Übersättigung führen.

liebe Grüße, wüstenrose
 

James Blond

Mitglied
Liebe(r) wüstenrose,

danke, dass du dich mit diesem Gedicht eingehender beschäftigt hast. Deine philosophischen Überlegungen zur Leere passen auch sehr gut dazu. Wichtig war mir hier, die Balance der Offenheit nicht zu verlieren, in dieser Abkehr mischt sich das Positive mit dem Negativen, oder genauer: es ist nicht mehr klar, was positiv und was negativ zu deuten ist.

Sehr schön auch, dass du über die Formulierung 'von etwas versöhnen' gestolpert bist, denn tatsächlich lautet ja der übliche Gebrauch'mit etwas versöhnen'. Hier aber werden keine Gegensätze miteinander versöhnt, die Formulierung ...

als wollten sie vom grellen Schein
der Gegenwart versöhnen


... spielt zwar auf den Aspekt der Wiedergutmachung an, allerdings findet die Versöhnung mit der Gegenwart, nicht aber mit ihrem grellen Schein, sondern in der Abkehr statt. Dies in einer Präposition unterzubringen, ist nicht leicht. Ich habe mir daher ein gewisses Maß an sprachlicher Freiheit geleistet: 'von etwas versöhnen' im Sinne von versöhnlich stimmen.

Liebe Grüße
JB
 

wüstenrose

Mitglied
Moin James,
danke für deine nochmalige Beleuchtung einzelner Aspekte!
Ja sicher, die Balance ist entscheidend!
Einstweilen träume ich von der Rente und davon, dass es mit der Balance dann besser klappt. Leider ist das Ziel noch in weiter Ferne ...
liebe Grüße, wüstenrose
 

rainer Genuss

Mitglied
Lieber J
beim Rückwärtslesen hörte ich den Walgesang in deiner Hosentasche. Du und deine Werke sind immer exxtraordinär, denoch harmonisch und einzigartig
 



 
Oben Unten