Abschied

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Charlene

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Abschied​

Sie nimmt seine Hand, wie um sich zu vergewissern, dass Elias noch da ist, dass sie ihn noch nicht im Stich gelassen hat. Sie fasst sie fester, seine Hand, die langsam kalt wird. Behutsam streicht ihr Daumen an seinem entlang. Sie spürt jede Falte, jede noch so kleine Runzel, und wie die Landkarte einer eigenen Welt, die nur ihr gehört, breitet sich die Struktur seiner Haut vor ihrem inneren Auge aus und brennt sich wie glühendes Eisen in ihre Erinnerung ein. Sachte liebkost sie seine Finger. Seine Finger, die jetzt kalt sind. Sie sitzt ganz still mit geschlossenen Augen da, während sich feuchte, warme Tränen durch ihre dichten Wimpern hindurch einen Weg bahnen und ihre Wangen hinab rinnen. Stumm und vollkommen regungslos presst sie ihre Lippen aufeinander, verbannt die Schluchzer, die wie hungernde Ungeheuer in ihr wüten, so tief nach unten wie sie nur kann, und konzentriert sich auf ihre Umgebung. Sie strengt sich an, jeden Laut zu erhaschen, weil sie hofft, die letzten verklingenden Töne seiner Stimme einfangen zu können. Aber der Wind hat sie schon lange hinfort geweht. Einen Augenblick fragt sie sich, ob sie sie noch erreichen könnte, wenn sie schnell genug wäre, den Wind einzuholen. Nein, nein. Das geht nicht, sie weiß es, wusste von Anfang an, dass es eine kindische Idee ist, ein Einfall der Verzweiflung; und doch fühlt sie sich jetzt noch verlassener als zuvor.
In ihrem Kopf kann sie immer noch Elias’ Lachen hören und seine Stimme, die im Laufe der letzten Jahren rau und brüchig geworden war. Neunundachtzig Jahre hinterlassen eben überall ihre Spuren, hatte er mit diesem Zwinkern in den Augen zu ihr gesagt, ihre Hand genommen und für einige Augenblicke hatten sie beide darauf geschaut – seine vom Alter gezeichneten Hände und ihre, ohne eine einzige Falte, so jung wie an dem Tag als sie vor dem Traualtar gestanden hatten. Sie mochte nicht nachrechnen, nicht wissen, wie kurz ihre gemeinsame Zeit gewesen war, aber auch so konnte sie es nicht verdrängen. Siebenundsechzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Fast sein ganzes Leben. Nur ein Bruchteil des ihren.
Für dich bin ich nur eine kurze Episode in der Ewigkeit. Aber für mich, Claire, bist du allein das Leben. Den Kopf hatte sie geschüttelt, Elias einen unverbesserlichen Narren genannt, das Thema gewechselt. Aber nie hatte der Gedanke daran sie losgelassen.
Ich gebe dir mein Blut, damit du leben kannst. Aber ich will deines nicht, wenn ich dafür meine Menschlichkeit aufgeben muss. Sein Ton war so entschlossen gewesen, dass jeglicher Widerspruch dem Versuch glich, eine Mauer mit nichts weiter als einer Feder einzureißen.
Bin ich denn tot?, hatte sie es dennoch versucht und sich angestrengt bemüht, heiter zu klingen, die Angst, die sich auf ihre Stimmbänder legte, zu übertünchen.
Du würdest doch nicht sterben ... Im Gegenteil, wir könnten leben, du und ich, für immer. Elias hatte nur gelächelt, traurig, aber ohne in seinem Entschluss zu wanken.
Leben können wir jetzt auch.
Schweigen. Bleischweres Schweigen gefolgt von Tränen, seinen Versuchen sie erst zu trösten und dann seine Weigerung zu erklären: Ich habe Angst, Claire. Angst davor, hinterher nicht mehr ich zu sein. Angst, das zu verlieren, was mich ausmacht ... so seltsam es klingen mag, Angst davor, meine Menschlichkeit zu verlieren. Nein, kein Protest. Es ist nicht diese Sache mit dem Blut. Ich nehme an, man gewöhnt sich daran, Blut zu trinken und ich weiß, dass man die Menschen dabei nicht töten muss. Ich bin der lebende Beweis dafür. Aber du weißt auch, dass diese Lebensart, die du gewählt hast, nicht selbstverständlich ist. Du weißt, dass manche, nachdem sie verwandelt wurden, nichts mehr mit dem Menschen, der sie vorher waren, gemeinsam haben.
Außerdem ist nicht jeder wie du. Nicht jeder kann sich damit abfinden, immer auf der Hut zu sein, sich immer verstecken zu müssen, aus Angst entdeckt zu werden. Nicht jeder ... ich nicht.

Sie hatte es nicht verstanden oder zumindest nicht verstehen wollen. Irgendwann, nach vielen Jahren der vergeblichen Versuche, ihn zu überzeugen, ihn zu bitten, zu betteln, irgendwann hatte sie ihm in die Augen gesehen, seine wunderschönen grauen Augen, und hatte eine Ahnung davon bekommen, wie wichtig ihm seine Entscheidung war. Danach hatte sie das Thema kein einziges Mal mehr angesprochen und sich seinem Willen gefügt. Sie hatte die Folgen, die das für sie beide haben würde, verdrängt.
Genauso wenig hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, dass Elias wegen ihr die Art von Leben führen musste, die er verabscheute. Selten konnten sie länger als einige Jahre an einem Ort bleiben, denn regelmäßig flammte Misstrauen in ihrer Umgebung auf, und wieder mussten sie weiterziehen. Immer und immer wieder. Nie hatte er sich darüber beklagt oder war von ihrer Seite gewichen. Sie tötete keine Menschen, und niemand konnte sich hinterher daran erinnern, dass sie sein Blut getrunken hatte. Das war nicht das Problem. Aber Elias wurde wie alle um sie herum älter und älter und irgendwann fiel es schließlich immer auf, dass sie der Zeit trotzte, ihr Haar nie auch nur eine einzelne graue Strähne zeigte, ihr Gesicht ohne jegliche Falte blieb. Selbst ohne Lachfalten.

Schließlich öffnet sie ihre tränenverklebten Augen und blickt in ihren Schoß. Ihre Hand in seiner. Wie immer. Zum letzten Mal. Vorsichtig löst sie ihre Finger aus den seinen und gibt seine Hand frei.
„Du hättest ihn zwingen können, Claire.” Die dunkle Gestalt, die die ganze Zeit über still neben der geschlossenen Zimmertür gestanden hatte, geht langsam auf das einzige Fenster im Raum zu. Die Stimme klingt seltsam laut und hallt hohl von den kahlen Wänden des Zimmers wider.
„Nein”, antwortet Claire und ist froh, überhaupt einen Ton herauszubringen. Sie sieht ihn an, wie er am Fenster steht und ihr sein Halbprofil zuwendet. Er hat die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben und sein Blick scheint einen Punkt in weiter Ferne zu fixieren. Ein einzelner fahler Sonnenstrahl fällt auf sein Gesicht, doch die Schatten verhüllen mehr als dämmriges Licht erhellt. Die Nacht ist bald vorbei, aber das Zimmer liegt immer noch in tiefer Dunkelheit. Claire kann dennoch jedes Detail von Leanders Erscheinung ausmachen. Sogar, dass er sich für einen kurzen Moment auf die Lippen beißt.
„Doch. Du hättest ihn auch gegen seinen Willen in einen Vampir verwandeln können.” Leander wendet sich ganz dem Fenster zu. Claire starrt seinen Rücken an, bittet ihn innerlich, sich wieder zu ihr umzudrehen. Sie kann es nicht ertragen, nicht jetzt, nicht nach so langer Zeit. Nicht wenn Elias tot vor ihr liegt.
„Ich habe dich damals nicht gefragt. Ich habe dich einfach gezwungen, mein Blut zu trinken, nachdem ich mir deines genommen hatte.” Er schnaubt kurz und schüttelt dann Kopf. Claire fragt sich, ob er ihren Entschluss noch immer nicht verstehen kann oder ob er einfach resigniert ist.
„Obwohl ... Es hat ja nichts genutzt, oder? Du hast dich trotzdem gegen mich entscheiden und ...”
„Bitte, Leander, hör damit auf. Es ist schon so lange her ... lass die Vergangenheit ruhen!” Claires Hände verkrampfen sich. Am liebsten würde sie sich die Ohren zuhalten und ihn anbrüllen, doch endlich damit aufzuhören.
Kannst du mich denn nicht verstehen? Elias ist tot, verdammt! Er ist tot und ich würde am liebsten neben ihm liegen!
„Ausgerechnet du sagst, es sei lange her? Siebenundsechzig Jahre können verdammt lange sein, wenn man alleine ist. Aber viel zu kurz, um dich zu vergessen. Keine Angst, ich will dich zu nichts drängen. Ich bin gekommen, um dir zu helfen ... Ich stelle an dich keine Forderungen und erwarte keine Gegenleistung. Ich bin hier als dein Freund, als nichts weiter ... weil ...” Seine Stimme wird immer leiser und ist schließlich nichts weiter als ein kaum hörbares Flüstern: „Weil ich weiß, wie es ist, wenn derjenige, den man liebt, plötzlich nicht mehr da ist. Auch wenn der Verstand schon lange vorher weiß, dass der Zeitpunkt der Trennung kommen wird, das Herz weigert sich selbst dann noch, es zu begreifen, wenn man vor Einsamkeit nicht mehr ein- noch aus weiß.”
Claire fühlt sich so kraftlos, dass sie das Gefühl hat, jeden Augenblick von ihrem Stuhl zu fallen. Aber Leander ist verstummt, sieht aus dem Fenster und verschränkt die Arme. Erst jetzt hört Claire das sachte, stete Trommeln auf dem Dach. Sie hat gar nicht bemerkt, dass es zu regnen begonnen hat.
Leander räuspert sich.
„Du musst weg von hier, so schnell wie möglich. Am besten kommst du vorerst mit zu mir mit und ruhst dich aus.” Er dreht sich um. Sein Gesichtsausdruck ist so unergründlich wie der einer Sphinx. Sein Blick streift Claire nur kurz und wandert dann weiter zu Elias.
„Ich werde mich um den Rest ... um ihn kümmern. Nein, lass mich ausreden, Claire! Du kannst hier nicht alleine bleiben, zumindest nicht in deiner jetzigen Verfassung. Die Leute sind bereits misstrauisch und denken, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen kann, dass ein junges Mädchen alleine mit einem Greis abgeschieden in einem kleinen Haus mitten im Wald lebt. Bis jetzt bist du zumindest regelmäßig ins Dorf gegangen, um für Elias Lebensmittel einzukaufen und hast die Gelegenheit genutzt, um dich selbst zu versorgen. Nun werden sie versuchen, dich dazu zu überreden ins Dorf zu ziehen und dann musst du dich wieder verstellen, verstecken, die Leute belügen. Nein, es ist besser, wenn du von hier verschwindest.” Sie nickt nur benommen. Er hat Recht, und Elias hatte das gleiche gesagt:
Und dann geh. Geh fort von hier und fange noch einmal ganz von vorne an. Vergiss mich nicht, aber lebe – lebe die Ewigkeit für uns beide!
Sie nickt ein zweites Mal, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie sich jetzt von diesem Stuhl erheben, aus dem Zimmer gehen und ihn hier zurücklassen wird.
Leander geht langsam auf sie zu. Fast kommt es ihr so vor, als ob er nicht genau weiß, was er als nächsten tun soll. Aber das ist lächerlich, nicht Leander, der seinen Willen immer durchsetzt und immer alles im Griff hat. Fast alles, korrigiert eine kleine, widerspenstige Stimme sie in ihrem Inneren. An ihrem Sturkopf hatte selbst er sich die Zähne ausgebissen. Leander bleibt hinter ihrem Stuhl stehen und legt ihr seine Hände auf die Schultern. Claire fühlt sich wie Atlas, der die ganze Weltkugel stemmen muss.
„Du wusstest, dass es soweit kommen würde.” Claire ist sich nicht sicher, ob sie sich den unterschwelligen Vorwurf in seinem Tonfall nur einbildet. Wahrscheinlich.
„Aber du musst endlich aus deiner Traumwelt aufwachen. So sehr du dich auch bemühst, du bist kein Mensch, und es ist unmöglich für dich, mit ihnen zusammenzuleben. Elias war eine Ausnahme. Eine von wenigen. Stell dir vor, wie die nette Bäckerin, bei der du immer Brot gekauft hast, reagieren würde, wenn du ihr auf einmal sagen würdest, dass du eigentlich ein Vampir bist und sie um nichts weiter als ein bisschen ihres Blutes bittest? Wenn du Glück hast, hält sie dich einfach nur für verrückt. Und wenn sie dir glaubt ... Selbst wenn du ihr schwörst, dass du nur ein bisschen nehmen möchtest und sie sich hinterher nur wenig schwach auf den Beinen fühlen wird – sie hält dich dennoch für ein Monster, das sie umbringen will.. Und dein Wort, dein Versprechen ist für sie so viel Wert wie ein Sack voll Asche – wie soll sie deinem Schwur glauben, wenn sie davon überzeugt ist, dass es nichts auf der Welt gibt, was dir heilig ist?” Unwillig schüttelt sie seine Hände ab. Seine Nähe macht sie unruhig. Leander braucht ihr nicht erzählen, dass es unter den Menschen keinen Platz für sie gibt. Aber er kann einfach nicht verstehen, dass sie das auch gar nicht will. Was hatten sie die restlichen Menschen interessiert, solange sie Elias hatte? Was hatte es sie gekümmert, was die anderen Vampire taten, solange Elias bei ihr war? Wie kann Leander von ihr verlangen, loszulassen, wo ihr Mann doch noch tot vor ihr liegt? Er hat Recht, dass sie hier nicht bleiben kann. Aber sie wird nicht mit ihm gehen, zumindest jetzt noch nicht.
Sie war zwanzig gewesen, als Leander an einem Sonntag nach der Kirche vor ihr stand und ihr Unsterblichkeit an seiner Seite anbot. Trotz ihres vor Angst bis zum Zerbersten klopfenden Herzens hatte sie abgelehnt und seine Liebe zurückgewiesen.
Ich habe jemanden, den ich mehr liebe als eine Kreatur wie du es sich jemals vorstellen kann, hatte sie ihm an den Kopf geworfen, ihre zitternden Hände vor dem Oberkörper verschränkt. Zuerst hatte Leander versucht, sie zu überzeugen, indem er sie fragte, ob sie denn wirklich die Chance auf Unsterblichkeit ausschlagen wolle. Sie hatte nicht gezögert.
Lieber ein Menschenleben zusammen mit meinem Liebsten als eine Unendlichkeit voller Einsamkeit, Leander. Er hatte es auch damals nicht verstanden. Mit Gewalt hatte er ihr Blut genommen und ihr im Anschluss sein eigenes eingeflößt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn selbst danach noch ablehnen und ihren eigenen Willen durchsetzten könnte. Aber genau das hatte sie getan. Und genau das wird sie auch jetzt tun.
Elias ist tot. Sie braucht Zeit, um sich darüber klar zu werden, was sie von nun an machen will, und wenn es etwas gibt, das sie im Überfluss hat, ist es Zeit. In einer Woche, in einem Monat, in hundert Jahren, wird sie Leanders Angebot vielleicht annehmen und mit seiner Hilfe oder möglicherweise auch ganz allein versuchen, ihren Platz zu finden.
Claire zittert. Einen Augenblick hat sie das Gefühl, die Welt dreht sich um sie wie ein Kreisel. Nur Elias bleibt an Ort und Stelle, der einzige Fixpunkt in ihrem Leben. Aber er liegt leblos vor ihr. Noch einmal möchte sie ihn anfassen, seine Hand nehmen ...
„Claire, es wird Zeit!” Sie schrickt ein wenig zusammen, denn fast hatte sie Leanders Anwesenheit vergessen. Am liebsten würde sie einfach sitzen bleiben, sich keinen Zentimeter bewegen und sich einreden, dass alles wieder gut würde. Wenn Leander doch nur einfach gehen würde! Aber es ist schon zu spät, sie weiß, dass er Recht hat. Wenn sie sich jetzt nicht aufrafft, wird sie vielleicht die Kraft dazu verlieren. Außerdem wird ihr Durst immer stärker, immer schwieriger zu bändigen.
Wieder muss sie gehen. Immer auf der Flucht, von einem Ort zum anderen ohne jemals anzukommen. War das nicht einer der Gründe gewesen, warum Elias sich geweigert hatte, sich von ihr verwandeln zu lassen? Doch mit seiner Entscheidung bei ihr zu bleiben, hatte er dieses Leben in Kauf genommen. Immer weiter und weiter, nie lange verweilen, nie ankommen. So hat sie jetzt nicht einmal die Zeit zu trauern. Sie streichelt mit ihrem Blick Elias’ Körper, verweilt auf seinem Gesicht. Und jetzt kann sie nicht anders, obwohl die Tränen immer noch kommen und einfach nicht aufhören wollen, muss sie lächeln. Sein Gesicht ist entspannt und trotz der Runzeln und Furchen sieht sie den jungen Mann, den sie vor siebenundsechzig Jahren geheiratet hat. Vor einer Ewigkeit, vor einem Wimpernschlag ihres Lebens. Sie streicht ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, beugt sich zu ihm hinunter und gibt ihm einen letzten Kuss.

Als sie schließlich aus der Haustür tritt, steigt über dem Waldrand, der immer noch in nächtliches Grau getaucht ist, gerade die Sonne auf und funkelt am nebligen Himmel wie der Rubin in Claires Ehering. Sie erinnert sich daran, was er gesagt hatte, kurz bevor er gestorben war: Auf mich wartet jetzt die ewige Nacht, aber für dich wird es immer einen neuen Morgen geben.
Er hatte Recht.
Unaufhaltsam bricht der Tag an. Der erste Tag ohne Elias. Der erste von vielen.
 



 
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