Abschied

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JoteS

Foren-Redakteur
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Abschied

Wer ist der Herr, von dem Du sprachst?
Hab keinen Schimmer.
Dein Haus steht grau an seinem Platz,
Genau wie immer.
Wie Wachs liegst Du nun aufgebahrt,
So muss es enden.
Man sagt, es läge nun der Rest
In Gottes Händen.
Zu selten hab ich Dich besucht,
Nun geht es nimmer.
Genau wie sonst fehlst Du mir nicht,
Nur heute schlimmer.



Für meine ebenso warmherzige wie fromme Grossmutter, die leider immer viel zu weit weg wohnte und deren Glauben ich nie teilen konnte.
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Wittgenstein

Komma ist weg. Danke für den Hinweis und fürs Verstehen. ;)

LG

Jürgen
 

Kosmone

Mitglied
Hallo, Jürgen.

Das war kein so guter Vorschlag, denn ich verstehe das Gedicht ja so, wie
es sich zu verstehen gibt, denn bestimmt hättest Du es nicht veröffentlicht,
wenn Du nicht etwas zu sagen gehabt hättest.
Das allein ist ja schon prima, das Gedicht ist ja auch gut, nur klingt es für mich
etwas arrogant, wie auch Deine Vorschläge an mich.
Warum willst Du nicht darüber sprechen, wenn Du schon den deutlichen Hinweis
gibst, Religion ist nicht Dein Ding. Sie beschäftigt Dich ja doch, sei froh, daß Du
keiner von den Schein-Christen bist oder von den Schein-Moslems.
Ich sehe ja Deinen Drang nach Freiheit, nach Unabhängigkeit, doch wenn
sich alle abwenden und kalt die Schulter zeigen ist das keine gute Sache.
Nun gut, bestimmt ist dies alles ja gar nicht erlaubt bei den Herren und Damen
Dichtern von der LeseLupe.

Kosmone, weiss, dass er nichts weiss.
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Kosmone

Ich habe weder vor Gott, noch dem Teufel, noch der Religion Angst. Ich bin frei.

Ich frage mich noch immer, wie Du aufgrund des Textes auf die absurde Idee kommst, ich hätte meine Grossmutter nicht gemocht. Ich mochte sie so sehr, dass ich ihre Religiösität sogar irgendwie liebenswürdig fand und das will bei mir wirklich etwas heissen....

Gruss

J.
 
Die letzen beiden Zeilen sind "der Hammer":

[... Genau wie sonst fehlst Du mir nicht,
Nur heute schlimmer]

Die banale Art des auch vorhergehenden Reimens verstärkt diese Aussage noch.

Ich finds Spitze!
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Waldemar

Die letzten zwei Zeilen waren auch zuerst da. Ich habe auf der Beerdigung über den Verlust sinniert und da waren sie....

Danke für die Blumen - ich leg' sie mal virtuell ans Grab. ;)

LG

Jürgen
 
@ JoteS

[Genau wie sonst fehlst Du mir nicht,
Nur heute schlimmer.]

Hinter den beiden Zeilen steckt für mich eine ganze Erfahrungswelt - das macht auch die Türe auf zum "postmodernistischen" Welterleben - das darin ausgedrückte Schlüssel-Erleben ("Aha-Effekt") betrifft weit mehr als Beerdigungen - da steckt ne ganze Philosophie dahinter.

Ich versuchs mal etwas zu erklären:
"Genau wie sonst" = gemäß meiner subjektiven Alltagserfahrung kannst du machen, was du willst, selbst leiden oder sterben - "fehlst du mir nicht" = ich brauche dich nicht, fühle keine wirkliche Verbindung zu dir, du bist mir unnütz, schnuppe, egal,

und der ganze Satz bedeutet sogar: Ob du lebtest oder nun tot bist, ist für mich irrelevant, trotz der Tatsache, dass wir verwandt sind = dies ist die komplette Auflösung sozialer Verbindung selbst im Familienkreis, hier wird der "Tod" nicht nur der Großmutter, sondern des Prinzips "Familie" vorgeführt.

Und abstrahierter wird hier die psychosoziale Verbindung zwischen "ich" und "du" als null und nichtig demonstriert - etwas eigentlich Kafkaeskes, denn damit ist alle Kommunikationsmöglichkeit "down" - es leuchtet Dir, JoteS, wahrscheinlich ein, was man mit diesem Schlüssel-Konstrukt in unserer heutigen modernen hyper-individualistischen Welterlebens-Befindlichkeit noch so alles, auch literarisch, anfangen könnte.

"Nur heute schlimmer" = schön ambivalent, denn es bezieht sich formal rein satzlogisch auf den Vorsatz, in dem die Sprache aber keine dem "schlimm - schlimmer" gemäße Steigerungsform in der Weise von "sonst - sonster" und "nicht - nichter" hergibt, sodass die Geschichte hier ins Leere = "in die Leere" (die auch zwischen "ich" und der Toten herrschte, als die noch lebte) läuft.

Was bleibt um dem Satz Sinn zu hinterlegen, denn der Satz "Nur heute schlimmer" behauptet hier durch sein pures Hingeschriebensein sinnvoll zu sein, also Kontext zu besitzen, ist die gedankliche Umbiegung aufs protagonistische "Ich"- und dem bleibt dann ein amorphes unbewusstes Gefühl "eigentlich müsste sich dieser Tod/ Tod allgemein/ für mich jetzt schlimm anfühlen", "eigentlich sollte ich jetzt trauern können/ müssen". "eigentlich = gemäß Konvention müsste ich jetzt auf meiner Gefühlsklaviatur den Ton "schlimm" fühlen/ hören - ist aber nicht" ...

Und das betreffende "Ich" verkleidet sich sogar noch, indem es, sozial angepasst, über "schlimm" Richtung "schlimmer" nachsinnt, das heißt, es läuft in ihm rational, rationalisiernd ab, was eigentlich als "empfundene Trauer" emotional-automatisch und unabweisbar vorhanden sein sollte.
Das Wort "schlimm" drückt diese Unfähigkeit zu empathischer Emotion (zwischen "ich" und "du") schon selbst aus, denn "Großmuttersterben" sollte in konventioneller Lesart eigentlich nicht "schlimm" sein, sondern "worst case" = allerschlimmst.
Dazu passend wird vom "Ich" das heraus-rationalisierte "schlimmer" im Text auch nicht weiter Kontext-hinterlegt, sondern bleibt als verbale "Luftnummer" isoliert.

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Weiter oben im Text sehe ich die Andeutung eines leichten Bruches in Bezug zur intendierten Aussage "Großmutter war mir so fremd und entfernt wie irgendwas",
und zwar, wo aufgeführt ist, dass die tote Großmutter nun einer Wachsfigur gleiche, denn eigentlich dürfte dies dem "Ich" des Textes gar nicht als Diskrepanz zu einem "Früher" auffallen, weil es "Großmutter" längst in seiner hypostasierenden Erinnerung als "Wachsfigur" abgelegt haben sollte.
Eine schärfere Aussage wäre an dieser Textstelle etwas im Sinn von: "Ja, ich erkenne dich auf dem Totenbett wieder, als dieselbe (für mich sozial-tote, weit-entfernte, "graue" = "graues Haus" wird ja im Text erwähnt, "graue Vorzeit", diffus-ferne Erinnerung) Wachsfigur wie ich sie erinnere".

Verstehst?
Man kann mit diesem Bild spielen.
Säugetiere sind alle körperlich in eine äußere Schicht von Stearinsäure-Drivaten eingepackt, und Stearinsäure, das ist tatsächlich Kerzenwachs. Sobald diese äußere Schicht im Tod nicht mehr durchblutet ist, wird "Säugetier" tatsächlich vorübergehend zur "Wachsfigur" (der wächserne Anblick von frischen Toten transportiert also tatsächlich wächserne Realität).

Ich finde Deinen Text äußerst gelungen, gerade auch, weil er sprachlich, in der Formulierung, vordergründig so völlig anspruchslos daherkommt, aber inhaltlich "Dynamit" transportiert.

Der immer wieder völlig zu Unrecht vorausgesetzte Zusammenhang zwischen Religiösität und Empathie wird in
Deinem Text - quasi nebenbei- abgeblockt, Dein Text erweist -richtig- Empathie als etwas Religionen-Unabhängiges, das "Ich" im Text referiert über seinen empathischen Status in sauber nicht-religiöser Weise = sehr klare Darstellung.
---

Eine andere ebenfalls bedeutende Sache, der Text beruht ja lt. Auskunft auf wahrer Begebenheit, ist die Unfähigkeit eines "Ich" zur Trauer, die Unfähigkeit zu Empathie. Diese Behinderung, es ist tatsächlich eine von Krankheitswert, wenn sie generalisiert vorhanden ist, hat meist sehr fatale Folgen für ein "Ich".
Auch dies ein großes und modernes literarisches Thema (besonders auch im Hinblick auf den üblichen medialen Umgang mit Empathie).
 
Nachtrag

[Für meine ebenso warmherzige wie fromme Grossmutter, die leider immer viel zu weit weg wohnte und deren Glauben ich nie teilen konnte.]

Selbst dieser scheinbare Nachsatz gehört noch zum Text - jedenfalls kann man es so lesen - denn er überhöht -das Objekt der Wahrnehmung per Erinnern- "Großmutter" in Verbindung zum vorhergehenden Text zum Phantasiegebilde einer Kunstfigur, die nur aus den Eigenschaften besteht:

G = { warmherzig + fromm + => weit weg}

G = {[empathisch + religiös] => alles weit weg vom textlichen "Ich"}

Das "Ich" konnte die Frömmigkeit nie teilen ( = stattgefundene Kommunikation ohne Einigung) - und das "Ich" konnte die Empathie nicht teilen = nicht erwidern (gescheiterter emotionaler Komm.Versuch) - was bleibt, ist eine (virtuelle) Kunstfigur "Großmutter" in quasi unendlicher = unerreichbarer Entfernung vom "Ich", und dieses Entferntsein ist nicht räumlich, sondern psychisch zu denken.

=======

PS:
Man merkt "kosmone" halt an, dass ihr/ ihm die Omas fehlen, wobei in Frage bleiben muss, ob zwei Omas ausreichen würden, die hier aufscheinenden Defizite auszugleichen ... hihihi
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Waldemar

Die Empathie war durchaus beidseitig. Die grosse Fragen lauten wohl eher: Worin besteht sie? Wie ist sie möglich?
Wie kann meine Oma mir fehlen, wo Sie doch nur eine "Randfigur" in meinem Leben war? Da stehst Du vor der aufgebahrten Oma, die mit der Leichenschminke aussieht wie aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett ensprungen und Du fühlst einen Verlust. Sorry, denkst du dir, aber Du hast die Oma nur zwei mal im Jahr gesehen, hattest eigentlich nichts mit ihr zu reden und trotzdem..... So nah und doch so fremd... wie die Wachsfigur, die da liegt und in Wirklichkeit Deine Oma ist....die Oma, die Dich zumindest immer in einer Art und Weise angesehen hat, wie es nur eine Oma kann und die Du allein dafür, trotz aller Distanz, irgenwie (?!) geliebt hast.

Deine Betrachtungen sind durchaus intelligent und weitestgehend zutreffend. Nur in eben diesem einen Punkt irrst Du wobei ich gerne zugebe, dass man den Text so interpretieren kann.

LG

Jürgen
 

Kosmone

Mitglied
Oh, Jürgen,

herzlichen Glückwunsch zu Deiner geliebten Freiheit.
Du brauchst keine Oma, keine Familie nervt Dich, Du bist frei von
partnerschaftlichen Zwängen, frei von Arbeit-"gebern", frei
ohne Auto und ohne Zigaretten, Du mußt morgens nicht
aus den Federn, Du brauchst keine Zeitung, kein TV,
keine Kneipe,denn Du bist frei, frei bis zum nächsten Klogang jedenfalls
und das will etwas heissen.

Wenn Du wirklich frei bist, dann hast Du Deine Oma bestimmt auf
die schattige Stirn geküsst und ihre kühle, schweigende Hand
berührt und ihr das Beste auf Ihrer neuen, langen Reise gewünscht.

Was bedeutet eigentlich die Verweigerung einer Anrede ?

Antipathie oder fehlende Empathie oder fehlt es hier an
kommunikativer Bereitschaft oder sind die Fingerchen
lahm, vom vielen Schreiben ?

Mann, oh Mann der Waldemar hat es wirklich drauf, da wird mir
beim Lesen das Hirn fusselig und so gescheit ist der, Jürgens
Gedicht ist da doch einfacher zu verstehen. Herr Hammel erinnert mich
an viele Wissenschaftler, die von immer weniger immer mehr wissen,
bis sie von gar nichts alles.....


Kosmone zieht den Hut mit blauer Feder
und wünscht Jürgen lange Tage und ruhige Nächte.
 

NewDawnK

Mitglied
@ Kosmone
Kosmone, weiss, dass er nichts weiss.
Diese Einsicht finde ich gut, falls sie nicht ironisch gemeint ist...

Auch ich kann hier auch nur von meiner Art, mir die Welt zusammenzureimen, ausgehen:
Ich denke, wer Gefühle beschreiben will, muss sich darüber im Klaren sein, dass er immer nur eine Momentaufnahme beschreiben kann - und die ist abhängig vom Kontext, in dem man sich gerade befindet und auch abhängig von der Perspektive, für die man sich entschieden hat.

Für mich liegen gerade zwischen der Auseinandersetzung mit einer mir bekannten Leiche und der Trauer über das Nicht-mehr-vorhanden-sein dieser Person Welten.
„Fremde“ Leichen schockieren oft sehr, es sei denn, man hat sich z.B. von Berufswegen an ihren Anblick gewöhnt. Bei „bekannten“ Leichen kann dieses Fühlen merkwürdig anders sein. Kommt möglicherweise darauf an, wie nahe man den (eigenen) Tod, den man im Hinterkopf immer mit sich herumträgt, im Akutfall an sich heranlassen kann/will.
Trauern dagegen ist (für mich) ein Prozess, in dessen Verlauf im Optimalfall die verschiedensten Perspektiven durchlebt werden und bei dem deshalb im Laufe der Zeit auch noch allerhand Gefühle an die Oberfläche kommen können, die anfangs scheinbar nicht vorhanden waren.

Gefühle zu benennen kann schließlich auch bedeuten, eigene Verletzbarkeiten wie in einem Bauchladen offen zur Schau zu stellen. So was ist nicht jedermanns Sache. Möglicherweise schlagen gerade deshalb manche Einzelmenschen und oder auch ganze Familien hier völlig andere Wege der Verständigung ein.
Es bedeutet jedenfalls nicht, dass keine Gefühle hat, wer sie nicht in gesellschaftlich anerkannter Form zum Ausdruck bringt.
Es gibt, gerade das kenne ich von mir selbst, spezielle Fomen von (Galgen)humor, hinter denen von leiser Ironie bis zur abgrundtiefen Melancholie als Mögliche stecken kann.

Falls also das LyrI eine ähnliche Sichtweise bzw. einen ähnlichen Humor hat wie die LyrI-Oma zu ihren Lebzeiten, dann passt (für mich) alles wunderbar zusammen, dann könnte das Geschriebene sogar eine Liebeserklärung der ganz besonderen Art sein, auch wenn sich der Text in der Analyse von außen merkwürdig abgeklärt und gefühllos liest.

Aber das ist, wie gesagt, nur (m)eine Sicht der Dinge. Wie sich das bei JoteS verhält, weiß ich natürlich nicht.

Schöne Grüße, NDK
 

Dorothea

Mitglied
Hallo JoteS,

nun reihe ich mich auch noch in die lange Schlange ein. Ich finde den Text extrem gut. Er hat eine große Wirksamkeit, wie die lange Liste der "Rezensionen" :) zeigt. Es verbietet m.E.sich eigentlich, aus der Analyse eines Textes eine öffentliche "Analyse" des Verfassers zu gestalten.

Ich beschränke mich darauf zu beschreiben, wie der Text auf mich gewirkt hat:

authentisch, Pathos und Kitsch vermeidend, in lyrisch schöner, aber nicht euphemistischer Sprache, unterkühlt, um den Fallen der Trauerhymnen zu entgehen, und doch liebevoll, wenn man zu lesen versteht. Den angeklagten Gott muss ich nicht verteidigen, gerade weil ich an ihn glaube!
 
I

inken

Gast
Lieber JoteS,

obwohl mir, wie du dir sicher denken kannst, der Inhalt nicht zusagt, finde ich das Gedicht sehr gelungen. Sehr ehrlich. Deine Haltung kommt an, weil sie keine anderen Haltungen in Frage stellt. Das finde ich gut.

Viele Grüsse Inken
 

Scal

Mitglied
Ein Gedanke meinerseits, den ich spontan mitteilen will, weil mich dein Gedicht beeindruckt:

so muss es enden
ich blick auf's Enden

man sagt, es läge nun der Rest
man sagt, es läge noch ein Rest

Bezogen auf die erste Version.

Lieben Gruß
Scal
 



 
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