@ JoteS
[Genau wie sonst fehlst Du mir nicht,
Nur heute schlimmer.]
Hinter den beiden Zeilen steckt für mich eine ganze Erfahrungswelt - das macht auch die Türe auf zum "postmodernistischen" Welterleben - das darin ausgedrückte Schlüssel-Erleben ("Aha-Effekt") betrifft weit mehr als Beerdigungen - da steckt ne ganze Philosophie dahinter.
Ich versuchs mal etwas zu erklären:
"Genau wie sonst" = gemäß meiner subjektiven Alltagserfahrung kannst du machen, was du willst, selbst leiden oder sterben - "fehlst du mir nicht" = ich brauche dich nicht, fühle keine wirkliche Verbindung zu dir, du bist mir unnütz, schnuppe, egal,
und der ganze Satz bedeutet sogar: Ob du lebtest oder nun tot bist, ist für mich irrelevant, trotz der Tatsache, dass wir verwandt sind = dies ist die komplette Auflösung sozialer Verbindung selbst im Familienkreis, hier wird der "Tod" nicht nur der Großmutter, sondern des Prinzips "Familie" vorgeführt.
Und abstrahierter wird hier die psychosoziale Verbindung zwischen "ich" und "du" als null und nichtig demonstriert - etwas eigentlich Kafkaeskes, denn damit ist alle Kommunikationsmöglichkeit "down" - es leuchtet Dir, JoteS, wahrscheinlich ein, was man mit diesem Schlüssel-Konstrukt in unserer heutigen modernen hyper-individualistischen Welterlebens-Befindlichkeit noch so alles, auch literarisch, anfangen könnte.
"Nur heute schlimmer" = schön ambivalent, denn es bezieht sich formal rein satzlogisch auf den Vorsatz, in dem die Sprache aber keine dem "schlimm - schlimmer" gemäße Steigerungsform in der Weise von "sonst - sonster" und "nicht - nichter" hergibt, sodass die Geschichte hier ins Leere = "in die Leere" (die auch zwischen "ich" und der Toten herrschte, als die noch lebte) läuft.
Was bleibt um dem Satz Sinn zu hinterlegen, denn der Satz "Nur heute schlimmer" behauptet hier durch sein pures Hingeschriebensein sinnvoll zu sein, also Kontext zu besitzen, ist die gedankliche Umbiegung aufs protagonistische "Ich"- und dem bleibt dann ein amorphes unbewusstes Gefühl "eigentlich müsste sich dieser Tod/ Tod allgemein/ für mich jetzt schlimm anfühlen", "eigentlich sollte ich jetzt trauern können/ müssen". "eigentlich = gemäß Konvention müsste ich jetzt auf meiner Gefühlsklaviatur den Ton "schlimm" fühlen/ hören - ist aber nicht" ...
Und das betreffende "Ich" verkleidet sich sogar noch, indem es, sozial angepasst, über "schlimm" Richtung "schlimmer" nachsinnt, das heißt, es läuft in ihm rational, rationalisiernd ab, was eigentlich als "empfundene Trauer" emotional-automatisch und unabweisbar vorhanden sein sollte.
Das Wort "schlimm" drückt diese Unfähigkeit zu empathischer Emotion (zwischen "ich" und "du") schon selbst aus, denn "Großmuttersterben" sollte in konventioneller Lesart eigentlich nicht "schlimm" sein, sondern "worst case" = allerschlimmst.
Dazu passend wird vom "Ich" das heraus-rationalisierte "schlimmer" im Text auch nicht weiter Kontext-hinterlegt, sondern bleibt als verbale "Luftnummer" isoliert.
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Weiter oben im Text sehe ich die Andeutung eines leichten Bruches in Bezug zur intendierten Aussage "Großmutter war mir so fremd und entfernt wie irgendwas",
und zwar, wo aufgeführt ist, dass die tote Großmutter nun einer Wachsfigur gleiche, denn eigentlich dürfte dies dem "Ich" des Textes gar nicht als Diskrepanz zu einem "Früher" auffallen, weil es "Großmutter" längst in seiner hypostasierenden Erinnerung als "Wachsfigur" abgelegt haben sollte.
Eine schärfere Aussage wäre an dieser Textstelle etwas im Sinn von: "Ja, ich erkenne dich auf dem Totenbett wieder, als dieselbe (für mich sozial-tote, weit-entfernte, "graue" = "graues Haus" wird ja im Text erwähnt, "graue Vorzeit", diffus-ferne Erinnerung) Wachsfigur wie ich sie erinnere".
Verstehst?
Man kann mit diesem Bild spielen.
Säugetiere sind alle körperlich in eine äußere Schicht von Stearinsäure-Drivaten eingepackt, und Stearinsäure, das ist tatsächlich Kerzenwachs. Sobald diese äußere Schicht im Tod nicht mehr durchblutet ist, wird "Säugetier" tatsächlich vorübergehend zur "Wachsfigur" (der wächserne Anblick von frischen Toten transportiert also tatsächlich wächserne Realität).
Ich finde Deinen Text äußerst gelungen, gerade auch, weil er sprachlich, in der Formulierung, vordergründig so völlig anspruchslos daherkommt, aber inhaltlich "Dynamit" transportiert.
Der immer wieder völlig zu Unrecht vorausgesetzte Zusammenhang zwischen Religiösität und Empathie wird in
Deinem Text - quasi nebenbei- abgeblockt, Dein Text erweist -richtig- Empathie als etwas Religionen-Unabhängiges, das "Ich" im Text referiert über seinen empathischen Status in sauber nicht-religiöser Weise = sehr klare Darstellung.
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Eine andere ebenfalls bedeutende Sache, der Text beruht ja lt. Auskunft auf wahrer Begebenheit, ist die Unfähigkeit eines "Ich" zur Trauer, die Unfähigkeit zu Empathie. Diese Behinderung, es ist tatsächlich eine von Krankheitswert, wenn sie generalisiert vorhanden ist, hat meist sehr fatale Folgen für ein "Ich".
Auch dies ein großes und modernes literarisches Thema (besonders auch im Hinblick auf den üblichen medialen Umgang mit Empathie).