Abschied vom Ideal

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anbas

Mitglied
Abschied vom Ideal

Der Zug hat fünf Minuten Verspätung
Raucher quarzen vor Nichtraucherschildern
Ein Besoffener grölt nachts unten auf der Straße
Im Restaurant quengelt ununterbrochen ein Kleinkind
Ein Tourist führt sich auf, als wäre er Gott in Frankreich
Ein Radfahrer benutzt den Radweg auf der falschen Straßenseite
Es ist nach zwanzig Uhr und mein Nachbar bohrt Löcher in die Wand
Eine Rentnerin hält mit ihrem Smalltalk den ganzen Betrieb an der Kasse auf
In der Bahn legen zwei Mädels ihre beschuhten Füße auf die gegenüberliegenden Sitze
Ein Bekannter korrigiert mich, weil ich "Indianer" und nicht "indigene Völker" gesagt habe
Und wieder hat jemand im WC eine "Bremsspur" hinterlassen

Im Café quasselt jemand die ganze Zeit am Handy
Eine Frau wirft Bonbonpapier achtlos in die Grünanlage
Zwei Kinder toben an der Haltestange in der U-Bahn herum
Die Musik aus dem Haus gegenüber zerreißt die Sonntagsruhe
Der Typ am Nebentisch benutzt Fremdwörter im falschen Kontext
Im Quiz weiß der junge Mann nicht, warum Weihnachten gefeiert wird
Ein Obdachloser muss in Haft, weil er zu oft ohne Fahrschein gefahren ist
Obwohl ich einen Termin habe, muss ich beim Arzt über eine Stunde warten
Eine Kollegin raunzt mich an, weil ich in der letzten Mail nicht gegendert habe
Eine Freundin echauffiert sich ausgiebig darüber, dass jemand weiße Socken trägt
Und wieder bettelt jemand in der U-Bahn

Ein Polizist duzt den türkischen Mann
Die Familie im Erdgeschoss trennt ihren Müll nicht
Niemand bietet dem alten Mann im Bus einen Platz an
Das Dschungel Camp beherrscht die Schlagzeilen in den Medien
Samstag, 8:00 Uhr morgens: Die Zeugen Jehovas klingeln an der Tür
Meine Lieblingsfarben sind out – ich finde keine Klamotten, die mir gefallen
Schon wieder hat sich jemand bei mir nicht für das Aufhalten der Tür bedankt
Der Akku meines Rasierers gibt 3 Monate nach Ablauf der Garantie seinen Geist auf
Dienstag, 17:05 Uhr: Irgendein Institut will meine Meinung zu irgendeinem Thema erfragen
Dienstag, 17:45 Uhr: Jemand klingelt und will mir einen anderen Stromanbieter aufschwatzen
Und schon wieder überall Hundehaufen im Park

Ich rege mich auf
immer mehr
fast ununterbrochen –
vor allem über mich selber

Wollte doch stets
tolerant und gelassen sein
nie so ein engstirniger Spießer

Doch die Realität holt mich ein
und es wird immer schlimmer
Jahr für Jahr

Autofahrer parken den Radweg zu
Ein Fußgänger läuft bei Rot über die Straße
Der Geldautomat gibt nur große Scheine raus
Eine gute Freundin ist Fan der Sendung "Frauentausch"
Das Haltbarkeitsdatum des Joghurts im Kühlregal ist abgelaufen
Der neue Imbiss an der Ecke hat ein Idioten-Apostroph im Namen
Ein vegan lebender Freund versucht, mir das Fleischessen auszureden
Im Literaturforum antwortet einer nie auf die Kommentare zu seinen Werken
Ein Typ aus der Nachbarschaft schreibt alle Falschparker in unserem Viertel auf
Ein Rentner mit Rollator latscht mitten auf dem Gehweg, so dass ich nicht vorbei komme
Und wieder strotzt eine TV-Reportage vor Anglizismen


(Can be continued)​
 

anbas

Mitglied
Moin Dirk,

und ich habe bewusst u.a. die Bereiche "Politik" und "Sport" außen vor gelassen...

Ja, mich hat es auch erschrocken, wie lang dieses Gedicht geworden ist.



Hallo James,

Es ist erschreckend, wenn einen derartiges ärgert
auch darum geht es in diesem Gedicht - aber ist es nicht auch menschlich, dass solche Dinge einen ärgern können (nicht in der geballten Ladung, aber das eine oder andere)?


Vielen Dank für Eure Rückmeldungen.

Dank auch an die Sterneverteiler.


Liebe Grüße in die Runde

Andreas
 
Hallo anbas,

ich glaube manchmal, dass es am Alter liegt, wenn man sich so viel ärgert. Ich ärgere mich auch viel über solche Kleinigkeiten, manchmal, wenn sich Leute im Bus vor oder hinter mich setzen und zu quasseln anfangen z. B., über für mich völlig Uninteressantes, und ich muss gezwungenermaßen zuhören. In meinen jungen Jahren hat mich so etwas überhaupt nicht gestört.
Gefällt mir, dein experimenteller Text.

LG SilberneDelfine
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Anbas,

vielleicht ist es nur eine Übergangsphase? Vielleich hat man irgendwann verstanden, dass dieses Ärgern nur Lebenszeit frisst, denn eigentlich heult man den Mond an. Es gibt ja keine Lösung, zumindest habe ich in den 90ern zuletzt erlebt, dass Jugendliche die Füße vom Sitzplatz genommen haben, wenn eine meist ältere Person gemotzt hat. Würde ich heute nicht mehr empfehlen.
Eigentlich geht es doch darum, dass man sein Wohlgefühl nicht von Dingen abhängig macht, die man nicht beeinflussen kann. Man sollte diesen Ärger möglichst nicht mehr füttern :)

Liebe Grüße
Petra
 

James Blond

Mitglied
Alterserscheinung: Wenn die kleinen Freuden des Lebens nach und nach wegfallen, dann bleiben die Ärgernisse zurück und machen sich breit. Wie wäre es mit einer Gegenaufstellung der Erfreulichkeiten? Da gibt es noch vieles, was unbeachtet bleibt.

Grüße
JB
 

anbas

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

ja, ich denke auch, dass es etwas mit dem Alter zu tun hat. Doch bin mir aber auch sicher, dass noch weitere Faktoren dazu kommen, die einen dünnhäutiger und anfälliger machen fürs Genervtsein, Empörtsein usw., wie z.B.: Stress, all die negativen Nachrichten aus aller Welt (Kriege, Umweltverschmutzung, Corona und so vieles mehr), vielleicht auch eine gewisse Veranlagung (ich kenne alte und ältere Menschen, die weiterhin die Gelassenheit in Person sind, und junge Leute, die sich bereits jetzt über alles und jeden aufregen).

Ich glaube, mich haben früher auch schon viele Dinge aufgeregt, doch ich konnte es besser wegstecken oder drüber hinweggehen :rolleyes:.



Liebe Petrasmiles,

Eigentlich geht es doch darum, dass man sein Wohlgefühl nicht von Dingen abhängig macht, die man nicht beeinflussen kann. Man sollte diesen Ärger möglichst nicht mehr füttern
Ja, das ist das Ideal - aber dann kommt immer wieder dieser Aufreger dazwischen, über den ich mich dann auch noch aufrege ;).


Moin James,

Wie wäre es mit einer Gegenaufstellung der Erfreulichkeiten?
Gerne, aber das wäre dann ein anderes Thema und ein anderes Gedicht. Hier geht es ja auch darum, dass sich das Lyrich (das mir hier - wenn auch nicht so extrem - recht nahe steht ;)) eigentlich ja nicht aufregen will, aber aus dieser Spirale nicht so richtig rauskommt.



Habt Dank für Eure Rückmeldungen, ich freue mich, dass dieses Gedicht zu diesem kleinen Austausch geführt hat.

Vielen Dank auch für die dazugekommen Sterne.


Liebe Grüße

Andreas
 

anbas

Mitglied
Moin Samoth,

ja, man muss aufpassen...

Danke für Deine Rückmeldung und die Besternung.

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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