Abschied von meinem Vater

Gabriele

Mitglied
Kaum hatte ich im März 2002 meine „erfolgreiche“ Scheidung im wahrsten Sinne des Wortes „gefeiert“, begann es meinem im Pflegeheim lebenden Vater immer schlechter zu gehen. Das Sprechen hatte er schon seit längerer Zeit aufgegeben, da er sich aufgrund seiner wiederholten Schlaganfälle nicht mehr verständlich ausdrücken hatte können. So war es immer schwieriger geworden zu beurteilen, wie gut oder schlecht es ihm tatsächlich ging. Gelächelt hatte Vater nur mehr sehr selten, aber wenn ich und vor allem meine kleine Tochter bei ihm zu Besuch waren, war sein Gesichtsausdruck meistens sehr ruhig und entspannt gewesen.
Am 23. Mai 2002 erhielt ich mitten in der Nacht einen Anruf vom Pflegeheim mit der Mitteilung, man hätte Vater ins Krankenhaus einweisen lassen müssen. Ich rief sofort in der Klinik an; über den Grund für seine Einlieferung erhielt ich keine Auskunft, es wurde mir aber gesagt, dass keine unmittelbare Lebensgefahr bestünde. So fuhr ich erst am nächsten Morgen, dem 24. Mai 2002, einem Freitag, an dem ich zum Glück nicht arbeiten gehen musste, zu Vater ins Krankenhaus. Viel mehr als am Telefon konnte ich von den Ärzten und Schwestern jetzt auch nicht erfahren; es war offenbar nicht eindeutig feststellbar, warum es meinem Vater so schlecht ging.
Als ich zu ihm ins Zimmer trat, lag er – mit Sauerstoff versorgt – leise wimmernd regungslos im Bett. Ich saß eine Zeitlang bei ihm, hielt seine Hand und sagte ihm beruhigende und liebevolle Worte. Das Gefühl, es könnte unsere letzte Begegnung sein, hatte ich nicht; ich dachte auch nicht ernstlich darüber nach, denn es beschäftigten mich noch andere Dinge: Ich musste noch am selben Vormittag zu einem Termin in der Elternsprechstunde der Klassenlehrerin meiner Tochter. Außerdem waren meine Schwester und mein Schwager inzwischen schon von Deutschland aus mit dem Auto zu uns unterwegs, denn in zwei Tagen sollte die Erstkommunion meiner Tochter gefeiert werden.
Vater würde laut Mitteilung einer Krankenschwester in ein paar Minuten zu irgendeiner Untersuchung gebracht werden. Also verabschiedete ich mich mit einem Kuss von ihm, versprach ihm, bald wiederzukommen, und verließ das Krankenhaus, um nicht zu spät zu meinem Termin in der Schule zu kommen.
Das Gespräch mit der Klassenlehrerin meiner Tochter war erfreulich und interessant. Danach holte ich mein Kind und seine Schulfreundin, die in unserer Nähe wohnte, vor dem Klassenzimmer ab und fuhr mit ihnen zu uns nach Hause. Wir wollten zu dritt bei uns zu Mittag essen, und danach wollte ich die beiden Mädchen mit der Straßenbahn zu einer Geburtstagsparty bei einer weiteren Mitschülerin bringen.
Daheim bereitete ich ein schnelles Mittagessen zu – da klingelte unser Telefon – ein Anruf vom Krankenhaus: Mein Vater sei verstorben!
Ich konnte es kaum glauben – es kam trotz seines schlechten Zustandes so plötzlich und unerwartet für mich… Ich konnte gar nicht gleich weinen, befand mich in einer Art Schreckstarre, einem seltsamen Ausnahmezustand, den ich den beiden Mädchen natürlich erklären musste. So sagte ich ihnen kurzerhand die Wahrheit, welche sie dann gleich auf ihre Weise verarbeiteten, indem sie „Sterben spielten“ – skurril und makaber, aber das war nun mal das, was sie zu jenem Zeitpunkt brauchten…
Was brauchte ich? Daran wurde kein Gedanke verschwendet. Ich musste meine Schwester anrufen – zum Glück hatte sie damals schon ein Handy, welches sie lange Zeit verweigert hatte – und dann die beiden Mädchen bei der Party abliefern. Von dort war es nicht weit bis zum Krankenhaus; so fuhr ich gleich anschließend dorthin, um Abschied von meinem Vater zu nehmen.
Er lag noch immer – bzw. wieder – in demselben Zimmer, in dem ich ihn am Vormittag besucht hatte. Nun stand eine Kerze auf seinem Nachtkästchen, und Vater lag fahl, stumm und kalt auf seinem Bett. Jetzt konnte ich endlich weinen…
Gegen Abend kamen meine Schwester und ihr Mann in Graz an. Meine Tochter war nicht zu Hause; sie war nach der Kindergeburtstagsfeier von der Mutter ihrer Schulfreundin mit abgeholt worden und durfte nun bei dieser übernachten. Das war sogar schon ein paar Tage zuvor vereinbart worden, denn meine Schwester, mein Schwager und ich hatten ursprünglich genau an diesem Abend noch zu einem Clubbing gehen wollen. Die Eintrittskarten dafür hatte ich sogar schon besorgt, und so fuhren wir am Abend sogar noch schnell zu dritt mit dem Auto zum Club, um die Tickets vor dem Eingang zu verkaufen. Dann kauften wir uns bei einer Tankstelle ein paar Flaschen Bier, setzten uns damit in mein Wohnzimmer und sprachen die halbe Nacht lang über Vater.
Natürlich war die Erstkommunion zwei Tage danach dann trotzdem ein schönes, fröhliches Fest. Ein paar Tage später fand Vaters Beerdigung statt; immerhin war es „günstig“, dass meine Schwester und mein Schwager dafür nicht mehr extra anreisen, sondern lediglich geeignete schwarze Kleidung kaufen mussten. Wieder einmal waren mir die beiden eine große Unterstützung – beim Organisieren der mit Vaters Tod zusammenhängenden Dinge und beim Gestalten der beiden Feiern.
Obwohl auch dieser Schock erst mal wieder langsam verarbeitet werden musste, gewann ich gleichzeitig auch ein weiteres Stück Entlastung und Freiheit. Meine häufigen Besuche bei Vater im Pflegeheim waren zwar jedesmal irgendwie schön, aber doch auch ziemlich belastend und traurig gewesen.
 

Gabriele

Mitglied
Anmerkung:

Dies ist ein - etwas abgeänderter - Auszug aus meinen "Memoiren", die ich im Zuge der im heurigen Winter bei mir diagnostizierten Erkrankung (mehr dazu in meinem Text "Skarabäus") innerhalb von drei Wochen in einem Krankenhaus aufgeschrieben habe.
 

wüstenrose

Mitglied
Hi Gabriele,
zunächst 2 Kleinigkeiten:
Am 23. Mai 2002 erhielt ich mitten in der Nacht einen Anruf vom Pflegeheim mit der Mitteilung, man [red]habe[/red] Vater ins Krankenhaus einweisen lassen müssen.
Das war [blue]sogar[/blue] schon ein paar Tage zuvor vereinbart worden, denn meine Schwester, mein Schwager und ich hatten ursprünglich genau an diesem Abend noch zu einem Clubbing gehen wollen. Die Eintrittskarten dafür hatte ich [strike]sogar[/strike] schon besorgt, und so fuhren wir am Abend [strike]sogar[/strike] noch schnell zu dritt mit dem Auto zum Club, um die Tickets vor dem Eingang zu verkaufen.
Dein Text - so wie ich ihn lese - ist getragen von einem gewissen "An-sich-halten": die fürsorgliche Mutter, die kalkulierende Verwalterin der Finanzen, die pragmatische Tochter (Schock versus Entlastung). Das sage ich völlig wertfrei bzw. finde ich es gut, dass es rüberkommt, da ich von einem Tagebuch-Text Authentizität erwarte. Das Authentische an deinem Text gefällt mir.
Ich empfinde in deinem Text aber auch so eine Art "Leerstelle", die du nach meinem Geschmack noch füllen könntest:
Dann kauften wir uns bei einer Tankstelle ein paar Flaschen Bier, setzten uns damit in mein Wohnzimmer und sprachen die halbe Nacht lang über Vater.
An dieser Stelle vernehmen wir, dass die Verfasserin der Zeilen auch anders sein kann: Alkohol, endloses Quatschen, geschwisterliche Vertrautheit...
Was ist da passiert? Was wurde geredet? Wer ist da gestorben? War die Beziehung zum Vater vielleicht ähnlich ambivalent wie die Einordnung seines Todes (Schock und Entlastung). Was haben sich die Schwestern zu sagen?
Auskunft hierüber möchte ich natürlich nicht einfordern, aber vielleicht reizt dich selbst der Gedanke, dass hier eine "Leerstelle" noch gefüllt werden könnte? Auch literarisch hätte es vielleicht seinen Reiz: an einer bestimmten Stelle bricht der Text auf, gewährt ganz neue Einblicke, um dann wieder in der bereits bekannten, gefassten Ausdrucksweise abzuschließen.

lg wüstenrose
 

Gabriele

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Kaum hatte ich im März 2002 meine „erfolgreiche“ Scheidung im wahrsten Sinne des Wortes „gefeiert“, begann es meinem im Pflegeheim lebenden Vater immer schlechter zu gehen. Das Sprechen hatte er schon seit längerer Zeit aufgegeben, da er sich aufgrund seiner wiederholten Schlaganfälle nicht mehr verständlich ausdrücken hatte können. So war es immer schwieriger geworden zu beurteilen, wie gut oder schlecht es ihm tatsächlich ging. Gelächelt hatte Vater nur mehr sehr selten, aber wenn ich und vor allem meine kleine Tochter bei ihm zu Besuch waren, war sein Gesichtsausdruck meistens sehr ruhig und entspannt gewesen.
Am 23. Mai 2002 erhielt ich mitten in der Nacht einen Anruf vom Pflegeheim mit der Mitteilung, man habe Vater ins Krankenhaus einweisen lassen müssen. Ich rief sofort in der Klinik an; über den Grund für seine Einlieferung erhielt ich keine Auskunft, es wurde mir aber gesagt, dass keine unmittelbare Lebensgefahr bestünde. So fuhr ich erst am nächsten Morgen, dem 24. Mai 2002, einem Freitag, an dem ich zum Glück nicht arbeiten gehen musste, zu Vater ins Krankenhaus. Viel mehr als am Telefon konnte ich von den Ärzten und Schwestern jetzt auch nicht erfahren; es war offenbar nicht eindeutig feststellbar, warum es meinem Vater so schlecht ging.
Als ich zu ihm ins Zimmer trat, lag er – mit Sauerstoff versorgt – leise wimmernd regungslos im Bett. Ich saß eine Zeitlang bei ihm, hielt seine Hand und sagte ihm beruhigende und liebevolle Worte. Das Gefühl, es könnte unsere letzte Begegnung sein, hatte ich nicht; ich dachte auch nicht ernstlich darüber nach, denn es beschäftigten mich noch andere Dinge: Ich musste noch am selben Vormittag zu einem Termin in der Elternsprechstunde der Klassenlehrerin meiner Tochter. Außerdem waren meine Schwester und mein Schwager inzwischen schon von Deutschland aus mit dem Auto zu uns unterwegs, denn in zwei Tagen sollte die Erstkommunion meiner Tochter gefeiert werden.
Vater würde laut Mitteilung einer Krankenschwester in ein paar Minuten zu irgendeiner Untersuchung gebracht werden. Also verabschiedete ich mich mit einem Kuss von ihm, versprach ihm, bald wiederzukommen, und verließ das Krankenhaus, um nicht zu spät zu meinem Termin in der Schule zu kommen.
Das Gespräch mit der Klassenlehrerin meiner Tochter war erfreulich und interessant. Danach holte ich mein Kind und seine Schulfreundin, die in unserer Nähe wohnte, vor dem Klassenzimmer ab und fuhr mit ihnen zu uns nach Hause. Wir wollten zu dritt bei uns zu Mittag essen, und danach wollte ich die beiden Mädchen mit der Straßenbahn zu einer Geburtstagsparty bei einer weiteren Mitschülerin bringen.
Daheim bereitete ich ein schnelles Mittagessen zu – da klingelte unser Telefon – ein Anruf vom Krankenhaus: Mein Vater sei verstorben!
Ich konnte es kaum glauben – es kam trotz seines schlechten Zustandes so plötzlich und unerwartet für mich… Ich konnte gar nicht gleich weinen, befand mich in einer Art Schreckstarre, einem seltsamen Ausnahmezustand, den ich den beiden Mädchen natürlich erklären musste. So sagte ich ihnen kurzerhand die Wahrheit, welche sie dann gleich auf ihre Weise verarbeiteten, indem sie „Sterben spielten“ – skurril und makaber, aber das war nun mal das, was sie zu jenem Zeitpunkt brauchten…
Was brauchte ich? Daran wurde kein Gedanke verschwendet. Ich musste meine Schwester anrufen – zum Glück hatte sie damals schon ein Handy, welches sie lange Zeit verweigert hatte – und dann die beiden Mädchen bei der Party abliefern. Von dort war es nicht weit bis zum Krankenhaus; so fuhr ich gleich anschließend dorthin, um Abschied von meinem Vater zu nehmen.
Er lag noch immer – bzw. wieder – in demselben Zimmer, in dem ich ihn am Vormittag besucht hatte. Nun stand eine Kerze auf seinem Nachtkästchen, und Vater lag fahl, stumm und kalt auf seinem Bett. Jetzt konnte ich endlich weinen…
Gegen Abend kamen meine Schwester und ihr Mann in Graz an. Meine Tochter war nicht zu Hause; sie war nach der Kindergeburtstagsfeier von der Mutter ihrer Schulfreundin mit abgeholt worden und durfte nun bei dieser übernachten. Das war sogar schon ein paar Tage zuvor vereinbart worden, denn meine Schwester, mein Schwager und ich hatten ursprünglich genau an diesem Abend noch zu einem Clubbing gehen wollen. Die Eintrittskarten dafür hatte ich schon ein paar Tage zuvor besorgt, und so fuhren wir am Abend sogar noch schnell zu dritt mit dem Auto zum Club, um die Tickets vor dem Eingang zu verkaufen. Dann kauften wir uns bei einer Tankstelle ein paar Flaschen Bier, setzten uns damit in mein Wohnzimmer und sprachen die halbe Nacht lang über Vater.
Natürlich war die Erstkommunion zwei Tage danach dann trotzdem ein schönes, fröhliches Fest. Ein paar Tage später fand Vaters Beerdigung statt; immerhin war es „günstig“, dass meine Schwester und mein Schwager dafür nicht mehr extra anreisen, sondern lediglich geeignete schwarze Kleidung kaufen mussten. Wieder einmal waren mir die beiden eine große Unterstützung – beim Organisieren der mit Vaters Tod zusammenhängenden Dinge und beim Gestalten der beiden Feiern.
Obwohl auch dieser Schock erst mal wieder langsam verarbeitet werden musste, gewann ich gleichzeitig auch ein weiteres Stück Entlastung und Freiheit. Meine häufigen Besuche bei Vater im Pflegeheim waren zwar jedesmal irgendwie schön, aber doch auch ziemlich belastend und traurig gewesen.
 

Gabriele

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Danke, liebe wüstenrose,...

...für deine Verbesserungsvorschläge, die ich gerne übernommen habe!
Was deine Anregungen hinsichtlich der "Leerstelle" betrifft, so hast du sicher Recht. Diese ergibt sich dadurch, dass dieser Text doch "nur" ein Auszug aus (m)einer Lebensgeschichte ist. Über die zwischen den Zeilen auftauchenden Themen ("durchzechte" Nächte, Beziehung zum Vater und zur Schwester...) könnte der Leser/die Leserin mehr erfahren, wenn er/sie die ganzen "Memoiren" zu lesen bekäme. Diese als Ganzes hier bei der leselupe vorstellen möchte ich derzeit nicht, da es sich dabei doch um etwas sehr Persönliches handelt. Zumindest müsste ich dann noch Vieles überarbeiten bzw. anonymisieren...
Vielleicht ist es aber gar nicht so schlecht, wenn der/die Lesende durch die "Leerstelle" dazu angeregt wird, sich eigene Gedanken zu machen und seine Fantasie ein wenig spielen zu lassen?! Oder ich gehe doch nocht etwas mehr ins Detail? Darüber werde ich noch nachdenken...
Vielen Dank für deine auch hier wieder sehr treffenden Beobachtungen:
die fürsorgliche Mutter, die kalkulierende Verwalterin der Finanzen, die pragmatische Tochter (Schock versus Entlastung
Herzliche Grüße,
Gabriele
 



 
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