Abschiede

XRay

Mitglied
Etwas berührte ihn am Arm. Es war M., die ihn weckte.
Das Taxi kam pünktlich um acht. Der Fahrer verstaute seinen Trolli im Kofferraum, die Aktenmappe, die Senecas „Vom glücklichen Leben“ einige CDs und das Manuskript seiner Lebenserinnerungen enthielt, nahm er mit sich in den Wagen.
Nach einer Stunde waren sie an der Klinik.
Er bezog ein ruhiges Einzelzimmer im obersten Stock. Der Tag ging mit Formalitäten schnell vorüber: Aufnahme der Personalien, Einweisung in die Station, Mittagessen, vor dem Kaffee ein kurzer Spaziergang im Garten der Klinik bei sonnigem, nicht sehr kaltem Januarwetter, Kaffee und Kuchen; nach dem Abendessen gingen sie noch eine kurze Runde durch die angrenzenden Straßen der Stadt.
Angehörige von am Wochenende anreisenden Patienten durften samstags kostenfrei im Haus übernachten, und so blieb M. heute bei ihm. Sie hörten sich einige Kapitel aus einer Lesung von „Der Golem“ an und gingen wie immer früh ins Bett. Ihm fiel auf, dass M. heute beim Einschlafen nicht schnarchte. Zu Hause schliefen sie deshalb schon seit einigen Jahren in getrennten Zimmern.
Am nächsten Tag, einem Sonntag, besuchten sie nach dem Frühstück eine Ausstellung in einem nahe gelegenen Museum, das ihnen bei ihrem Rundgang am Abend zuvor wegen seiner modernen Architektur aufgefallen war. Mittags aßen sie in einem italienischen Restaurant, gingen auf sein Zimmer und vögelten. M. verabschiedete noch vor dem Abendessen und fuhr mit dem Zug zurück.
Ihn befiel plötzlich eine tiefe Melancholie, eine Niedergeschlagenheit, die ganz anders war, als die postkoitale Tristesse, die er früher gelegentlich erlebt hatte.
Er schaltete den Fernseher ein, fand aber nichts interessantes, lief dann zunehmend angespannt im Zimmer herum, setzte sich schließlich in einen Sessel und zwang sich, in seinem Seneca zu lesen.
Die Panik legte sich langsam, aber eine quälende Nervosität blieb.
Er schlug das Manuskript seiner Erinnerungen auf, und überflog das Kapitel „Abschiede“, in dem er das Ende seiner verschiedenen Beziehungen schilderte, bevor er vor jetzt fast 30 Jahren M. kennenlernte.
Die Ordnung war chronologisch, es begann 1966 mit dem Ende seiner ersten großen Liebe zu Rele, der eisernen Jungfrau, und schloss 1979 mit dem Ende der obsessiven Liaison zu Isotta, einer Frau von fast magischer sinnlicher Anziehungskraft, der nicht nur er immer wieder erlegen war.
Er las:
RELE
Wir waren am Nachmittag ziellos durch die Stadt gebummelt und hatten darüber gesprochen, wie es nun weitergehen solle.
Sie wollte nach ihrer Matura im Juni des Jahres für einige Wochen nach Kalifornien fahren, ohne genau zu sagen, was sie dort machen wollte.
Ich erzählte ihr von unserer für die gleiche Zeit geplanten Indienreise. Bezüglich einer gemeinsamen Zukunft kamen wir nicht weiter. Sie sagte, sie könne sich noch nicht entscheiden, brauche noch Zeit; ich möge geduldig sein, es werde schließlich alles gut werden. Ich antwortete, ich hätte jetzt fünf Jahre gewartet und wolle nicht länger im ungewissen bleiben.
Am Abend gingen wir zum Bahnhof, um auf meinen Zug nach München zu warten. In der Bahnhofshalle erklang Musik aus den Lautsprechern. Als der Zug einfuhr spielten sie „Bésame mucho“, das Lied, das ich an jenem Juliabend des Jahres 1961 auf dem Saxophon gespielt hatte, als ich ihr Herz gewann. Heute hatte ich es endgültig verloren.
Ein flüchtiger Abschiedskuss.
Ich stieg in den Zug und setzte mich in das erste leere Abteil. Über meinem Platz stand auf der Rückseite der Hinweis: „Für Schwerbeschädigte“.
Wir wechselten durch das offene Fenster noch einige Worte, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung.
Sie winkte.
Ich schaute zurück, bis sie in der Dunkelheit verschwand.


INGA
Nach unserer Rückkehr aus Frankreich gestand ich ihr, dass ich eine andere Frau liebe.
Sie war völlig verstört. Ihre immer gleichen Fragen nach dem warum und wieso wechselten ab mit heftigen Weinkrämpfen. Als sie sich etwas beruhigt hatte brachte sie zum Bahnhof. Sie bestieg den Zug nach Graz wie in Trance und ging ohne sich umzuwenden nach rechts in ein Abteil.
Einige Tage später trafen wir uns auf ihr Drängen hin noch einmal in München.
Als sie nach endlosen Diskussionen begriff, dass sie mich nicht zurückgewinnen würde, bekam sie einen hysterischen Anfall. Sie drohte sich umzubringen, setzte sich auf die Balkonbrüstung im 6. Stock meiner Wohnung und schaute in die dunkle Tiefe hinab. Es dauert lange bis es mir schließlich gelang, sie dazu zu bewegen, in die Wohnung zurückzukommen und ein Beruhigungsmittel zu nehmen. In der Nacht wachte sie immer wieder auf und weinte.
Am nächsten Morgen brachte ich sie zum Bahnhof. Sie wollte nicht, dass ich sie auf dem Bahnsteig begleitete. Ich schaute ihr nach, als sie langsam durch die Halle ging. Sie tat mir sehr leid wegen der Enttäuschung und des Schmerzes, die ich ihr bereitet hatte, ein schlechtes Gewissen hatte ich aber nicht.
Auf dem Weg zum Ausgang kam mir plötzlich das Lied „La Golondrina“ in den Sinn, das ich nach unserer ersten Begegnung in dem kleinen Ort in Oberösterreich vor zwei Jahren auf der Rückfahrt nach München im Hochgefühl einer beginnenden Liebe gesungen hatte.


JADA
Sie musste zurück nach Marokko, weil ihre Arbeitsgenehmigung für die Schweiz ablief. Von dort aus wollte sie mit Unterstützung der Klinik eine erneute Genehmigung für ihre Arbeit als Laborantin beantragen.
Die Nacht vor ihrer Abreise nach Rabat verbringen wir zusammen. Am Morgen sitze ich nach einer erneuten intensiven, aber stillen Begegnung auf dem Bett, um mich anzuziehen. Im Radio spielt man vor den Morgennachrichten französische Chansons.
Sie kommt aus dem Bad, setzt sich auf meinen Schoß, presst ihr Gesicht an meinen Hals und umarmt mich heftig. Schließlich löst sie die Arme und sagt etwas auf Arabisch, das so herzergreifend und traurig klingt, dass mir die Tränen kommen. Wir wussten beide, dass es ein Abschied für immer war, da auch meine Zeit in Davos in zwei Monaten zu Ende war. Sie packt ihre restlichen Sachen in den Koffer, zieht ihren Mantel an und gibt mir, den Koffer in der Hand, noch einen Kuss.
„Au revoir! A bientôt mon grand amour … Meine grosse Liebe“. (Ihr reizender französischer Akzent, wenn sie Deutsch sprach).
Sie möchte nicht, dass ich sie zum Taxi begleite, das bereits unten wartet. Ich stehe in der Tür, als sie die Treppe hinab geht. Auf dem Absatz dreht sie sich noch einmal zu mir um und sagt energisch:
„Ferme la porte s’il te plaît! … Je t’en prie!“
Ich gehe in die Wohnung zurück, um das Bett zu machen. Im Radio spielen sie „Septembre“ von Barbara, ein Lied das sie sehr liebte.
Gerade erklingen die letzten Zeilen:

Jamais les fleurs de Mai n‘auront paru si belles.
Les vignes de l‘année auront de beaux raisins.
Quand tu me reviendras, avec les hirondelles,
Car tu me reviendras, mon amour, à demain...

Beim Aufschütteln des Kopfkissens finde ich einen aus einem Spiralblock gerissenen Zettel.
Darauf mit Bleistift geschrieben die Worte:

„Rappelle-toi a ta Jada,
combien je t’aimais,
quand encore une fois
une autre fille comme moi,
avec des cheveux noirs,
sur tes genoux
t’embrasse.“

„Denk’ an deine Jada,
wie sehr ich dich liebte,
wenn wieder

ein Mädchen wie ich,
mit schwarzen Haaren,
auf deinem Schoss
dich küsst.“


NICA
Vor zwei Jahren hatte ich mich von meiner Frau getrennt und war zu Monica gezogen, die als Krankenschwester in der Klinik arbeitete. Sie war Witwe - ihr Mann, ein kanadischer Militärpilot, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen - und lebte mit ihrem 4-jährigen Sohn Christopher seit einem halben Jahr in München. Als sie sich im Frühjahr entschied, nach Berlin zu gehen, versuchte ich nicht, sie umzustimmen.
Von dort schickte mir später einen Brief, der den formalen Schlusspunkt unter unsere Beziehung setzte.#

Lieber F.!
Sicher findest Du es komisch, dass ich Dir schreibe, aber ich habe jetzt lange über Dich und mich nachgedacht und weiß, dass wir niemals zusammen glücklich werden würden. Ich mag Dich immer noch sehr gern, aber ich liebe Dich nicht. Wir passen einfach nicht zusammen und ich glaube nicht, dass wir es lernen könnten, dazu sind wir beide zu egoistisch und verschieden. Du hast dich immer fair uns gegenüber verhalten. Ich bin froh, dass ich diesen Schritt nach Berlin getan habe, denn jetzt finde ich wieder zu mir selbst. Ich habe viele „alte“ Freunde wieder gefunden, die mich so nehmen ich bin und nicht an mir und meinem Eskapaden verzweifeln wie Du. Und deshalb bitte ich Dich, dass wir in Frieden auseinandergehen und Freunde bleiben. Sicher wirst Du jetzt denken, das ist wieder so ein Spiel von mir. Aber ich habe es mir wirklich lange und gründlich überlegt, es ist wohl das beste so. Ich möchte, dass wir weiter- hin Freunde bleiben, aber wenn Du meinst, dass das nicht geht, müssen wir unsere Verbindung ganz abbrechen. Ich weiß, ich schulde Dir noch eine Menge Geld, Du wirst es wieder bekommen (aber nicht auf einmal), wenn ich wieder Geld verdiene.
The answer, my friend, is blowin' in wind.
Alles Gute
Nica“


LILLA
Nachdem ich mich von Lilla, meiner Frau, getrennt hatte war zu Monica gezogen (S. vorheriger Abschied). Ein Jahr später stellte ich den Scheidungsantrag, der nach nach einigen Monaten vor Gericht verhandelt wurde.

Ich hatte L. zwei Jahre nicht gesehen. Sie saß schon im Verhandlungssaal als wir ankamen. Ihre Lippen waren blass, die Haare weissblond gefärbt, sie sah alt und verhärmt aus. Ich ging zu ihr hin und begrüßte sie mit knappen Worten, etwa so, wie wenn man einen Patienten begrüßt, den man längere Zeit nicht gesehen hat.
Der Richter, ein freundlicher älterer Herr mit einer dicken blauroten Rosacea-Nase, schwarzer Hornbrille und kleinen, entzündeten Augen, eröffnete die Verhandlung, obgleich ihr Anwalt noch nicht angekommen war.
Er fragte zunächst, ob wir es uns inzwischen anders überlegt hätten, was ich mit „Nein“, sie mit Schweigen beantwortete. Dann verlas die Protokollantin, dass die Trennungszeit von Januar 19xx bis August 19xx festgesetzt werde. Anschließend fragte der Richter jeden von uns gesondert, ob er/sie die Scheidung wolle, was ich mit „Ja“ beantwortete, sie, zögerlich und unsicher mit: „Ich weiß es nicht“.
Inzwischen war ihr Anwalt eingetroffen. Der Richter sagte, dass die Sache, wenn sie zustimme, viel einfacher sei und gab ihr einige Minuten zur Beratung mit ihrem Anwalt, der eigenartig unkonzentriert in seinen Unterlagen blättert.
Dann die erneute Frage, ob sie einer Scheidung zustimme, worauf sie immer noch mit Zögern und Ratlosigkeit reagiert. Ob sie sich denn vorstellen könne, dass ich die Ehe noch einmal aufnehmen würde?
Sie habe das geglaubt, weil es ja schon einmal so gegangen wäre ... Aber unter diesen Umständen ...
Der Richter (geduldig): „Aber Sie müssen doch wissen, was sie wollen.“
Sie, nach einer längeren Pause, leise:
„Ich stimme zu“.
Die angespannte Atmosphäre löste sich schlagartig. Die Erleichterung aller Beteiligten war nahezu greifbar.
Der Rest war Formsache. Der Richter gestattete mir den Zugang zu unserer gemeinsamen Wohnung, um meine persönlichen Sachen von dort mitzunehmen.
Am vereinbarten Termin war sie selbst nicht in der Wohnung. Sie hatte eine Arbeitskollegin gebeten, zu protokollieren, was ich einpackte. Ihre eigenen Sachen hatte sie offensichtlich bereits schon mitgenommen.
Ich war glücklich, endlich meine Sammlung von LP' s wieder zu haben, Aufnahmen aus Klassik und Jazz, an denen mir viel lag. Auf dem Plattenspieler lag noch die völlig eingestaubte Platte von Alexandra, die ich ihr am Anfang unserer Bekanntschaft geschenkt hatte.
Das Lied „Mein Freund, der Baum“ hatten wir oft zusammen gehört, als unsere Liebe noch frisch war. Ich säuberte die Platte, schob sie in die Hülle und gab sie der Arbeitskollegin.
Ich habe L. nie wieder gesehen.


SILKE
Diese Geschichte ist am Ende versickert.
Diese Geschichte ist am Ende versickert. Im Mai des Jahres waren wir mit dem Zug nach Amsterdam gefahren, wo wir mehrere Stunden durch die Stadt bummelten und eine schlaflose Nacht lang in Kneipen herumhockten.

Sie hat mir in dieser Nacht sehr zugesetzt und mir harte Sachen an den Kopf geworfen. Heute sehe ich es als eine Art psychische Vivisektion, die mich völlig fertig machte.
Am Morgen besuchten wir nach einer Hafenrundfahrt noch das van-Gogh-Museum, dann gingen wir zum Bahnhof. Auf der Rückfahrt redeten wir kaum miteinander, ich fühlte mich ausgelaugt, war erschöpft von meiner Liebe zu ihr. Ob sie diese jemals erwidert hatte, war mir mehr denn je zweifelhaft.
Es wurde mir klar, dass wir uns nicht wieder sehen würden, und ich wehrte mich kaum gegen die Erkenntnis vom Ende. Als ich in W. ausstieg winkte sie aus dem Fenster heftig nach. Ich hob nur kurz die Hand zum Gruss, ich wusste: das war das letzte Bild von ihr.
Einige Monate später schickte sie mir per Post „Das Gewicht der Welt“ von Peter Handke zurück, das ich ihr geliehen hatte. Im Buch lag ein kurzer Brief, in dem sie schrieb, sie könne sich meinen „Sinneswandel“ nicht erklären.
In meiner Antwort schrieb ich, wie sehr ich in sie verliebt gewesen sei; dass die Verliebtheit abgeklungen sei; von einem „Sinneswandel“ könne nicht die Rede sein, es sei vielmehr eine Sinnesbegradigung.
Als ich den Brief in den Kasten warf spürte ich nur eine kleine Traurigkeit.


ISOTTA *
Wir hatten uns in Davos kennengelernt, wo ich im Rahmen meiner Dissertation mehrere Monate in einer Klinik tätig war, in der sie als Sekretärin arbeitete. Nach Fertigstellung meiner Arbeit kehrte ich nach München zurück, um meine Ausbildung abzuschließen.

Wir hatten uns einige Monate nicht gesehen, als wir uns an einem Wochenende im November in Wien trafen. Ich war um die Mittagszeit in Schwechat gelandet, sie war mit dem Zug aus Ancona gekommen, wo sie ihren Vater besucht hatte.
Als ich am frühen Nachmittag ankam hatte sie unser Zimmer bereits bezogen. Um sechs Uhr waren wir in der Staatsoper, wo der „Tristan“ gegeben wurde. In der Pause assen wir eine Kleinigkeit, nach Ende der Vorstellung in setzten wir uns in eine Weinstube.
Das Gespräch drehte sich zunächst um die Aufführung, dann erzählte sie mir das Neueste aus Davos. Schließlich kam ich auf das zu sprechen, was mir am meisten am Herzen lag: die Frage nach einer gemeinsamen Zukunft. Sie reagierte unbestimmt, meinte, es sei eine Sache, sich gelegentlich zu treffen, eine andere dauernd zusammen zu leben; der Altersunterschied mache ihr nichts aus - sie war 15 Jahre jünger als ich -, aber die Vorstellung eines Lebens in einer so großen Stadt wie München mache ihr Angst; an eigene Kinder habe sie bis jetzt nicht gedacht.
Wir kamen erst nach Mitternacht ins Hotel zurück. Ich war todmüde und verzichtete trotz ihrer Einladung auf eine Wiederholung unserer Begegnung vom Nachmittag.
Am Morgen eine schnelle Intimität, auf ihren Wunsch à la 69, dann packen, Frühstück, auschecken. Beim Abschied sind wir beide verlegen und unsicher, vermeiden eine konkrete Abtretung für ein Wiedersehen. Sie geht zum Bahnhof, um mit dem Zug zurück nach Davos zu fahren, ich steige in ein Taxi, das mich zum Flughafen bringt.
Der Fahrer hat das Radio eingeschaltet, sie bringen gerade einen Bericht über die gestrige Aufführung des „Tristan“ in der Staatsoper, der mit einem Auschnitt aus der Ouvertüre eingeleitet wird. (Was immer man von Wagners Musik halten mag: diese Ouvertüre ist ein Geniestreich.)
Ich sitze im Fond und höre den Wiener Philharmonikern zu. Als das Taxi vor einer auf rot stehenden Ampel hält, sehe ich sie zufällig an einer Tramhaltestelle. Sie steht da, gedankenverloren in ihrem Ledermantel bei leichtem Schneetreiben; mein Winken bemerkt sie nicht.
Die Ampel schaltet auf Grün, das Taxi fährt weiter. Das letzte, was ich von ihr sehe ist ihr blasses Gesicht, die dunklen Augen, die tiefschwarzen gekrausten Haare. Ich weiß nicht, warum mir Anna Karenina einfiel.
Etwa ein halbes Jahr später traf ich einen Kollegen, der an einem Symposion an „unserer“ Klinik in Davos teilgenommen hatte. Er erzählte mir, dass Isotta mit einer Oberärztin der Klinik liiert war, deren Vorliebe für Frauen bekannt war.
* Isotta ist die italienische Form von Isolde.“


Er legte das Manuskript beiseite. Nach der Lektüre kam ihm Zweifel, ob er einige Episoden nicht überarbeiten solle. Manches las sich wie aus aus dem Drehbuch einer Seifenoper. Andererseits: genau so war es ja gewesen, warum also es verändern?
Heute mittag im Bett, das war auch ein Abschied gewesen, dachte er, und weitere, schmerzhaftere würden noch kommen. Bevor er sich zum schlafen legte las er noch einige Sätze aus seinem Seneca, schluckte eine der Schlaftabletten, die man ihm auf den Nachttisch gelegt hatte.
Die letzte scharfe Patrone. ... Alles hat ein Ende. ... Aber Gefühle hat man danach immer noch, wie der Professor sagte. ... Bin gespannt. …
Er schlief ein.
In der Nacht schrak er auf, weil sich auf dem Flur vor seinem Zimmer zwei Männer laut unterhielten, bevor sie in ihre Zimmer gingen. Er nahm eine zweite Schlaftablette, konnte aber nur mit Mühe wieder einschlafen.
Am Morgen wird er um 7:30 Uhr abgeholt. Man rollt ihn in seinem Bett zum Aufzug, sie fahren zwei Stockwerke abwärts, dann über einen langen Gang in einen anderen Trakt. Im Vorbereitungsraum legt man ihm einen Brustgurt und ein Blutdruckmessgerät an; dann muss er warten, bis er an die Reihe kommt.
Eine Frau Mitte 30 in weissem Klinikdress stellt sich als Laura B., seine Anästhesistin, vor. Sie wird ihn während und nach der Operation überwachen. Nachdem sie ihm einige Kanülen angelegt hat fragt sie: „Können wir beginnen?“
Er nickt, sie sagt noch etwas, das er aber schon nicht mehr genau versteht.

… Laura … Dante? … nein, Petrarca! … Dante war Francesca da Rimini … in Rimini war ich nie …

Er lachte.
.... Brindisi … eine Melodie ging ihm durch den Kopf ...
Er spürte eine Berührung an der Hand, hörte eine Stimme wie aus entfernten Lautsprecher, schlug die Augen auf. Neben ihm sass M.
„Was ist los? Wo sind wir?“.
„Wir sind im Aufwachraum. Wie geht es dir? Du hast so gestöhnt und dann plötzlich gelacht. Hast du Schmerzen?“
„Nein, überhaupt nicht. Ist es schon vorbei?“.
„Ja, du bist schon seit einer halben Stunde hier“.
„Wie lange hat es gedauert?“.
„Fünf Stunden“.
Er blickte sich in dem Zimmer um, rechts und links lagen noch andere frisch operierte Patienten in ihren Betten. Dann öffnete sich die automatische Tür und der Professor kam herein.
„Es ist alles gut gelaufen,“, sagte er, „ich konnte die Drüse vollständig entfernen und habe keine Verdächtigen Lymphknoten gefunden. Der Schnellschnitt war unauffällig, so dass es insgesamt sehr gut aussieht. Sie werden in einer halben Stunde auf die Station zurückgebracht und wir sehen uns dann morgen bei der Visite!“
Und weg war er.
Er fühlte sich in den nächsten Stunden geradezu euphorisch. M. fuhr nach dem Abendessen zurück, sie würde spätestens morgen mittag wieder bei ihm sein.
Um zehn Uhr abends wurde sein Urinbeutel geleert und die Schwester stellte ihm Schmerztropfen und „etwas zum schlafen“ auf den Nachttisch. Er liess beides stehen, drehte sich auf die Seite und schlief sofort ein. Als die Nachtschwester auf ihrem Rundgang um Mitternacht hereinkam, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, reagierte er verärgert auf die Störung.
Nach einer Woche wurde er entlassen. Zur abschliessenden Visite kam diesmal der Professor selbst, umgeben vom weißen Schleier seiner Oberärzte, Assistenten und dem Pflegepersonal. Bei seiner scherzhaften Frage, ob denn der Strahl wieder so kräftig sei wie früher, wirkte das Grinsen seiner Entourage etwas gequält, das hatten sie offensichtlich schon öfters gehört.
„Kräftig ist was anderes, aber es läuft gut“, hatte er mit einem aufgesetzten Lächeln geantwortet, bevor der weiße Schwarm, wie durch einen geheimnisvollen Sog gezogen, wieder zur Tür hinaus wehte.
Bei der Entlassung bekam er außer den Berichten für seinen Urologen auch ein Rezept über Viagra, das er nie einlöste. Er hatte andere Probleme, die zunächst beseitigt werden mussten, über seine Potenz machte er sich vorerst keine Gedanken. Wichtiger war, die Kontrolle über seine Blase zurückzugewinnen. Er trug in den ersten Wochen nach der Operation spezielle Unterwäsche und zusätzlich Einlagen, bevor seine konsequente Beckenbodgymnastik den Schließmuskel der Blase so weit gestärkt hatte, dass er sich in der Öffentlichkeit halbwegs sicher bewegen konnte. In dieser Zeit war sein sexuelles Verlangen nahezu erloschen, ohne dass er oder M. das als Mangel empfanden.
Im Mai des Jahres wurde er 70. Wegen seiner Blasenschwäche wollte er nur eine kleine Feier im Familienkreis. Am Ende des ruhig und in großer Harmonie verlaufenen Tages lag er schon im Bett, als M. noch einmal in sein Schlafzimmer kam.
‚Jetzt hätte ich doch beinahe dein Geburtstagsgeschenk vergessen‘, sagte sie augenzwinkernd.
‚Wir schenken uns doch nie etwas‘, hatte er vorsichtig geantwortet.
Sie legte sich zu ihm und „sie plauderten miteinander“, wie es irgendwo in den „Erzählungen aus den 1001 Nächten“ heißt.
Eine wohlige Müdigkeit überkam ihn, als sie ihn mit einem Gute-Nacht-Kuss verlassen hatte.
… plaisir sec … cold gun … auch nicht schlecht … Ja … ...
Er schlief ein.
 



 
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