Abschiedsbriefe

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Bo-ehd

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Eigentlich spielt bei Liebenden das Alter eine untergeordnete Rolle. Aber weil die Liebe so relativ ist wie die Zeit, ist es nicht immer so. Es kommt auf die Umstände an. Eine Zwanzigjährige und ein Vierzigjähriger liegen genauso weit auseinander wie eine Vierzigjährige und ein Sechzigjähriger. Dennoch leben sie in völlig verschiedenen Welten: körperlich, geistig, sexuell, gesellschaftlich, politisch und noch vieles mehr. Es ist exakt wie bei der Zeit, man denke nur an fünf Minuten Langeweile und fünf Minuten, die man zu spät kommt. Die einen empfinden also ihre Liebe ganz anders als die anderen, und diese unterschiedlichen Wahrnehmungen haben bisweilen bittere Konsequenzen, wie uns die Briefe von Denise und Oliver verraten.


Mein lieber Oliver

Mir blutet das Herz, weil ich Dir diesen Brief schreiben muss. Ich hatte das weiße Papier vor mir auf dem alten Sekretär liegen, und meine Hände begannen zu zittern, obwohl ich noch kein einziges Wort geschrieben, ja, nicht einmal den Füllhalter in die Hand genommen habe. Aber ihn Dir zu schreiben, muss sein, und es würde uns beiden am Ende nicht guttun, wenn ich es unterließe.

Wir haben uns ja schon oft darüber unterhalten, dass der Altersunterschied der einzige Grund sein könnte, der uns einmal auseinanderbringt. Siebzehn Jahre sind halt eine verdammt große Spanne. Soziologen sehen darin schon fast eine Generation, und in der Tat, sie haben recht damit. Ich möchte das hier nicht weiter ausführen, Du kennst ja meine Argumentation.

Ich bin mir sicher, Du wirst mich verstehen, dass ich unsere Liebesbeziehung, die wahrscheinlich in jedem von uns weiterbestehen wird, beenden will und muss. Diese Entscheidung treffe ich nur aus Vernunftsgründen. Das sollst Du wissen.

Woran mir noch liegt: Ich bin unbedingt dafür, dass wir einen sauberen Abgang hinlegen, damit wir uns nach unserer gemeinsamen Zeit noch in die Augen schauen können. Alles andere würde mich umbringen.

In großer Liebe, adieu

Deine Denise




Ach, meine liebe Denise,

wie kannst Du es nur fertigbringen, mir einen so kalten Abschiedsbrief zu schreiben. Du hast mir zum wiederholten Male ins Gesicht gesagt, dass die Zeit mit mir die glücklichste ist, die Du in deinem jungen Leben je erlebt hast. Und dass Du Dir gar nicht vorstellen kannst, jemals glücklicher sein zu können.

Ja, das hast Du mir oft gesagt. Meistens in Situationen, die auch für mich unvergesslich sind. Wenn wir miteinander geschlafen haben und ich dich danach noch lange in den Armen gehalten habe. Oder wenn wir uns mitten im Liebesspiel angeschaut haben und Du mich bewundert hast, mit welch tierischer Lust ich mich in dir ergossen und dich begehrt habe. Das alles kann doch nicht einfach so vorbei sein.

Ich bitte Dich inständig, Dir diesen Schritt, von dem Du glaubst, dass er unerlässlich ist, noch einmal zu überlegen.

Ich stimme dir zu, die siebzehn Jahre, die wir auseinander sind, dürfen nicht einfach so verleugnet werden. Aber bevor ich versuche, Dich mit Argumenten umzustimmen, erinnere Dich bitte daran, was wir beide uns oft zum Credo gemacht haben: Solange wir uns lieben und glücklich miteinander sind, gibt es keine Macht auf dieser Welt, die uns auseinanderbringen könnte.

Das ist bis zur Stunde meine Überzeugung, und ich bin auch überzeugt, es gibt auf dieser Welt wirklich keinen einzigen Grund, keine Institution und keine Person, die es schaffen würde, uns zu trennen. Es gibt nur eine Ratio, die sagt: Ich will oder kann nicht mehr. Sie würde eine Trennung einleiten, aber Deinem Verhalten in den letzten Stunden, Tagen und Monaten unseres Zusammenseins gänzlich widersprechen.

Liebling, Du gibst mir Rätsel auf!

Dein Oliver




Liebster Oliver,

gewiss: Ich kann Dir nicht widersprechen. Alles, was Du geschrieben hast, entspricht der Wahrheit, und lass Dir versichern, so wie Du empfunden hast und noch immer empfindest, so empfinde auch ich.

Ich bin über den Schritt, zu dem ich mich entschlossen habe, todunglücklich. Aus den bekannten Gründen. Aber ich bin auch froh, dass ich mich dazu durchgerungen habe, weil ich weiß, dass es das Beste für uns ist. Und jetzt komme ich mit ein paar Argumenten, die ich dir habe ersparen wollen. Aber wenn sie ausgesprochen werden, ist es vielleicht besser. Es gibt zwei entscheidende Gründe für meinen Entschluss.

Da ist zum einen meine berufliche Laufbahn. Man will mich protegieren und sagt mir vor allem wegen meines geringen Alters und meines jugendlichen, erfrischenden Auftretens eine große Karriere voraus, und wie Du weißt, habe ich gerade erste Erfolge, mich mit meinen politischen Ambitionen durchzusetzen. Es wird – sicherlich nicht morgen oder übermorgen - die Zeit kommen, in der ich nicht einen einzigen Schritt wagen kann ohne einen Aufpasser und ein Dutzend Journalisten um mich herum. Noch bin ich zu unerfahren für eine solche Stellung, aber irgendwann wird die Zeit gekommen sein, in der ich etabliert bin und sich unser Verhältnis nicht mehr verheimlichen lässt. Wie die Öffentlichkeit den Altersunterschied dann bewerten wird, darüber muss ich Dir ja jetzt keinen Vortrag halten.

Der andere Grund ist, dass wir beide älter werden. Denk einfach mal zwanzig Jahre in die Zukunft. Es könnte durchaus sein, dass der eine von uns kränkelt und vorzeitig einen Gehstock braucht, während der andere fit ist und vor Energie nur so strotzt. Von Sex will ich hier gar nicht erst reden. Da können siebzehn Jahre Mauern zwischen zwei Menschen bedeuten. Und Du weißt das. Also, was müssen wir noch diskutieren?

Ich wünsche mir, dass wir beide vernünftig sind und das Beste aus unserer Trennung machen. Damit tätest Du mir den größten Gefallen.

Danke nochmals für die schöne, unvergessliche Zeit.

Deine Denise



Es folgten noch zwei weitere Briefe, die aber im Grunde keine neuen Argumente brachten. Die Trennung tat weh, denn die beiden liebten sich wirklich. Aber die Zwänge, die von außen auf Denise einwirkten, waren einfach zu groß.

An dieser Stelle nehme ich mir als Autor etwas heraus, was
verpönt ist. Ich nehme mir die Freiheit, mir selbst ein Postscriptum zu setzen. Es bedarf nämlich einer Erklärung:

P.S. Weil es aus den Briefen nicht hervorgeht, muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass Denise mit ihren 41 Jahren kurz vor einer politischen Karriere steht, während Oliver mit 24 noch nicht einmal sein Studium beendet hat.
 
Das könnte der Einstieg in einen zeitgenössischen Briefroman sein oder werden. Kurzprosa im strengen Sinn ist es jetzt schon eher nicht, doch hat das meine Leselust nicht vermindert. Die beiden Figuren schreiben, denken, fühlen exakt so, wie ich mir Gestalten dieser Art und in diesem Alter jeweils gut vorstellen kann. Der Ton, in dem sie sich ausdrücken, ist wirklich gut getroffen. In Denise kann ich mich aufgrund meines eigenen noch höheren Alters besser hineinversetzen. Sie ist reifer, rationaler - und kommt erst mit den ganzen Hintergründen heraus, als sein starker emotionaler Widerstand die Trennung nicht akzeptieren kann. Man kann Denise auch berechnend finden, taktisch und strategisch gewieft. Außerdem frage ich mich, ob es nicht zwei recht verschiedene Arten von Liebe sind, die die beiden jeweils empfinden. Ist Liebe überhaupt vielleicht nur ein romantisierender Oberbegriff für Gefühlszustände, die im Einzelfall erheblich voneinander abweichen können?

Wie gesagt, eine Fortsetzung mit Ausbau der Handlung könnte ich mir gut vorstellen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
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Bo-ehd

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Hallo Arno,
danke für deinen Kommentar und den Sternenregen. Die Idee, daraus einen Briefroman zu schreiben, finde ich sehr verlockend, zumal mir diese Art von Text regelrecht aus der Hand fließt. Leider bin ich zu alt, um ein solch umfangreiches Vorhaben durchzuhalten. Das ist auch der Grund, warum ich nur noch Kurzgeschichten und Ähnliches schreibe. Ich konzentriere mich auf originelle Texte mit starken Pointen, die originale Form der Kurzgeschichte also.
Die Sache mit Denise ist mir auf einer Zugfahrt eingefallen, nachdem ich im Fernsehen das Ehepaar Macron gesehen hatte. Madame ist ja auch x Jahre älter als ihr Mann.
Um eine Pointe in diese Geschichte zu platzieren, musste ich zuerst den Leser in die falsche Richtung schicken und den Dreh mit dem Postscriptum machen.
Gruß Bo-ehd
 



 
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