Abstieg

Eliphas Kramer

Mitglied
  • Neuralabdruck: korrupt
  • Alter: unbekannt
  • Synapsencluster: 21
  • Backupneuronen: -
  • Restassoziationen im Sprachzentrum: Abstieg
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Ich fand ihn an seinem üblichen Platz. In Anbetracht der Umstände hätte ich überrascht sein müssen. Doch irgendwie hatte ich damit gerechnet, ihn hier anzutreffen. Wenn das Schicksal zuschlägt, haben Menschen die Tendenz, Balsam in Altbekanntem zu suchen. In der Tradition. In der Vergangenheit. Selbst wenn nichts davon geblieben ist.
Die Wände schleuderten mir das Echo meiner Schritte entgegen. Hohles Gelächter in hohlem Zwielicht. Mein Arm streifte eine Lehne. Der zugehörige Stuhl drehte sich fragend, doch ich vergeudete meinen Atem nicht mit einer Entschuldigung, wohl wissend, dass mir das schwarze Kunstleder den Fauxpas verzeihen würde.
Es hatte eine Zeit gegeben, da ich achtsamer in diesem Raum hatte manövrieren müssen. Eine Zeit, da hitzige Debatten und feurige Reden den Donner meiner Schritte vertilgt hatten.
Ich liess meinen Blick über den Konferenztisch gleiten. Hier waren die Geldströme unseres Imperiums zusammengelaufen. Hier, in der Tafelrunde des höheren Managements, wo die skrupellosesten Profitmaximierer ihre Kelche gehoben hatten. Feiernd. Vergleichend. Kalkulierend. Erpicht auf Ruhm und Eroberung.
Nun waren die Stimmen der Kriegsherren verstummt, ihre Sitze verlassen. Allein der König klammerte sich noch an seinen Thron, einsam und vergessen.
Ich näherte mich dem Tischende, auf respektvolle Distanz zu meinem Vorgesetzten bedacht.
„Sie haben die Stromleitung gekappt. Nicht mehr lange.“
Meine Meldung verhallte unerwidert. Seine Augen waren auf den Monitor fixiert, entschlossen, eine letzte Rendite aus dem toten Glas zu extrahieren, ein Bruchstück des Traums.
„Was ist mit den Notgeneratoren?“
„Online“, sagte ich mit unveränderter Geschäftsdisziplin. Obwohl von der einstigen Hierarchie nichts mehr übrig war. Nichts ausser dem Meister und seinem ältesten Diener. Und selbst diese Unterscheidung hatte jegliche Bedeutung verloren. Derzeit gab es keinen Meister und keinen Diener. Bloss zwei Freunde, die gemeinsam dem Ende harrten.
Er lehnte sich vor, den Blick im Monitor verhakt. Ein strenger Ausdruck flackerte über sein Gesicht und für den Bruchteil einer Sekunde war er einmal mehr der König, Anführer eines globalen Kreuzzugs, umgeben von einem Hof aus Bewunderern und Ratgebern. Doch der Moment verging so rasch, wie er gekommen war.
„Wie lange haben wir noch?“
„Ein paar Stunden. Höchstens.“
„Das wird reichen.“
Zum ersten Mal hob er den Blick. Aber nicht, um sich meiner Präsenz zu vergewissern. „Und was ist mit ihm?“ Seine Augen peilten etwas in meinem Rücken an. Ich antwortete, ohne mich zu drehen.
„Schwindend, aber die Hauptkomponenten des Projekts sind intakt.“
Er veränderte seine Position. Der Armanianzug sank ein, wie wenn sich der darunterliegende Körper aufgelöst hätte. „Immerzu der Formale.“ Ein schwaches Lachen liess weitere Bereiche des Anzugs einstürzen. „Es ist nicht nötig, an Bürofloskeln festzuhalten, alter Freund. Wir sind gefickt. Kurz und simpel.“
In der Ferne heulten Sirenen. Ich widerstand dem Drang, ans Fenster zu treten. Ohne Zweifel hungerten die Staatshunde nach unserem Fleisch.
„Warum?“
Der Auftakt zur Frage, die in den vergangenen Tagen an mir genagt hatte. „Warum sind wir gescheitert? Was haben wir falsch gemacht? Was habe ich falsch gemacht?“
Nun erwiderte er meinen Blick. „So funktioniert die Welt. Niemand kann ewig auf dem Siegerpodest stehen. Wir sind keine Ausnahme.“ Ich scheuchte meine Hände hinter den Rücken, bevor sie sich gänzlich zu Fäusten ballten.
„Aber es fühlt sich nicht richtig an. Uns steht mehr zu!“
Er schüttelte den Kopf. „Dir vielleicht. Für mich ist bereits ein schönes Fleckchen in der Hölle reserviert.“ Ich sah zur Tür. „Wir können immer noch abtauchen. Der Müllwagen und die Konten sind frisch getankt.“
„Ich gehe nirgendwo hin.“
Meine Beine hatten die Distanz überbrückt, noch ehe die Synapsen das Ok gegeben hatten. „Das kann nicht dein Ernst sein.“ Ich hielt die Stuhllehne gepackt. „Warum gibst du dich in die Hände dieser Gutmenschen? Sie werden an dir ein Exempel statuieren.“ Der Frieden in seinen Zügen blieb ungetrübt. „Wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, ist Flucht schlichtweg keine Option mehr.“
Sein Tonfall gestattete keinen Verhandlungsspielraum. Und ich fand auch keinen in seinen Augen. Seine Entscheidung stand fest. Nun war es an mir, meine zu treffen.
Die Sirenen heulten lauter. Näher. Ich schaute auf meine Uhr, deren Zeiger die Minuten ungerührt in Metall bannten. Eine limitierte Rolex. Ursprünglich Symbol meines erlesenen Rangs, mittlerweile Schandmal. So wie die formatierte Identitätskarte in meiner Tasche und das Anwesen im skandinavischen Hochland.
9:54
Sie hatten es eilig, uns hinter Gitter zu bringen. „Auf dich war stets Verlass“, sagte mein Meister. „Du warst der firmeninterne Soldat. Der erbitterte Verteidiger unserer Wertanlagen. Der Fluch jedes Konkurrenten.“ Sein Anzug bröckelte unter der Gewalt eines zweiten Lachens. „Ich erinnere mich an unser Tänzchen mit dem alten Bill: Du hast ihm sein Lieblingsspielzeug direkt unter der Nase weggeschnappt.“
Ich war nicht immun gegen die Nostalgie.
„Gute Zeiten.“
Mein Blick sank herab, nur um auf dem Namensschild meiner Weste zu landen: Chief Intelligence Officer. Experte für wettbewerbliche Kontermassnahmen. Mitgründer. Titel, die ihre Macht eingebüsst hatten.
Das Heulen war jetzt ganz nah, begleitet von Türknallen und gebrüllten Befehlen. Ich liess den Stuhl los. „Wenn du bleibst, bleibe auch ich.“ Die Arme meines Meisters verschränkten sich. Endgültig.
„Geh, alter Freund. Du hast die Chance auf einen Neuanfang.“
„Ich kann dich nicht alleine in den Knast wandern lassen.“
„Ich wandere nicht in den Knast.“
Hoffnung trieb meine Mundwinkel aufwärts, ungeachtet der vagen Antwort. „Also hast du doch einen Plan B.“
„Es ist nicht wirklich ein Plan.“
Er räusperte sich. „Sondern mein Abgang von der Bühne.“ Unsere Blicke begegneten sich ein weiteres Mal.
„Aber mein Abgang muss nicht deiner sein. Geh.“
Diesmal verstand ich die Botschaft. In Gedanken sezierte ich seine Worte, auf der Jagd nach dem Schlüsselargument, das ihn vom Pfad der Selbstzerstörung abbringen würde. Aber ich war nur mit vollem Herzen, nicht mit vollem Hirn dabei. Ein Teil meines Intellekts hatte sich schon aus dem Bund gelöst, um Pläne für eine neue Zukunft zu schmieden. Eine Zukunft, in der ich mein eigener Meister sein würde.
Ich sah wieder zur Tür, ging im Kopf die besten Fluchtrouten durch. Der Flug war gebucht, die Ersatzidentität vollständig. Ich hatte den Tag als Wirtschaftskrimineller begonnen, aber ich konnte ihn als australischer Beratungsingenieur beenden. In der Business Class, auf dem Heimweg von einer unspektakulären Geschäftsreise.
Es war eine Wahl mit nur einem logischen Ausgang. Nicht einmal der grösste Narr würde das sinkende Schiff dem Rettungsboot vorziehen. Es gäbe durch Verweilen nichts zu gewinnen. Und dennoch verweilte ich, in radikalem Bruch mit der elementarsten Überlebensregel. Unfähig zu reden oder zu handeln. Auf ewig der loyale Kriegshund. Bis zum Ende.
Aus dem Korridor fegte der Sturm heran. Trommelnde Kampfstiefel. Dutzende. Es war zu spät.
Die Tür flog auf. Eine Stimme paddelte im Krachen, gedämpft durch die Verschalung eines Helms. „Wir haben sie.“ Eine Pause folgte, beendet durch ein einziges Wort.
„Verstanden.“
Das trockene Knirschen von Schusswesten füllte den Raum. Ich spürte die Blicke der Waffenmündungen im Rücken. „Es ist aus, meine Herren“, rief die gedämpfte Stimme. „Weg von der Einrichtung und die Hände da behalten, wo ich sie sehen kann!“
Ich seufzte und drehte mich um, die Arme abgespreizt. Ein Wall aus Uniformen türmte sich vor dem Ausgang. In den hinteren Reihen entdeckte ich die Reporter von BBC UK, zwei Fremdkörper unter dicken Make-up-Schichten und Versandstoff.
Ein Polizist wedelte mit seiner Pistole in Richtung Tisch.
„Das gilt auch für Sie, Herr Schwarz. In Den Haag wartet man auf Sie.“
Selbst in diesem Augenblick kompletter Niederlage bewahrte mein Meister Haltung. Er richtete seine Krawatte, bevor er sich langsam aus dem Sessel stemmte. „So endet es also.“ Unsere Blicke kreuzten sich. Und es war in dieser finalen Sekunde ungetrübter Brüderlichkeit, da ich meinen Irrtum erkannte. Er hatte nicht vor, sich still zu fügen.
Ich hätte ihn stoppen können. Es wäre in meinem Interesse gewesen, es zu tun. Doch ich tat es nicht. Und noch heute bin ich mir sicher, dass er auf meine Passivität gesetzt hatte. Dass er meine Charakterzüge im Voraus gegeneinander abgewogen hatte. Schliesslich gehört es zu meinen Prinzipien, niemals ohne Knall abzutreten.
Er kreuzte seine Finger. Die Geste war weder für Polizei- noch Reporteraugen bestimmt.
Die Kamera oberhalb der Tür nahm das Signal stumm entgegen. Doch in den Tiefen des Grossrechners zuckte etwas. Die Bruchstücke eines Titanen.
Die Lichter flackerten, als die Sicherheitsautomaten erwachten.

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