Ach, wäre ich doch Papst! – Eine Kindheitserinnerung

rotkehlchen

Mitglied
„Na, Kleiner, was willst du denn mal werden?“
„Papst!!!“
Das runde Gesicht der breitbusigen Metzgersfrau erstrahlte, und ein großes Stück Fleischwurst senkte sich herab . . .

*
Ich lese gerade den Bericht über einen abgedankten Papst, der offenbar Schwierigkeiten im Umgang mit der Wahrheit hat, und im Tiefseegraben meiner Erinnerung blitzt eine Familienanekdote auf, die heutzutage vermutlich nicht einmal als Satire durchgehen würde.
Es geschah vor langer Zeit, als die Kirche noch mitten im Dorf stand und meilenweit vom nächsten Missbrauchsskandal entfernt;
als der Römische Papst nicht nur in Glaubensangelegenheiten unfehlbar war, sondern auch sonst ein unbescholtener Mann, zumindest für´s Kirchenvolk;
als Pfarrer von der Kanzel herab Wahlempfehlungen für eine bestimmte Partei gaben und das katholische Wahlvolk dementsprechend wählte;
als die Christen noch nicht in hellen Haufen aus der Kirche aus-traten, sonder ein-, zum Beispiel zum Hochamt, dem feierlichen Sonntagsgottesdienst, und die Kirche bis auf die letzten Stehplatz füllten.
Zu der Zeit lebte in einer westfälischen Kleinstadt ein sieben- oder achtjähriger Knabe, und dieser Knabe war ich. Er liebte seine Eltern, die versuchten, aus ihm einen rechten Katholiken zu machen (ein Versuch, der als gescheitert angesehen werden kann). Noch mehr aber liebte er seine Großmutter, eine fromme Frau mit dem Geruch nach Mottenkugeln und Kernseife. Noch heute ist ihm Kernseife ein Sinnbild unbeschwerten Gottesglaubens, noch heute liegt ihm, dem jetzt „alten Knaben“, ihr „liebes Gottche“ im Ohr, an das sie, fern aller intellektueller Rabulistik, fest glaubte. Ihr Glaube war rein und klar, ohne Berechnung, Hintergedanken und Eigennutz; er war ein Spiegel ihrer Seele, deren höchster Wunsch es war, „dereinst“ wieder mit ihrem früh verstorbenen Mann vereint zu sein.
Ich erinnere mich noch genau, wie ihre Augen strahlten, wenn ich ihr das Ave Maria aufsagte oder das Vaterunser in einer Geschwindigkeit herunterratterte, die den gewieftesten Diakon neidisch gemacht hätte. Ihr Entzücken war grenzenlos, wenn ich mit glockenreiner Stimme „Der Wandrer ist der Müll´rin Lust“ und andere populäre Volkslieder sang. Ja, Humor besaß sie, die Großmutter; der ging soweit, mir Achtjährigen schlüpfrige Witze zu erzählen. Nie ist über ihre Lippen ein Verbot gekommen, nie, soweit ich mich erinnern kann, das Wort Sünde; nie war sie mir böse, was ich auch immer anstellte. Bis auf einmal, muss ich zu meiner Schande gestehen, als ich ihr mit einer Stecknadel in den Hintern stach. Doch ihr Ärger war geringer als meine Betroffenheit; bald lachte sie wieder und spendierte mir, da ich wohl unglücklich aussah, ein Eis.
Ist es da ein Wunder, dass mir der Papst in Rom, der Hüter ihres unbeschwerten Glaubens und heiteren Lebensart, wie eine Lichtgestalt vorkam? Und außerdem . . .
Vom Papst wurde – und nicht nur in unserer Familie – viel geredet; sein Wort, „ex kathedra“ besprochen, galt etwas. Sein verbaler Arm reichte bis in das Elterliche Schlafzimmer via „Katholischer Moraltheologie“, ein unscheinbar grünes Büchlein, in dem unter anderem zu lesen stand, dass Sex, sollte er Spaß machen, Sünde sei. (Leider waren die interessantesten Stellen in Latein gefasst – übrigens der Grund, warum ich später das Große Latinum erwarb). Wie mächtig musste dieser Mann sein, dass sich meine Mutter von ihm sagen ließ, welche Partei sie zu wählen hatte, meine Mutter, die sich doch sonst von niemandem etwas sagen ließ, noch nicht einmal von ihrem Mann? Wie mächtig musste dieser Papst sein, der vom fernen Rom aus meinen Vater, der ein notorischer Langschläfer war, aus dem Bett scheuchte, weil in fünf Minuten die letzte Messe begann?
Wenn eines nicht unterschätzt werden darf, dann sind das frühkindliche Machtfantasien. Ihre Verlockungen sind groß, wie bei Erwachsenen, wenn auch die Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung gering sind und das Ausmaß ihrer Wünsche überschaubar. Bald stellte ich mir vor, wie ich meinem jüngeren Bruder befahl, die Kohlen aus dem Keller zu holen; wie ich meiner Mutter vorschrieb, statt Margarine Butter aufs Brot zu schmieren, wie ich meinen Vater anwies, mein Taschengeld zu erhöhen.
Eines Tages ging ich mit der Großmutter einkaufen. Wir betraten einen Metzgerladen; die Großmutter, die ein „ordentliches Stück Fleisch“ liebte und es durchsetzte, dass mir meine Mutter Leberwurst statt Pflaumenmus auf´s Pausenbrot schmierte (ihre Begründung: „Von Marmelade steht kein Pimmel gerade!“), ließ sich einige saftige Stücke vorlegen, während ich lüstern die Aufschnitttheke beäugte. Wieder stiegen Machtfantasien auf; ach, dachte ich, der immer Hungrige, bekümmert, wäre ich doch Papst!
In diesem Moment beugte sich die „Fleischersche“, wie sie die Großmutter nannte, über die Theke und fragte: S.o.

Höre ich Gelächter?
Ich bin mir nicht sicher . . . Es ist schon so lange her . . . Ja, doch, ich höre es, denn wir waren nicht die einzigen Kunden. Allerdings erinnere ich nicht nicht mehr, ob es heiteres, zustimmendes Lachen war, oder doch eher skeptisch verhaltenes, etwa nach dem Motto: Sieh an, dieser Schlingel!
Die Großmutter jedenfalls war über die Maßen begeistert. Noch im Laden herzte und küsste sie mich und ließ noch eine ganze Fleischwurst zusätzlich einpacken,
 



 
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