Ich schloss die Haustür leise hinter mir. Mama mochte es nicht, wenn man sie zufallen ließ. Kaum war ich im Flur, kam mir schon Milky, unser kleiner Kater, entgegen, strich mir um die Beine und drückte seinen Kopf dagegen. Ich beugte mich zu ihm hinunter und streichelte sein Fell. Es war fast komplett schwarz, nur um das Mäulchen herum war es weiß, so wie ein kleines Milchbärtchen. Deshalb hatten wir ihn auch Milky getauft, als wir ihn vor drei Jahren bekommen hatten.
Mit ihm auf den Fersen lief ich den schmalen Flur entlang, die Treppe nach oben in mein Zimmer. Als ich an der Küche, in der ich Kiki mit Mama reden hören konnte, vorbeikam, rief ich laut: „Hallo, ich bin da! Ich bring‘ nur meine Tasche nach oben, dann komm‘ ich.“
„Ok, Schatz. Ich wärm‘ dir dann schon einmal dein Essen auf, ja?“, kam die Antwort. Kiki nuschelte irgendeine Begrüßung vor sich hin, die ich nicht genau verstand. Sie war dreizehn, gerade einmal dreieinhalb Jahre jünger als ich, und machte gerade eine „ziemlich schwere Phase“ durch, wie Mama immer sagte, wenn Kiki wieder zickig geworden war. Manchmal sprang sie wütend vom Tisch auf, stürmte in ihr Zimmer und schlug die Tür krachend zu, nur weil es mal nicht nach ihrem Willen ging. So etwas hatte und würde ich mir nie erlauben...
Ich ließ meine Schultasche neben meinen Schreibtisch fallen und verließ mein Zimmer wieder. Kurz ging ich noch ins Badezimmer und wusch mir die Hände.
„So, Schatz, dein Essen ist jetzt warm. Willst du was trinken? Wir haben noch Wasser hier und Apfelschorle...“
„Nein, danke.“ Ich lächelte Mama an.
Sie lächelte strahlend zurück. Kleine Falten bildeten sich um ihre Augen- und Mundwinkel. Eine Frau, die oft in ihrem Leben gelächelt hatte...
„Ich hoffe, es schmeckt dir. Ich weiß, es ist noch nicht so lange her, dass wir das hatten, aber ich hatte heute einfach keine Zeit, mir große Gedanken zu machen“, meinte Mama und ich nickte lächelnd.
„Das macht doch nichts. Ist trotzdem lecker!“
Eigentlich mochte ich es nicht. Konnte dieses Essen nicht ausstehen. Rotkohl mit irgend so einer Soße und durchwachsenem Fleisch. Aber es schmeckte Mama... und Papa... und Kiki. Also schmeckte es mir auch. „War heute irgendwas Besonderes in der Schule?“, fragte Mama. Kiki verdrehte die Augen. Sie hasste es, solche Fragen zu beantworten. Sowieso redete sie nur noch selten mit unseren Eltern. Es wunderte mich, dass sie an diesem Nachmittag mit Mama und mir am Tisch sitzen blieb und sich nicht einfach direkt in ihr Zimmer verzog.
„Nö, eigentlich nicht. Wir schreiben morgen ja in Deutsch den Aufsatz und haben dann heute nur noch einmal die Grundlagen wiederholt. Und in den anderen Fächern gab es auch nichts Neues.“
„Naja, jetzt ist ja auch schon bald Wochenende. Steht da bei euch beiden irgendetwas an?“ Zuerst sah sie Kiki an, danach mich.
Mama gehörte zu der Art Mütter, die sich für alles interessierten, was ihre Kinder taten und immer wieder und wieder nachfragten. Es war nervenraubend, Kiki machte es verrückt, aber ich gab immer brav Auskunft. Wenn es sie doch glücklich machte...
„Wir wollten am Samstag zu Lea gehen und da übernachten. So ein typischer Mädchenabend halt...“ Ich log meine Mutter an, ohne mit der Wimper zu zucken. Übungssache... Es gehörte eben dazu, wenn man eine brave Tochter und gleichzeitig ein ausgeprägtes Partygirl sein wollte...musste.
„Sind auch Jungs dabei oder nur ihr Mädels?“, fragte Mama und ihre Achtung!-Falte trat auf ihre Stirn, wie immer, wenn sie Bedenken hatte. Was Jungs und Übernachten anging, war sie ziemlich verklemmt. Sie hatte einfach immer Horrorvorstellungen von einer Schwangerschaft als Teenager, wegen unzureichender Verhütung und sie sah es dann als ihre Mutterpflicht an, am besten gleich die Möglichkeit, dass ich mit einem Jungen schlafen könnte aus der Welt zu schaffen...
„Nein. Nur Lea, Laura, Aylin und ich. Leas Eltern möchten gar nicht so viele Leute zuhause haben...“
„Ja, das kann ich verstehen. Das wollte ich auch nicht... Naja, das ist ja dann schön.“
Die Achtung!-Falte verschwand und sie lächelte ihr zufriedenes Lachen. „Und bei dir Kiki?“
„Hmm... Ja, wir wollten vielleicht Samstagnacht ein bisschen um die Häuser ziehen...“ Uninteressiert strich sie sich durch die gefärbten Haare und machte eine Kaugummiblase. Kindisch, irgendwie. Wie sehr erinnerte sie mich doch an diese Girlys aus dem Fernsehen. Sie müsste nur noch ein Cheerleader-Kostüm anhaben... Aber davon war der kurze Rock, den sie an diesem Tag trug auch nicht mehr weit von entfernt.
„Um die Häuser ziehen... ?“, fragte Mama und legte die Stirn in tiefe Furchen.
„Ja, um die Häuser ziehen, genau. Einfach ein bisschen raus gehen, Spaß haben, verstehst’e?“ Kiki klang bockig und ihr Mund war zu einem hässlichen Grinsen verzogen.
„Glaubst du nicht, du bist noch ein bisschen zu jung um mitten in der Nacht, im Dunkeln irgendwo draußen herum zu laufen?“
„Boah, ich bin dreizehn, Mama! Kat is‘ auch nicht viel älter als ich!“ Sie nannte mich immer Kat, damit es „cooler“ klang.
„Ja, aber ein Mädchenabend zuhause ist doch etwas ganz anderes, als wie Penner in der Stadt herumzulungern. Weißt du, was da alles passieren kann... nachts?“, betonte sie, als würde es alles noch viel schlimmer machen. Es war gut, dass sie nicht wusste, was immer passierte, wenn ich mit den anderen einen „Mädchenabend“ machte... Es war besser so. Besser
für sie, wie ich meinte. Diese andere Seite von mir sollte sie nicht sehen. Vielleicht würde es ihr sogar Angst machen, dass ich mich so veränderte... Machte es mir Angst?
Ja...
Manchmal hatte ich Angst, die Kontrolle zu verlieren.
Was würde dann passieren?
„Man ey, jetzt sei nicht so dramatisch!“ Kiki wurde lauter. Zeit für mich, zu gehen. Ich stand auf, stellte meinen leeren Teller zu dem anderen Geschirr in der Spüle und ging dann zur Tür.
„Ich bin dann mal oben“, meinte ich. Mama sah kurz zu mir auf, lächelte kurz und nickte. Dann sah sie wieder zu Kiki ihr gegenüber und das Lächeln verschwand.
„Also, das werden wir noch mit deinem Vater besprechen. Der hat da bestimmt auch noch ein Wörtchen mitzureden“, hörte ich Mama sagen.
Ich war noch nicht ganz die Treppe hoch, da hörte ich wie Kiki von ihrem Stuhl aufsprang, gegen den Tisch trat. „Boah, ja, ok!“, schrie sie und stürmte aus der Küche an mir vorbei.
„Mama ist so ätzend, ey!“, zischte sie mir zu und verdrehte die Augen. „Voll spießig!“
Ich wollte schon die Tür zu meinem Zimmer zumachen, als Kiki mich noch einmal aufhielt.
„Hey, für Samstag, könnt‘ ich da deine roten Stiefel haben? Die mit dem Absatz da, die passen mir nämlich.“ Sie sah mich an. Nicht fragend. Ungeduldig.
Es wunderte mich nicht, dass sie wusste, dass ihr meine Schuhe passten... Nein, darfst du nicht. Am besten solltest du daheim bleiben, so wie es Mama und Papa sagen, dachte die brave Tochter.
„Ja, klar. Ich zieh‘ sowieso andere an“, antwortete die coole große Schwester.
Ohne sich zu bedanken ging sie in ihr Zimmer, das rechts von der Treppe und gegenüber von meinem lag. Verschwörerisch wackelte sie mit den Augenbrauen und knallte dann lautstark ihre Tür zu. Provokation. Natürlich. Bloß keine Gelegenheit verpassen, Mama eins reinzuwürgen...
In meinem Zimmer schaltete ich meine Musikanlage an. Radio. Leise. Meine Eltern konnten laute Musik nicht besonders gut leiden und hätten sich beschwert, wenn sie ins Zimmer gekommen wären.
Die Melodie summend, setzte ich mich an den Schreibtisch und packte meine Hausaufgaben aus.
Ich war noch nicht ganz fertig, als es an meiner Tür klopfte.
„Ja?“
Mama streckte erst ihren Kopf ins Zimmer und trat dann ganz ein. Sie schloss die Tür hinter sich, was sie sonst sehr selten tat. Müde sah sie aus. Erschöpft. Kikis Verhalten beschäftigte sie.
„Das war ja wieder ein Aufstand eben, was?“, meinte ich und grinste, ohne von meinem Heft aufzusehen.
„Ja, da hast du Recht“, seufzte sie und ließ sich auf meine Bettkante fallen. Müde.
„Ich frag‘ mich wirklich, was mit ihr los ist im Moment. Haben wir irgendetwas gemacht, dass sie so wütend auf uns ist?“
Ich sah auf und lächelte aufmunternd.
„Nein, ganz sicher nicht. An euch liegt’s nicht. Pubertät. Das sagst du doch selber immer...“
Mama nickte und lächelte auch wieder. Ich konnte die Fältchen um Augen und Mund genau sehen.
„Ja, wahrscheinlich. Aber bei ihr ist es so extrem. Das sind wir gar nicht gewohnt! Du warst nicht so schlimm. Wenn das nicht noch kommt...“
„Oh nein!“ Heftig schüttelte ich den Kopf. „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
„Wollen wir es hoffen“, murmelte sie und sah abwesend aus dem kleinen Fenster in meinem Zimmer. Von dort aus sah man immer nur die Hauswand eines anderen Gebäudes und dazwischen eine kleine dreckige Straße, in der die Müllcontainer standen. Keine tolle Aussicht. „Das Zimmer mit Dreckblick“ sagte Ed immer.
Mama wandte sich wieder zu mir und lächelte, als hätte sie einen Witz gemacht, den ich überhört hatte.
„Wie geht es Ed eigentlich?“
„Ihm geht’s prima“, antwortete ich.
„Er hat dich heute wieder nach Hause gebracht, stimmt’s? Da hätte er doch gleich zum Essen bleiben können!“
„Mama, er muss dafür doch nur zwei Häuser weitergehen!“, erinnerte ich sie und musste grinsen, weil sie es schon wieder vergessen hatte.
Dann meinte ich: „Ich gehe heute vielleicht noch kurz rüber. Mal gucken, wenn ich heute nicht noch was für die Schule machen muss.“
„Ja, das kannst du ruhig machen! Grüß dann bitte seine Mutter von mir, ja?“ Mama stand von meinem Bett auf, streckte sich, als hätte sie schon Stunden dort gesessen und ging dann zur Tür.
„Ja, klar, mach ich!“, rief ich ihr nach, als sie schon die Tür hinter sich schloss.
Stille. Es war immer so still in meinem Zimmer. Ich nahm die Musik im Radio schon gar nicht mehr wahr. Ich erledigte meine Aufgaben ohne wirklich darüber nachdenken zu müssen. Es war alles so leicht... Belanglos... Als ich fertig war, räumte ich alle Bücher, die ich für den nächsten Tag brauchte, auf einen Stapel, daneben legte ich die, die ich aus meiner Tasche nahm, da ich diese Fächer freitags nicht hatte. Zwei Stapel. Akkurat. Perfekt. Dann räumte ich meine Schultasche ein und stellte die anderen Bücher ordentlich in das Regal über meinem Schreibtisch. Erst die dicken Bücher, dann die Arbeitshefte und anschließend die Hefte und Schnellhefter. Wie ein Roboter kam ich mir vor.
Als ich auch das fertig hatte, setzte ich mich in meinem Stuhl zurück, starrte auf das Regal, starrte aus dem Fenster.
Dreckige Hauswand, grauer Himmel, dickbäuchige Regenwolken.
Hoffentlich regnete es bald. Ich wusste nicht, warum ich wollte, dass es regnete.
Langsam stand ich auf, wanderte durch mein Zimmer.
Klein war es. Eng. Ich kam mir vor, wie in einer Gefängniszelle. Fühlte mich eingesperrt, hatte Angst, keine Luft mehr zu bekommen.
Ich strich an meinen Regalen vorbei. Schulbücher, noch aus der achten Klasse. Ich hatte sie alle in meinem Zimmer aufgehoben, um Stoff nachlesen zu können, falls ich einmal etwas vergessen hatte. Mama fand das sehr vorbildlich. Mein Schreibtisch. Das Bett. Ein Kleiderschrank, aus ausgeblichenem Holz. Dann ein weiteres, kleines Tischchen mit meinem Computer darauf. Ich strich mit den Fingern über die Tastatur.
Wenn ich alleine war – ganz alleine in meinem Zimmer und niemand da war, für den ich „jemand sein konnte“, wusste ich nichts mit mir anzufangen... Ich kam mir vor, wie in einem Standby-Modus. Wusste einfach nicht, was ich wollte. Was ich mit mir anfangen sollte. Mir war nicht klar, was die wirkliche Katie Huberts machen wollte... Das war der Grund, weshalb ich fast jeden Nachmittag unterwegs war. Mit Freundinnen, mit meinen Eltern, mit Ed, sogar mit Kiki und ihren Freundinnen... Nur nicht alleine sein. Es tat mir nicht gut, alleine zu sein.
Ich stellte mich ans Fenster, starrte in die dreckige Straße unterhalb der Fensterbank. Öffnete das Fenster weit und hing mich etwas nach draußen. Ich konnte die Müllcontainer sehen. Die dreckige Hauswand. Ein Hund lief vorbei, schnüffelte an einem umgekippten Müllsack und wühlte mit der Nase im Abfall. Es war der Hund von Familie Weinhard. Sie wohnten am Ende der Straße. Ihr Haus grenzte direkt an den Marktplatz. Keine Kinder. Ein Hund. Chico... Sie hatten noch nie ein Wort mit mir geredet.
Ich beobachtete. Studierte. Wusste Bescheid.
„Chico!“, rief ich nach unten, pfiff durch die Zähne. „Chicochen!“
Der braun-graue Leonberger hob den Kopf, sah mich aus treuen Augen an, bellte und wedelte mit dem Schwanz. Dann schnappte er sich irgendetwas aus dem Müllsack und lief triumphierend damit weg. Ich stieß mich von der Fensterbank weg, schloss das Fenster laut und lief aus dem Zimmer. Die Treppe runter in den Flur.
Ich musste etwas tun. Irgendwas. Kein Standby...
Ich schnappte mir meine Jacke vom Haken und warf sie mir über, zog meine Schuhe an. Dann ging ich noch kurz in die Küche. Oft fragte ich mich, was Mama so lange in der Küche zu tun hatte...
„Ich bin dann mal bei Ed, bin so gegen halb acht wieder da, ja?“
Mama sah von einem Heft auf. Sie saß am Tisch und kaute auf einem Kugelschreiber herum.
„Ja, ist ok, Schatz. Viel Spaß!“
Kaum war ich die Tür raus, wehte mir kalter Wind entgegen. Es roch nach Laub und nassem Gras. Kein Mensch war auf der Straße unterwegs. Was selten war, wenn man bedachte, dass wir fast am Marktplatz wohnten.
Ich lief den Bürgersteig entlang. Schnell. Hatte es unglaublich eilig zu Ed zu kommen. Doch als ich schließlich vor der Ladentür des Friseursalons seiner Mutter stand, zögerte ich, sie aufzudrücken. Sie hatte mich schon gesehen und hätte sie mich nicht freundlich herein gewunken, wäre ich vielleicht umgedreht.
Frau Wesselow schnitt gerade einem Mann die Haare, den ich schon oft hier gesehen hatte. Er war groß, breite Schultern, große Hände, vor denen ich mich fürchtete.
„Katie! Es ist schön, dich zu sehen. Ed ist oben, du kannst direkt hoch gehen!“
„Guten Tag, Beate.“ Am Anfang, als Ed und ich uns noch nicht so lange kannten und ich dann bei ihm zu Besuch war, hatte ich immer Probleme gehabt, den Nachnamen auszusprechen. Ich war sehr dankbar, als mir seine Mutter sofort das Duzen anbot...
Ich ging durch den Salon, an den Waschbecken und Spiegeln vorbei. Ich warf einen flüchtigen Blick hinein. Meine Haare waren vom Wind zerzaust. Dann kam ich an den kleinen Perlenvorhang und schob die Seile zur Seite. Es raschelte.
„Ach, bevor ich es vergesse, ich soll dich noch von meiner Mutter grüßen!“, sagte ich.
Beate Wesselow lächelte strahlend und ihre Augen strahlten mit. Die Farbe erinnerte mich an Frühlingsnachmittage...
Sie war immer so glücklich. Manchmal beneidete ich sie...
„Oh, da kannst du ihr aber auch ganz liebe zurückbestellen!“
„Mach ich!“, rief ich und ging dann die Treppe nach oben in die eigentlich Wohnung. Es war alles sehr eng. Es gab nur einen schmalen Flur, an den direkt alle Zimmer grenzten. Die Küche, drei kleine Schlafzimmer und das Bad.
Ich ging den Flur ganz durch und blieb dann vor der Tür links stehen. Musik drang aus dem Zimmer. Laut.
Wieder zögerte ich. Wusste nicht, warum...
Ich betrachtete die Tür. Ed hatte sie mit vielen verschiedenen Türschildern beklebt. Immer wenn ich sie las, musste ich grinsen:
Widersprecht nie einem Teenager!
...wartet nur, dann tut er es von selbst.
Dann war da eines, das ihm seine Mutter einmal geschenkt hatte, als sie es aufgegeben hatte, sein Zimmer aufzuräumen:
Betreten der Baustelle auf eigene Gefahr! Eltern haften für ihre Kinder!
Fast genau mittig klebten meine zwei Lieblingsschilder. Einmal, die „Öffnungszeiten“:
Unsere Öffnungszeiten:
Meistens öffnen wir um 9 oder 10, manchmal auch schon um 6 Uhr, dann wieder mal erst um 14 oder 15 Uhr.
Geschlossen wird bei uns ungefähr um 19 oder 20 Uhr, manchmal schon um 16 oder 17 Uhr, wenn wir keine Lust mehr haben; dann aber wieder erst um Mitternacht.
Manche Tage sind wir gar nicht hier, in letzter Zeit aber fast immer. Versuchen Sie es mal!
Daneben hing das „Klopf-Schild“. Darauf war oben ein Kreis gezeichnet, in dem stand „Hier Kopf gegenschlagen“. Darunter stand, was zu beachten war:
1. Vor der Tür in Position gehen. Entfernung sollte nicht mehr als 50cm betragen!
2. Instruktionen im Kreis befolgen!
3. Wiederholen, bis die Tür geöffnet wird oder Bewusstlosigkeit
eintritt!
4. Bei weiteren Besuchen wiederholen, jedoch nicht häufiger als
viermal täglich!
5. Wenn Kreis sich rot färbt: Arzt aufsuchen!
Ed hatte manchmal eine Vorliebe für schwarzen Humor.
Zögerlich hob ich die Hand und klopfte kräftig an. Gerade als ich ein zweites Mal klopfen wollte, wurde die Musik leiser gedreht und ich konnte von drinnen eine Antwort hören und trat ein.
„Hey, Ed!“
Er lag auf seinem Sofa unter dem Fenster, seine Anlage stand auf einer Art Kommode daneben. Nur ganz leise konnte ich noch die harten Klänge der Musik hören. Ed stand auf Metall und Rock. Ich glaubte Bullet for my Valentine zu erkennen. Ich konnte nicht sagen, ob es mir gefiel, doch wenn er mich fragte, war ich begeistert...
„Katie!“ Seine Miene hellte sich auf, als er mich reinkommen sah.
Er setzte sich hin und grinste. Mein Unwohlsein verpuffte wie eine Seifenblase an einem Gartenzaun, als ich in sein freundliches Gesicht sah. „Da hast du es ja doch noch zu mir geschafft!“
„Ja, ich hab‘ versucht, die Öffnungszeiten einzuhalten!“
Er sah mich fragend an.
„Na, dein Türschild...“
„Ach so! Ja!“ Ed lachte.
Ich lief zu seinem Bett und ließ mich darauf fallen. Eigentlich ging ich nur zwei Schritte. Sein Zimmer war klein und eng. Darin stand nur das Sofa, die Kommode mit der Anlage, das Bett mit einer kleinen Ablage daran und neben der Tür hing noch ein kleines Regal. Einen Schreibtisch besaß er nicht. Machte die Hausaufgaben, wenn, dann in der Küche, wo nicht wirklich mehr Platz war. Sein Zimmer hatte diesen typischen Jungeneinfluss. Überall lag Kram herum. Zeitungen, Blätter, Kleider, CDs...
Ich rutschte bis ganz nach oben ans Kopfende und lehnte mich an die Wand, ließ die Beine an der Seite runter baumeln. Neben dem Bett war ein kleines Holzbrett befestigt, auf dem nur eine Lampe aus glänzendem Metall und ein Wecker standen. An die Lampe war ein Bild geklemmt. Ein Foto.
Ed und ich. Im Urlaub.
Wann war das gewesen?
Vor zwei Jahren?
So lange schien es mir schon entfernt, diese Erinnerung...
Meine Eltern, Kiki und ich, wir hatten Ed mit in unseren Spanienurlaub genommen. Seine Familie konnte sich einen Urlaub nur sehr selten leisten. Wir waren in einer Bar gewesen, die Tische standen draußen auf der Terrasse, waren etwas zur Seite geschoben worden, damit in der Mitte eine kleine Tanzfläche frei war. Laute Musik spielte. Unbekannte Rhythmen, Tanzrhythmen...
Überall hingen Girlanden.
Und Lampions, die über unseren Köpfen leuchteten und wie bunte Sterne am Nachthimmel aussahen.
Blumen. Ein unglaublicher Duft von tausenden spanischen Blumen.
So viele Farben.
Heiße Abendluft.
Viele Menschen.
Lachen.
Nur verschwommen konnte ich mich an das erinnern, was um uns herum passiert war.
Das Foto zeigte Ed und mich, wie wir auf der Tanzfläche waren. Als einzige, doch es hatte uns nichts ausgemacht.
Ich hielt seine Hände und hatte einen Arm nach oben gestreckt, so als wollte ich nach dem Himmel greifen.
Ich hatte meine Haare zu einem Zopf gebunden, doch einige Strähnen hatten sich gelöst, so schnell hatten wir uns bewegt.
Ich sah Ed an und er mich.
Unsere Wangen waren gerötet. Mir war unglaublich heiß gewesen.
Wir lachten.
Wer hatte das Foto gemacht?
Ich wusste es nicht mehr...
Ed liebte dieses Bild.
Er meinte immer, dass es nicht einfach nur eines der vielen Fotos wäre, die wir gemacht hatten. Dass wir nicht einfach nur zusammen auf einem Bild waren.
„Auf diesem Foto sind wir gemeinsam!“, sagte er immer.
Zusammen...
Gemeinsam...
Ich hatte nie verstanden, wo da ein Unterschied bestand.
Ed hatte mich die ganze Zeit über betrachtet, während ich mich an den Urlaub erinnerte. Als ich ihn dann ansah, grinste er breit. Ich dachte, er wollte mich darauf ansprechen, doch er schwieg.
„Wir wollen am Samstag ins Downtown gehen. Kommst du mit?“, fragte ich, um die Stille zu brechen. Obwohl die Stille zwischen uns irgendwie nie störend war. Wir wussten einfach, wenn es mal nichts zu reden gab.
„Wer ist denn alles dabei?“
„Hmm... Laura, Mandy, Tina, Lea und ich. T. ist dabei und seine Kumpels...“
„Ach so. Nee, ich glaub‘, Samstag haben wir Besuch hier. Mama macht extra den Salon zu, glaube ich...“
„Ja, ok. Macht ja nix. Ist halt schade...“, meinte ich und lächelte ihn an.
Dieser Nachmittag verging so, wie jeder andere. Konnten Nachmittage überhaupt anders vergehen? Tat man nicht doch irgendwie immer das gleiche? Konnte man eine Routine im Leben bekommen?
Ja, wahrscheinlich...
Wir redeten über alles mögliche.
Alberten herum.
Schalteten den Computer an und surften im Internet.
Dazwischen gingen wir irgendwann in die Küche und tranken Cola.
Ed trank Cola für sein Leben gern.
Ich wusste nicht, was er an dem Zeug fand. Was war daran denn besonders? Wenn ich es trank, hatte ich anschließend immer noch mehr Durst als vorher.
Sagen tat ich es ihm aber nicht...
Warum?
Er war doch mein bester Freund.
War er das?
Konnten Freundschaften überhaupt existieren, wenn keine Ehrlichkeit bestand?
Nun, er war ehrlich zu mir.
Aber ich nicht zu ihm...
Sogar Ed, sogar meinem liebsten Ed, spielte ich nur eine Rolle vor. Und ich konnte nicht einmal sagen, was für eine.
Das war das Schlimmste...
Manchmal fragte ich mich Dinge, bei denen ich anschließend gar nicht mehr sagen konnte, wie ich auf die Frage kam, was all das denn für eine Bedeutung hatte – für mich. Wer war ich denn?
Zum Beispiel fragte ich mich an diesem Nachmittag, ganz plötzlich, als ich neben Ed am Computer seines Vaters saß und er mir irgendwelche neuen Dinge auf seiner Website zeigte... ich fragte mich, ob er mich kannte. Also, richtig kannte. Oder einfach nur die Rolle, in der ich steckte.
(Feststeckte?) Rolle, Rolle, Rolle...
Ich verzweifelte manchmal an meinen eigenen Gedanken. Denken war nicht gut...
„Siehst du, ich hab‘ hier mein Gästebuch noch einmal überarbeitet. Der Hintergrund ist doch cool, oder?“, fragte Ed mich begeistert.
Ich nickte. „Ja, der ist echt cool!“ Meine Stimme klang begeistert, mitgerissen.
Ed scrollte die Site runter und überflog neue Einträge. Bei einem blieb er hängen:
Eintrag von CoOlstEr (Heute, 01:47):
VoL dIIE sChEiZZ hoOmPagE!!
Er schimpfte: „Boah, mir gehen diese Idioten auf die Nerven! Absolut NULL Inhalt und dann noch so eine Rechtschreibung!“
„Die sollten die Grundschule noch einmal wiederholen!“, scherzte ich. Ed klickte auf den Eintrag und drückte entnervt Diesen Eintrag löschen.
Wusste Ed vielleicht, wer ich war?
Besser noch, als ich?
Ich glaubte nicht...
Das wäre zu viel, als ich ihm zumutete, selbst für meinen besten Freund. Konnten Menschen dich besser kennen, als du dich selber?
Fragen, Fragen, Fragen...
„Ich hab‘ auch meine Seite mit meinen Freunden überarbeitet. Weißt du das schon?“
Ich konnte den Stolz in seinen Augen funkeln sehen. Ich schüttelte den Kopf.
Es dauerte nur ein paar Mausklicks und eine Seite öffnete sich. Der Hintergrund war schwarz und in einer hellblauen Schrift, die mich an den Himmel am Meer erinnerte, stand ganz oben:
SEHR WICHTIG FÜR MICH,...
Als allererstes kam ein Bild von mir. Es wunderte mich nicht, dass er das Bild genommen hatte, das auch an seinem Bett hing. Gemeinsam, huschte mir durch den Kopf, immer wieder.
Gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam...
Daneben stand:
... weil sie einfach alles, mehr als eine Freundin, für mich ist!
Mein Magen zog sich etwas zusammen, ich wollte kurz die Augen schließen. Die Gedanken von vorhin kamen mir wieder in den Sinn. Eigentlich belog ich ihn doch nur...
Ich lächelte Ed breit an und umarmte ihn.
„Das ist so lieb von dir, Ed!“
Wie entstanden eigentlich Freundschaften?
Musste man sich nur einfach gut verstehen, um als Freunde durchzugehen, sich treffen nach der Schule, beieinander übernachten... Oder musste da noch etwas mehr sein?
Immer wieder hatte ich nur solche Überlegungsfetzen. Keine richtigen Antworten, nur halbe oder ungenaue Schätzungen... Immer wieder kratzte ich nur die Oberfläche von all den Dingen an.
Es war kurz vor halb acht, als ich schließlich mit Ed hinunter in den Friseursalon seiner Mutter, der schon geschlossen hatte, ging und an den vielen Friseurstühlen und Waschbecken vorbei zur Tür lief.
Ed hielt sie mir auf und grinste keck.
„Oho, ganz der Gentleman heute, was?“, rief Beate, die gerade den Laden durch kehrte, und lachte laut.
Ihr Sohn sah sich zu ihr um und nickte.
„Klar, einmal am Tag muss sein!“
Ich lachte und ging nach draußen.
Es war kalt. Dunkel.
Der Himmel war schwarz und von Wolken verhangen. Kein einziger Stern war zu sehen und auch der Mond, der zu dieser Jahreszeit schon immer um diese Uhrzeit zu sehen war, blieb versteckt. Von etwas weiter weg konnte man Gewittergrollen hören. Ich wartete, bis es verklungen war, dann drehte ich mich zu Ed hin.
„Na dann, bis morgen würd' ich sagen!“
„Ja“, sagte er und umarmte mich, „Komm gut nach Hause!“ Er grinste. „Oh ja, ich werd’s versuchen! Ciao!“
„Bis morgen!“
Ich wandte mich ab und ging.
Mit ihm auf den Fersen lief ich den schmalen Flur entlang, die Treppe nach oben in mein Zimmer. Als ich an der Küche, in der ich Kiki mit Mama reden hören konnte, vorbeikam, rief ich laut: „Hallo, ich bin da! Ich bring‘ nur meine Tasche nach oben, dann komm‘ ich.“
„Ok, Schatz. Ich wärm‘ dir dann schon einmal dein Essen auf, ja?“, kam die Antwort. Kiki nuschelte irgendeine Begrüßung vor sich hin, die ich nicht genau verstand. Sie war dreizehn, gerade einmal dreieinhalb Jahre jünger als ich, und machte gerade eine „ziemlich schwere Phase“ durch, wie Mama immer sagte, wenn Kiki wieder zickig geworden war. Manchmal sprang sie wütend vom Tisch auf, stürmte in ihr Zimmer und schlug die Tür krachend zu, nur weil es mal nicht nach ihrem Willen ging. So etwas hatte und würde ich mir nie erlauben...
Ich ließ meine Schultasche neben meinen Schreibtisch fallen und verließ mein Zimmer wieder. Kurz ging ich noch ins Badezimmer und wusch mir die Hände.
„So, Schatz, dein Essen ist jetzt warm. Willst du was trinken? Wir haben noch Wasser hier und Apfelschorle...“
„Nein, danke.“ Ich lächelte Mama an.
Sie lächelte strahlend zurück. Kleine Falten bildeten sich um ihre Augen- und Mundwinkel. Eine Frau, die oft in ihrem Leben gelächelt hatte...
„Ich hoffe, es schmeckt dir. Ich weiß, es ist noch nicht so lange her, dass wir das hatten, aber ich hatte heute einfach keine Zeit, mir große Gedanken zu machen“, meinte Mama und ich nickte lächelnd.
„Das macht doch nichts. Ist trotzdem lecker!“
Eigentlich mochte ich es nicht. Konnte dieses Essen nicht ausstehen. Rotkohl mit irgend so einer Soße und durchwachsenem Fleisch. Aber es schmeckte Mama... und Papa... und Kiki. Also schmeckte es mir auch. „War heute irgendwas Besonderes in der Schule?“, fragte Mama. Kiki verdrehte die Augen. Sie hasste es, solche Fragen zu beantworten. Sowieso redete sie nur noch selten mit unseren Eltern. Es wunderte mich, dass sie an diesem Nachmittag mit Mama und mir am Tisch sitzen blieb und sich nicht einfach direkt in ihr Zimmer verzog.
„Nö, eigentlich nicht. Wir schreiben morgen ja in Deutsch den Aufsatz und haben dann heute nur noch einmal die Grundlagen wiederholt. Und in den anderen Fächern gab es auch nichts Neues.“
„Naja, jetzt ist ja auch schon bald Wochenende. Steht da bei euch beiden irgendetwas an?“ Zuerst sah sie Kiki an, danach mich.
Mama gehörte zu der Art Mütter, die sich für alles interessierten, was ihre Kinder taten und immer wieder und wieder nachfragten. Es war nervenraubend, Kiki machte es verrückt, aber ich gab immer brav Auskunft. Wenn es sie doch glücklich machte...
„Wir wollten am Samstag zu Lea gehen und da übernachten. So ein typischer Mädchenabend halt...“ Ich log meine Mutter an, ohne mit der Wimper zu zucken. Übungssache... Es gehörte eben dazu, wenn man eine brave Tochter und gleichzeitig ein ausgeprägtes Partygirl sein wollte...musste.
„Sind auch Jungs dabei oder nur ihr Mädels?“, fragte Mama und ihre Achtung!-Falte trat auf ihre Stirn, wie immer, wenn sie Bedenken hatte. Was Jungs und Übernachten anging, war sie ziemlich verklemmt. Sie hatte einfach immer Horrorvorstellungen von einer Schwangerschaft als Teenager, wegen unzureichender Verhütung und sie sah es dann als ihre Mutterpflicht an, am besten gleich die Möglichkeit, dass ich mit einem Jungen schlafen könnte aus der Welt zu schaffen...
„Nein. Nur Lea, Laura, Aylin und ich. Leas Eltern möchten gar nicht so viele Leute zuhause haben...“
„Ja, das kann ich verstehen. Das wollte ich auch nicht... Naja, das ist ja dann schön.“
Die Achtung!-Falte verschwand und sie lächelte ihr zufriedenes Lachen. „Und bei dir Kiki?“
„Hmm... Ja, wir wollten vielleicht Samstagnacht ein bisschen um die Häuser ziehen...“ Uninteressiert strich sie sich durch die gefärbten Haare und machte eine Kaugummiblase. Kindisch, irgendwie. Wie sehr erinnerte sie mich doch an diese Girlys aus dem Fernsehen. Sie müsste nur noch ein Cheerleader-Kostüm anhaben... Aber davon war der kurze Rock, den sie an diesem Tag trug auch nicht mehr weit von entfernt.
„Um die Häuser ziehen... ?“, fragte Mama und legte die Stirn in tiefe Furchen.
„Ja, um die Häuser ziehen, genau. Einfach ein bisschen raus gehen, Spaß haben, verstehst’e?“ Kiki klang bockig und ihr Mund war zu einem hässlichen Grinsen verzogen.
„Glaubst du nicht, du bist noch ein bisschen zu jung um mitten in der Nacht, im Dunkeln irgendwo draußen herum zu laufen?“
„Boah, ich bin dreizehn, Mama! Kat is‘ auch nicht viel älter als ich!“ Sie nannte mich immer Kat, damit es „cooler“ klang.
„Ja, aber ein Mädchenabend zuhause ist doch etwas ganz anderes, als wie Penner in der Stadt herumzulungern. Weißt du, was da alles passieren kann... nachts?“, betonte sie, als würde es alles noch viel schlimmer machen. Es war gut, dass sie nicht wusste, was immer passierte, wenn ich mit den anderen einen „Mädchenabend“ machte... Es war besser so. Besser
für sie, wie ich meinte. Diese andere Seite von mir sollte sie nicht sehen. Vielleicht würde es ihr sogar Angst machen, dass ich mich so veränderte... Machte es mir Angst?
Ja...
Manchmal hatte ich Angst, die Kontrolle zu verlieren.
Was würde dann passieren?
„Man ey, jetzt sei nicht so dramatisch!“ Kiki wurde lauter. Zeit für mich, zu gehen. Ich stand auf, stellte meinen leeren Teller zu dem anderen Geschirr in der Spüle und ging dann zur Tür.
„Ich bin dann mal oben“, meinte ich. Mama sah kurz zu mir auf, lächelte kurz und nickte. Dann sah sie wieder zu Kiki ihr gegenüber und das Lächeln verschwand.
„Also, das werden wir noch mit deinem Vater besprechen. Der hat da bestimmt auch noch ein Wörtchen mitzureden“, hörte ich Mama sagen.
Ich war noch nicht ganz die Treppe hoch, da hörte ich wie Kiki von ihrem Stuhl aufsprang, gegen den Tisch trat. „Boah, ja, ok!“, schrie sie und stürmte aus der Küche an mir vorbei.
„Mama ist so ätzend, ey!“, zischte sie mir zu und verdrehte die Augen. „Voll spießig!“
Ich wollte schon die Tür zu meinem Zimmer zumachen, als Kiki mich noch einmal aufhielt.
„Hey, für Samstag, könnt‘ ich da deine roten Stiefel haben? Die mit dem Absatz da, die passen mir nämlich.“ Sie sah mich an. Nicht fragend. Ungeduldig.
Es wunderte mich nicht, dass sie wusste, dass ihr meine Schuhe passten... Nein, darfst du nicht. Am besten solltest du daheim bleiben, so wie es Mama und Papa sagen, dachte die brave Tochter.
„Ja, klar. Ich zieh‘ sowieso andere an“, antwortete die coole große Schwester.
Ohne sich zu bedanken ging sie in ihr Zimmer, das rechts von der Treppe und gegenüber von meinem lag. Verschwörerisch wackelte sie mit den Augenbrauen und knallte dann lautstark ihre Tür zu. Provokation. Natürlich. Bloß keine Gelegenheit verpassen, Mama eins reinzuwürgen...
In meinem Zimmer schaltete ich meine Musikanlage an. Radio. Leise. Meine Eltern konnten laute Musik nicht besonders gut leiden und hätten sich beschwert, wenn sie ins Zimmer gekommen wären.
Die Melodie summend, setzte ich mich an den Schreibtisch und packte meine Hausaufgaben aus.
Ich war noch nicht ganz fertig, als es an meiner Tür klopfte.
„Ja?“
Mama streckte erst ihren Kopf ins Zimmer und trat dann ganz ein. Sie schloss die Tür hinter sich, was sie sonst sehr selten tat. Müde sah sie aus. Erschöpft. Kikis Verhalten beschäftigte sie.
„Das war ja wieder ein Aufstand eben, was?“, meinte ich und grinste, ohne von meinem Heft aufzusehen.
„Ja, da hast du Recht“, seufzte sie und ließ sich auf meine Bettkante fallen. Müde.
„Ich frag‘ mich wirklich, was mit ihr los ist im Moment. Haben wir irgendetwas gemacht, dass sie so wütend auf uns ist?“
Ich sah auf und lächelte aufmunternd.
„Nein, ganz sicher nicht. An euch liegt’s nicht. Pubertät. Das sagst du doch selber immer...“
Mama nickte und lächelte auch wieder. Ich konnte die Fältchen um Augen und Mund genau sehen.
„Ja, wahrscheinlich. Aber bei ihr ist es so extrem. Das sind wir gar nicht gewohnt! Du warst nicht so schlimm. Wenn das nicht noch kommt...“
„Oh nein!“ Heftig schüttelte ich den Kopf. „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
„Wollen wir es hoffen“, murmelte sie und sah abwesend aus dem kleinen Fenster in meinem Zimmer. Von dort aus sah man immer nur die Hauswand eines anderen Gebäudes und dazwischen eine kleine dreckige Straße, in der die Müllcontainer standen. Keine tolle Aussicht. „Das Zimmer mit Dreckblick“ sagte Ed immer.
Mama wandte sich wieder zu mir und lächelte, als hätte sie einen Witz gemacht, den ich überhört hatte.
„Wie geht es Ed eigentlich?“
„Ihm geht’s prima“, antwortete ich.
„Er hat dich heute wieder nach Hause gebracht, stimmt’s? Da hätte er doch gleich zum Essen bleiben können!“
„Mama, er muss dafür doch nur zwei Häuser weitergehen!“, erinnerte ich sie und musste grinsen, weil sie es schon wieder vergessen hatte.
Dann meinte ich: „Ich gehe heute vielleicht noch kurz rüber. Mal gucken, wenn ich heute nicht noch was für die Schule machen muss.“
„Ja, das kannst du ruhig machen! Grüß dann bitte seine Mutter von mir, ja?“ Mama stand von meinem Bett auf, streckte sich, als hätte sie schon Stunden dort gesessen und ging dann zur Tür.
„Ja, klar, mach ich!“, rief ich ihr nach, als sie schon die Tür hinter sich schloss.
Stille. Es war immer so still in meinem Zimmer. Ich nahm die Musik im Radio schon gar nicht mehr wahr. Ich erledigte meine Aufgaben ohne wirklich darüber nachdenken zu müssen. Es war alles so leicht... Belanglos... Als ich fertig war, räumte ich alle Bücher, die ich für den nächsten Tag brauchte, auf einen Stapel, daneben legte ich die, die ich aus meiner Tasche nahm, da ich diese Fächer freitags nicht hatte. Zwei Stapel. Akkurat. Perfekt. Dann räumte ich meine Schultasche ein und stellte die anderen Bücher ordentlich in das Regal über meinem Schreibtisch. Erst die dicken Bücher, dann die Arbeitshefte und anschließend die Hefte und Schnellhefter. Wie ein Roboter kam ich mir vor.
Als ich auch das fertig hatte, setzte ich mich in meinem Stuhl zurück, starrte auf das Regal, starrte aus dem Fenster.
Dreckige Hauswand, grauer Himmel, dickbäuchige Regenwolken.
Hoffentlich regnete es bald. Ich wusste nicht, warum ich wollte, dass es regnete.
Langsam stand ich auf, wanderte durch mein Zimmer.
Klein war es. Eng. Ich kam mir vor, wie in einer Gefängniszelle. Fühlte mich eingesperrt, hatte Angst, keine Luft mehr zu bekommen.
Ich strich an meinen Regalen vorbei. Schulbücher, noch aus der achten Klasse. Ich hatte sie alle in meinem Zimmer aufgehoben, um Stoff nachlesen zu können, falls ich einmal etwas vergessen hatte. Mama fand das sehr vorbildlich. Mein Schreibtisch. Das Bett. Ein Kleiderschrank, aus ausgeblichenem Holz. Dann ein weiteres, kleines Tischchen mit meinem Computer darauf. Ich strich mit den Fingern über die Tastatur.
Wenn ich alleine war – ganz alleine in meinem Zimmer und niemand da war, für den ich „jemand sein konnte“, wusste ich nichts mit mir anzufangen... Ich kam mir vor, wie in einem Standby-Modus. Wusste einfach nicht, was ich wollte. Was ich mit mir anfangen sollte. Mir war nicht klar, was die wirkliche Katie Huberts machen wollte... Das war der Grund, weshalb ich fast jeden Nachmittag unterwegs war. Mit Freundinnen, mit meinen Eltern, mit Ed, sogar mit Kiki und ihren Freundinnen... Nur nicht alleine sein. Es tat mir nicht gut, alleine zu sein.
Ich stellte mich ans Fenster, starrte in die dreckige Straße unterhalb der Fensterbank. Öffnete das Fenster weit und hing mich etwas nach draußen. Ich konnte die Müllcontainer sehen. Die dreckige Hauswand. Ein Hund lief vorbei, schnüffelte an einem umgekippten Müllsack und wühlte mit der Nase im Abfall. Es war der Hund von Familie Weinhard. Sie wohnten am Ende der Straße. Ihr Haus grenzte direkt an den Marktplatz. Keine Kinder. Ein Hund. Chico... Sie hatten noch nie ein Wort mit mir geredet.
Ich beobachtete. Studierte. Wusste Bescheid.
„Chico!“, rief ich nach unten, pfiff durch die Zähne. „Chicochen!“
Der braun-graue Leonberger hob den Kopf, sah mich aus treuen Augen an, bellte und wedelte mit dem Schwanz. Dann schnappte er sich irgendetwas aus dem Müllsack und lief triumphierend damit weg. Ich stieß mich von der Fensterbank weg, schloss das Fenster laut und lief aus dem Zimmer. Die Treppe runter in den Flur.
Ich musste etwas tun. Irgendwas. Kein Standby...
Ich schnappte mir meine Jacke vom Haken und warf sie mir über, zog meine Schuhe an. Dann ging ich noch kurz in die Küche. Oft fragte ich mich, was Mama so lange in der Küche zu tun hatte...
„Ich bin dann mal bei Ed, bin so gegen halb acht wieder da, ja?“
Mama sah von einem Heft auf. Sie saß am Tisch und kaute auf einem Kugelschreiber herum.
„Ja, ist ok, Schatz. Viel Spaß!“
Kaum war ich die Tür raus, wehte mir kalter Wind entgegen. Es roch nach Laub und nassem Gras. Kein Mensch war auf der Straße unterwegs. Was selten war, wenn man bedachte, dass wir fast am Marktplatz wohnten.
Ich lief den Bürgersteig entlang. Schnell. Hatte es unglaublich eilig zu Ed zu kommen. Doch als ich schließlich vor der Ladentür des Friseursalons seiner Mutter stand, zögerte ich, sie aufzudrücken. Sie hatte mich schon gesehen und hätte sie mich nicht freundlich herein gewunken, wäre ich vielleicht umgedreht.
Frau Wesselow schnitt gerade einem Mann die Haare, den ich schon oft hier gesehen hatte. Er war groß, breite Schultern, große Hände, vor denen ich mich fürchtete.
„Katie! Es ist schön, dich zu sehen. Ed ist oben, du kannst direkt hoch gehen!“
„Guten Tag, Beate.“ Am Anfang, als Ed und ich uns noch nicht so lange kannten und ich dann bei ihm zu Besuch war, hatte ich immer Probleme gehabt, den Nachnamen auszusprechen. Ich war sehr dankbar, als mir seine Mutter sofort das Duzen anbot...
Ich ging durch den Salon, an den Waschbecken und Spiegeln vorbei. Ich warf einen flüchtigen Blick hinein. Meine Haare waren vom Wind zerzaust. Dann kam ich an den kleinen Perlenvorhang und schob die Seile zur Seite. Es raschelte.
„Ach, bevor ich es vergesse, ich soll dich noch von meiner Mutter grüßen!“, sagte ich.
Beate Wesselow lächelte strahlend und ihre Augen strahlten mit. Die Farbe erinnerte mich an Frühlingsnachmittage...
Sie war immer so glücklich. Manchmal beneidete ich sie...
„Oh, da kannst du ihr aber auch ganz liebe zurückbestellen!“
„Mach ich!“, rief ich und ging dann die Treppe nach oben in die eigentlich Wohnung. Es war alles sehr eng. Es gab nur einen schmalen Flur, an den direkt alle Zimmer grenzten. Die Küche, drei kleine Schlafzimmer und das Bad.
Ich ging den Flur ganz durch und blieb dann vor der Tür links stehen. Musik drang aus dem Zimmer. Laut.
Wieder zögerte ich. Wusste nicht, warum...
Ich betrachtete die Tür. Ed hatte sie mit vielen verschiedenen Türschildern beklebt. Immer wenn ich sie las, musste ich grinsen:
Widersprecht nie einem Teenager!
...wartet nur, dann tut er es von selbst.
Dann war da eines, das ihm seine Mutter einmal geschenkt hatte, als sie es aufgegeben hatte, sein Zimmer aufzuräumen:
Betreten der Baustelle auf eigene Gefahr! Eltern haften für ihre Kinder!
Fast genau mittig klebten meine zwei Lieblingsschilder. Einmal, die „Öffnungszeiten“:
Unsere Öffnungszeiten:
Meistens öffnen wir um 9 oder 10, manchmal auch schon um 6 Uhr, dann wieder mal erst um 14 oder 15 Uhr.
Geschlossen wird bei uns ungefähr um 19 oder 20 Uhr, manchmal schon um 16 oder 17 Uhr, wenn wir keine Lust mehr haben; dann aber wieder erst um Mitternacht.
Manche Tage sind wir gar nicht hier, in letzter Zeit aber fast immer. Versuchen Sie es mal!
Daneben hing das „Klopf-Schild“. Darauf war oben ein Kreis gezeichnet, in dem stand „Hier Kopf gegenschlagen“. Darunter stand, was zu beachten war:
1. Vor der Tür in Position gehen. Entfernung sollte nicht mehr als 50cm betragen!
2. Instruktionen im Kreis befolgen!
3. Wiederholen, bis die Tür geöffnet wird oder Bewusstlosigkeit
eintritt!
4. Bei weiteren Besuchen wiederholen, jedoch nicht häufiger als
viermal täglich!
5. Wenn Kreis sich rot färbt: Arzt aufsuchen!
Ed hatte manchmal eine Vorliebe für schwarzen Humor.
Zögerlich hob ich die Hand und klopfte kräftig an. Gerade als ich ein zweites Mal klopfen wollte, wurde die Musik leiser gedreht und ich konnte von drinnen eine Antwort hören und trat ein.
„Hey, Ed!“
Er lag auf seinem Sofa unter dem Fenster, seine Anlage stand auf einer Art Kommode daneben. Nur ganz leise konnte ich noch die harten Klänge der Musik hören. Ed stand auf Metall und Rock. Ich glaubte Bullet for my Valentine zu erkennen. Ich konnte nicht sagen, ob es mir gefiel, doch wenn er mich fragte, war ich begeistert...
„Katie!“ Seine Miene hellte sich auf, als er mich reinkommen sah.
Er setzte sich hin und grinste. Mein Unwohlsein verpuffte wie eine Seifenblase an einem Gartenzaun, als ich in sein freundliches Gesicht sah. „Da hast du es ja doch noch zu mir geschafft!“
„Ja, ich hab‘ versucht, die Öffnungszeiten einzuhalten!“
Er sah mich fragend an.
„Na, dein Türschild...“
„Ach so! Ja!“ Ed lachte.
Ich lief zu seinem Bett und ließ mich darauf fallen. Eigentlich ging ich nur zwei Schritte. Sein Zimmer war klein und eng. Darin stand nur das Sofa, die Kommode mit der Anlage, das Bett mit einer kleinen Ablage daran und neben der Tür hing noch ein kleines Regal. Einen Schreibtisch besaß er nicht. Machte die Hausaufgaben, wenn, dann in der Küche, wo nicht wirklich mehr Platz war. Sein Zimmer hatte diesen typischen Jungeneinfluss. Überall lag Kram herum. Zeitungen, Blätter, Kleider, CDs...
Ich rutschte bis ganz nach oben ans Kopfende und lehnte mich an die Wand, ließ die Beine an der Seite runter baumeln. Neben dem Bett war ein kleines Holzbrett befestigt, auf dem nur eine Lampe aus glänzendem Metall und ein Wecker standen. An die Lampe war ein Bild geklemmt. Ein Foto.
Ed und ich. Im Urlaub.
Wann war das gewesen?
Vor zwei Jahren?
So lange schien es mir schon entfernt, diese Erinnerung...
Meine Eltern, Kiki und ich, wir hatten Ed mit in unseren Spanienurlaub genommen. Seine Familie konnte sich einen Urlaub nur sehr selten leisten. Wir waren in einer Bar gewesen, die Tische standen draußen auf der Terrasse, waren etwas zur Seite geschoben worden, damit in der Mitte eine kleine Tanzfläche frei war. Laute Musik spielte. Unbekannte Rhythmen, Tanzrhythmen...
Überall hingen Girlanden.
Und Lampions, die über unseren Köpfen leuchteten und wie bunte Sterne am Nachthimmel aussahen.
Blumen. Ein unglaublicher Duft von tausenden spanischen Blumen.
So viele Farben.
Heiße Abendluft.
Viele Menschen.
Lachen.
Nur verschwommen konnte ich mich an das erinnern, was um uns herum passiert war.
Das Foto zeigte Ed und mich, wie wir auf der Tanzfläche waren. Als einzige, doch es hatte uns nichts ausgemacht.
Ich hielt seine Hände und hatte einen Arm nach oben gestreckt, so als wollte ich nach dem Himmel greifen.
Ich hatte meine Haare zu einem Zopf gebunden, doch einige Strähnen hatten sich gelöst, so schnell hatten wir uns bewegt.
Ich sah Ed an und er mich.
Unsere Wangen waren gerötet. Mir war unglaublich heiß gewesen.
Wir lachten.
Wer hatte das Foto gemacht?
Ich wusste es nicht mehr...
Ed liebte dieses Bild.
Er meinte immer, dass es nicht einfach nur eines der vielen Fotos wäre, die wir gemacht hatten. Dass wir nicht einfach nur zusammen auf einem Bild waren.
„Auf diesem Foto sind wir gemeinsam!“, sagte er immer.
Zusammen...
Gemeinsam...
Ich hatte nie verstanden, wo da ein Unterschied bestand.
Ed hatte mich die ganze Zeit über betrachtet, während ich mich an den Urlaub erinnerte. Als ich ihn dann ansah, grinste er breit. Ich dachte, er wollte mich darauf ansprechen, doch er schwieg.
„Wir wollen am Samstag ins Downtown gehen. Kommst du mit?“, fragte ich, um die Stille zu brechen. Obwohl die Stille zwischen uns irgendwie nie störend war. Wir wussten einfach, wenn es mal nichts zu reden gab.
„Wer ist denn alles dabei?“
„Hmm... Laura, Mandy, Tina, Lea und ich. T. ist dabei und seine Kumpels...“
„Ach so. Nee, ich glaub‘, Samstag haben wir Besuch hier. Mama macht extra den Salon zu, glaube ich...“
„Ja, ok. Macht ja nix. Ist halt schade...“, meinte ich und lächelte ihn an.
Dieser Nachmittag verging so, wie jeder andere. Konnten Nachmittage überhaupt anders vergehen? Tat man nicht doch irgendwie immer das gleiche? Konnte man eine Routine im Leben bekommen?
Ja, wahrscheinlich...
Wir redeten über alles mögliche.
Alberten herum.
Schalteten den Computer an und surften im Internet.
Dazwischen gingen wir irgendwann in die Küche und tranken Cola.
Ed trank Cola für sein Leben gern.
Ich wusste nicht, was er an dem Zeug fand. Was war daran denn besonders? Wenn ich es trank, hatte ich anschließend immer noch mehr Durst als vorher.
Sagen tat ich es ihm aber nicht...
Warum?
Er war doch mein bester Freund.
War er das?
Konnten Freundschaften überhaupt existieren, wenn keine Ehrlichkeit bestand?
Nun, er war ehrlich zu mir.
Aber ich nicht zu ihm...
Sogar Ed, sogar meinem liebsten Ed, spielte ich nur eine Rolle vor. Und ich konnte nicht einmal sagen, was für eine.
Das war das Schlimmste...
Manchmal fragte ich mich Dinge, bei denen ich anschließend gar nicht mehr sagen konnte, wie ich auf die Frage kam, was all das denn für eine Bedeutung hatte – für mich. Wer war ich denn?
Zum Beispiel fragte ich mich an diesem Nachmittag, ganz plötzlich, als ich neben Ed am Computer seines Vaters saß und er mir irgendwelche neuen Dinge auf seiner Website zeigte... ich fragte mich, ob er mich kannte. Also, richtig kannte. Oder einfach nur die Rolle, in der ich steckte.
(Feststeckte?) Rolle, Rolle, Rolle...
Ich verzweifelte manchmal an meinen eigenen Gedanken. Denken war nicht gut...
„Siehst du, ich hab‘ hier mein Gästebuch noch einmal überarbeitet. Der Hintergrund ist doch cool, oder?“, fragte Ed mich begeistert.
Ich nickte. „Ja, der ist echt cool!“ Meine Stimme klang begeistert, mitgerissen.
Ed scrollte die Site runter und überflog neue Einträge. Bei einem blieb er hängen:
Eintrag von CoOlstEr (Heute, 01:47):
VoL dIIE sChEiZZ hoOmPagE!!
Er schimpfte: „Boah, mir gehen diese Idioten auf die Nerven! Absolut NULL Inhalt und dann noch so eine Rechtschreibung!“
„Die sollten die Grundschule noch einmal wiederholen!“, scherzte ich. Ed klickte auf den Eintrag und drückte entnervt Diesen Eintrag löschen.
Wusste Ed vielleicht, wer ich war?
Besser noch, als ich?
Ich glaubte nicht...
Das wäre zu viel, als ich ihm zumutete, selbst für meinen besten Freund. Konnten Menschen dich besser kennen, als du dich selber?
Fragen, Fragen, Fragen...
„Ich hab‘ auch meine Seite mit meinen Freunden überarbeitet. Weißt du das schon?“
Ich konnte den Stolz in seinen Augen funkeln sehen. Ich schüttelte den Kopf.
Es dauerte nur ein paar Mausklicks und eine Seite öffnete sich. Der Hintergrund war schwarz und in einer hellblauen Schrift, die mich an den Himmel am Meer erinnerte, stand ganz oben:
SEHR WICHTIG FÜR MICH,...
Als allererstes kam ein Bild von mir. Es wunderte mich nicht, dass er das Bild genommen hatte, das auch an seinem Bett hing. Gemeinsam, huschte mir durch den Kopf, immer wieder.
Gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam...
Daneben stand:
... weil sie einfach alles, mehr als eine Freundin, für mich ist!
Mein Magen zog sich etwas zusammen, ich wollte kurz die Augen schließen. Die Gedanken von vorhin kamen mir wieder in den Sinn. Eigentlich belog ich ihn doch nur...
Ich lächelte Ed breit an und umarmte ihn.
„Das ist so lieb von dir, Ed!“
Wie entstanden eigentlich Freundschaften?
Musste man sich nur einfach gut verstehen, um als Freunde durchzugehen, sich treffen nach der Schule, beieinander übernachten... Oder musste da noch etwas mehr sein?
Immer wieder hatte ich nur solche Überlegungsfetzen. Keine richtigen Antworten, nur halbe oder ungenaue Schätzungen... Immer wieder kratzte ich nur die Oberfläche von all den Dingen an.
Es war kurz vor halb acht, als ich schließlich mit Ed hinunter in den Friseursalon seiner Mutter, der schon geschlossen hatte, ging und an den vielen Friseurstühlen und Waschbecken vorbei zur Tür lief.
Ed hielt sie mir auf und grinste keck.
„Oho, ganz der Gentleman heute, was?“, rief Beate, die gerade den Laden durch kehrte, und lachte laut.
Ihr Sohn sah sich zu ihr um und nickte.
„Klar, einmal am Tag muss sein!“
Ich lachte und ging nach draußen.
Es war kalt. Dunkel.
Der Himmel war schwarz und von Wolken verhangen. Kein einziger Stern war zu sehen und auch der Mond, der zu dieser Jahreszeit schon immer um diese Uhrzeit zu sehen war, blieb versteckt. Von etwas weiter weg konnte man Gewittergrollen hören. Ich wartete, bis es verklungen war, dann drehte ich mich zu Ed hin.
„Na dann, bis morgen würd' ich sagen!“
„Ja“, sagte er und umarmte mich, „Komm gut nach Hause!“ Er grinste. „Oh ja, ich werd’s versuchen! Ciao!“
„Bis morgen!“
Ich wandte mich ab und ging.