Adel verpflichtet

Eulengeloet

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Adel verpflichtet

Moritz von Kramhausen verließ mit versteinerter Miene das edle französische Restaurant. Während des Essens hatte sich die ansonsten betongeschwängerte Großstadt in ein Winteridyll verwandelt. Er betrachtete mit starrem Blick die fast unberührte Schneedecke, entnahm seinem vergoldeten Etui eine Zigarette und zündete sie an. Tief inhalierend klappte er den Cord-Kragen seiner Steppjacke hoch. Eben noch hatte er seinen Eltern lächelnd mitgeteilt rauchen zu wollen. Tatsächlich hatte er das Bedürfnis noch einmal alleine zu sein, bevor er die Bombe endlich platzen lassen würde. Baron von Kramhausen hatte freundlich von seinem Digestiv aufgeblickt und genickt während seine Frau Mechthild stumm in ihrem Espresso rührte und dabei wie immer den kleinen Finger abspreizte.
„Du kannst es ihnen sagen, du schaffst das“, versuchte eine innere Stimme ihm Mut zu machen. Moritz trat von einem Fuß auf den anderen und stampfte knirschend ein Muster in den Schnee. Den ganzen Abend wollte er seinen Eltern diese Mitteilung schon machen. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, die richtigen Worte zu finden.
Sie wollten heraus kommen, sobald sie die Rechnung bezahlt hatten. „Bezahlen“, murmelte Moritz und pustete dabei ein Gemisch aus Zigarettenrauch und kondensierter Luft in die Winternacht. „Bezahlen konnten sie schon immer“, wiederholte er verbittert. Die Kälte bahnte sich derweil ihren Weg durch die dünnen Ledersohlen seiner Gucci Schuhe.
Ein Blick ins Fenster des Restaurants verriet ihm, dass seine Eltern angefangen hatten zu streiten. Dieser Umstand überraschte ihn nicht. Sie stritten ständig, seit er denken konnte. In der Öffentlichkeit gelang es ihnen stets, den Streit zu verbergen. Anhand ihrer Gesten und ihrer Körperhaltung konnte Moritz sie entlarven. „Adel verpflichtet“, schoss es ihm wie eine Kugel durch den Kopf. Zu Hause in Gut Hohenstein war dies anders. Völlig anders. Sein Vater war zeitlebens ein Choleriker, doch Mechthild konnte sich wehren. Und wie. Moritz selbst gelang dies nicht. „Heute schaffst du es, heute musst du es schaffen“ feuerte die innere Stimme ihn erneut an.
Trotzig schnippte er die Zigarette in den Schnee. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bevor er allen Mut zusammen nehmen würde, um es ihnen zu sagen. Zum wiederholten Mal tasteten seine Finger in seiner Gesäßtasche, deren Inhalt für ihn so wichtig war, dass seine Psyche ihm zwanghafte Kontrolle vorschrieb.
Die Glut einer weiteren Zigarette flammte auf, während sich in nicht einmal zwei Metern Entfernung ein Igel in Pflugmanier durch den Schnee schob. „Du bist mutig, kleiner Stachelfreund, verweigerst einfach deinen Winterschlaf“, murmelte Moritz und zog die Augenbrauen hoch. Im Lokal hatte sich der Streit manifestiert. Es waren über zwei Zigarettenlängen vergangen, ohne dass seinen Eltern aufgefallen wäre, dass er fehlte.
„Also, ich habe euch etwas wichtiges zu sagen“, begann Moritz zu proben. Bis zu dieser Stelle würde er ohne Probleme kommen. Aber dann? Wie würde sein Vater reagieren? Was würde seine Mutter sagen, oder würde sie nur an ihrem Pelzmantel nesteln und zu Boden blicken, würden Tränen fließen? Er würde sie aufgeben müssen. Sein Herz pochte. Natürlich war er überzeugt von dem was er vor hatte. "Ich hätte es ihnen schon viel eher sagen müssen", fluchte er. Seine Art und Weise zu rauchen erinnerte mittlerweile an einen Soldaten im Schützengraben. Wirbelnd näherte sich eine Schneeflocke und landete auf seiner heißen Stirn. Im Restaurant sah es immer noch nicht nach Aufbruch aus.
„N`abend! Herrliches Wetter, oder?“ begrüßte ihn ein elegant gekleidete Mittfünfziger der aus dem Lokal kam, eine Schachtel Zigaretten hervor kramte und davon stapfte. Moritz betrachtete die Spuren die der Mann im Schnee hinterlassen hatte, dabei fiel ihm ein gefaltetes Papier auf, welches der Winterliebhaber verloren haben musste. Es handelte sich um edles Briefpapier. Überrascht davon, in seiner Situation so etwas wie Neugier zu spüren, bückte er sich danach und entfaltete den teuer aussehenden Briefbogen. Schneeflocken tanzten jetzt wie irrsinnig um ihn herum. Als er den mit Tinte geschriebenen Text das vierte Mal las war die Schrift schon leicht verlaufen. Das machte nichts, denn dort stand nicht viel. Trotzdem wusste er nun genau, was zu tun war.
Ohne noch einmal ins Restaurant zu blicken steuerte Moritz auf den Mercedes seines Vaters zu, der mittlerweile wie ein Iglu aussah und steckte den Zettel in den Schnee auf der Windschutzscheibe. Zurück blieben nur die Abdrücke seiner Gucci Schuhe, sein Porsche und in einiger Entfernung die goldene Rolex, die sein Vater ihm zwei Monate zuvor zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie lag nun in einer Schneewehe. Moritz hatte sie im hohen Bogen weggeschleudert, als er gegangen war.
Der Zeitpunkt zu dem sein Vater den Zettel las, kongruierte chronologisch mit der Frage des Bundesbahnschaffners nach dem Fahrschein, den Moritz aus seiner Gesäßtasche gezogen hatte. „In Amsterdam hat es nicht geschneit“, sagte der Bahnangestellte während er das Billet abknipste. Einige Kilometer entfernt erstarrte Baron von Kramhausen und das nicht vor Kälte. „Was steht in dem Brief, Ludwig“? wollte seine Frau wissen. Wortlos und ohne sie an zu gucken reichte er ihr das Papier. Sie las laut:

Das Wort macht den Menschen frei. Wer sich nicht äußern kann, ist ein Sklave. Sprachlos ist darum die übermäßige Leidenschaft, die übermäßige Freude, der übermäßige Schmerz. Sprechen ist ein Freiheitsakt; das Wort ist selbst Freiheit. Manchmal selbst dann, wenn es nur geschrieben wird".
`
Der Zug ratterte durch die weiße Landschaft. Moritz` Wange lehnte an der beschlagenen Scheibe. Durch das Guckloch, welches er sich durch Reiben geschaffen hatte, blickte er in die Ferne und lächelte. Er war frei.
 

Benn

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Hallo Eulengeloet. Du hast deine Geschichte gut geschrieben, nur funktioniert meiner Meinung nach dein Schluss für mich nicht. Es liegt daran, dass dein Spannungsbogen zu flach ist. Dein Prota ist im inneren Konflikt gefangen, der sich nicht auflöst. Was will er seinen Eltern sagen? Dann erscheint auch noch der geheimnisvolle Fremde. Da greifst du zu tief in die Trickkiste. Das kaufe dir nicht ab. Er verliert einen Brief, der deinem Prota Mut macht zu fliehen. (Warum?) Der Prota flieht (wie immer in seinem Leben. Richtig?) und setzt sich nicht mit seinem Problem oder Eltern auseinander. Er ist ein Feigling und bleibt einer. Er verändert sich nicht. Hier verpasst du den Höhepunkt, der die Spannung auflösen sollte. Wenn die Worte frei machen sollen, wie du behauptest, muss der Prota es beweisen und die richtigen Worte finde, um seinen Konflikt am Ende der Geschichte zu lösen. Deine Auflösung lässt mich als Leser verhunger. Das, was ich schreibe, sind nur meine Gedanken und sind keine Kritik deiner Persönlichkeit. Liebe Grüße Benn.
 

Eulengeloet

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Hey Benn,
voll gut. Ich habe mir die Geschichte nochmal durchgelesen und mir fällt auch auf, dass ich eventuell zu viel voraussetze. Vielleicht passiert das irgendwie auch bewusst. Weil 1:1 ist mir oft zu langweilig. Ich habe dich auf diese Art auf jeden Fall nicht erreicht. Eventuell sollte ich in Zukunft darau achten, nicht zu viel „offen“ zu lassen. Ich danke dir sehr für deine Meinung. Und bin gespannt, was andere Leser*innen sagen werden.

Und BTW: Ich finde, dass hier der richtige Ort ist, sich die Meinung zu sagen. Wie soll sich denn jemand verbessern, wenn mittelmäßige Geschichten hier zu Meisterwerken gekürt würden.
Viele Grüße
 

petrasmiles

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Das ist keine Grammatik, sondern ein Verdauungsschnaps ;) darum Digestif
kongruierte chronologisch
mir würde hier eher ein einfacheres Wort gefallen

Es ist doch so, dass Du mit diesem 'Hochwohlgeborenton' oder einfach 'reich' etwas karikieren willst, aber Dein Protagonist grenzt sich nicht ab. Und wenn Du in dem Ton weiterschreibst, bleibt alles beim Alten. Die Rolex in den Schnee werfen wirkt als Geste des Trotzes - und man erfährt auch nicht, ob er einen wirklichen Plan hat, oder seine 'Kreditkarte' benutzen wird. Er kann sich nicht durch Worte befreien, sondern nur durch Taten. Die 'Flucht' allein besagt noch nichts.

Wss ich an Deiner Antwort an Benn nicht verstanden habe, ist Deine Schlussfolgerung, Du habest zuviel vorausgesetzt. Das macht für mich keinen Sinn. Und was heißt den 1:1 sei Dir zu langweilig? Was ist 1 und was 1?

Liebe Grüße
Petra
 

Eulengeloet

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Danke für deine Eindrücke. Der Protagonist ist in meinen Augen kein Feigling. Jahrelange Therapie hätte eventuell dazu führen können, den Mut zu finden sich von seinen toxischen Eltern in einem klärenden offenen Gespräch zu verabschieden. Das hatte er sich ja auch vorgenommen. Weil er aber schon so oft versagt hatte, bei diesem Vorhaben, kam ihm der „Zettel“ mit den passenden Worten zu Hilfe.
Die FAhrkarte nach Amsterdam hatte er schon besorgt. Er wollte weg, warum ist klar. Er wollte frei sein. Mehr braucht man nicht zu erfahren. Es sei denn man macht einen Roman daraus. Ich setze zu viel voraus, indem ich diese Botschaften „versteckt“ mitgebe und nicht 1:1.
Grüße
 

petrasmiles

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Lieber Eulengeloet,

das mt dem Feigling stammte nicht von mir - ich denke auch nicht so.

Ich wäre aber vorsichtig mit diesen Wörtern wie 'toxisch'; wir sind alle mit den einen oder anderen Macken gesegnet und manchmal finden sich die merkwürdigsten Paarungen, die von außen betrachtet aussehen, dass man selbst kein Teil davon sein möchte. Ist das toxisch? Was ist das überhaupt?

Ich denke mal, diese Eltern waren durch die eigene Verstrickung miteinander ziemlich selbstbezogen - und das haben sie ihrem Sohn mitgegeben.
Um so länger ich darüber nachdenke, desto unglaubwürdiger kommt mir diese Toxizität vor. Was auch immer das Problem der Eltern war, der Sohn war kein Teil davon, er hat seine eigenen Probleme durch dieses Verhalten mitbekommen, aber 'Freiheit' scheint mir keine Lösung zu sein, denn sein Verhalten ist immer noch selbstbezogen. Übrigens haben diese Probleme auch Kinder von Eltern, die sich über die Maßen geliebt haben, sodass sie den Eindruck bekamen, dass für sie kein Platz im Herzen der Eltern war. Nein, 'toxisch' passt nicht, und Dein Protagonist sollte aufpassen, dass er nicht die 'Toxizität' seiner Eltern als Ausrede benutzt, immer nur die 'Freiheit' zu suchen.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

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Lieber Eulengeloet,

das scheint mir eine Aktion in die falsche Richtung zu sein.
Selbst, wenn man ihm einen Chip implantiert hätte, womit er sich mit seinem Porsche nur in einem bestimmten Radius bewegen darf, wäre das nicht die Geschichte, sondern der Akt der Befreiung und was dies in ihm ausglöst hat. Nur mit dem Finger auf die wahrlich bösen Eltern zu zeigen, ist m.E. nicht besonders interessant.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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