Advent

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Im Advent ist Mama komisch. Sie sagt, wir sollen besinnlich sein. Also verdonnert sie uns dazu, uns um fünf Uhr nachmittags um den großen Esstisch zu setzen. Das ist die so genannte "blaue Stunde". Es dämmert und sie zündet dann die erste - zweite, dritte, vierte - Kerze am Adventskranz an. Der Kranz ist vom Discounter und potthässlich, aber Mama sagt, er war der billigste. Er nadelt nicht, er riecht - oder besser duftet - nicht und er ist hellgrün. Ich glaube, der ist aus Plastik. Wir Kinder sitzen also mit Mama vor dem Kranz. Dann liest sie mit feierlicher Stimme eine Geschichte vor. Ich finde das schrecklich, denn sie stockt dauernd, weil sie bei dem schummrigen Kerzenlicht schlecht sieht - trotz Brille. Aber es kommt nicht in Frage, eine Lampe anzuknipsen. Nein, wir hören zum hunderttausendesten Mal dieselben Geschichten. Mama hat leider vergessen, dass wir seit 15 Jahren nicht mehr in den Kindergarten gehen. Nach der Geschichte gibt es Glühwein (für sie) und Kinderpunsch für uns. Dazu Plätzchen, auch wieder vom Discounter. Mama sagt, dass sie keine Zeit hat, welche zu backen. Sie hat immer so viele andere Dinge zu tun und wir sollen froh sein, wenn sie sich mit uns um fünf Uhr um den Kranz setzt. Naja, nur Makronen muss sie immer backen, weil das ein Rezept von Oma ist und Oma kommt nur, wenn es ihre Plätzchen gibt. Mama hat glaube ich Angst vor Oma. Ist ja auch ihre Schwiegermutter.

Nach dreißig Minuten schaffen wir Kinder es, die Idylle zu verlassen. Mama sitzt dann alleine im Wohnzimmer und guckt mit verzückter Miene ihre tausend Lichterhäuschen an, die überall rumstehen. Jedes hat eine Geschichte. Das eine ist das allerstere, das andere ist vom Weihnachtsmarkt in was-weiß-ich-wo, das nächste ist ein Geschenk von Onkel Willi, und das kitischigste von allen mit dem Glitzerschnee hat sich Mama selbst gekauft. Also, das Wohnzimmer leuchtet und leuchtet von all den Teelichtern in den Häuschen, das ist ein schwacher Ersatz dafür, dass wir keine Lichterketten haben. Die sind doof, sagt Mama, und weil alle die haben, haben wir extra keine. Unsere Nachbarn erleuchten alles so hell, dass wir sowieso keine brauchen. Am hässlichsten findet Mama die bunten Lichterketten, die Ossi-Ketten. Das dürfen wir aber aber nicht sagen, Mama sagt es aber trotzdem. Der Supergau ist das blinkende Herz - pink, orange, grün im Wechsel - das die Nachbarn zur Linken im Küchenfenster hängen haben. Mama sagt, dass sie das schlimmer findet als die chinesische Wasserfolter. Woher weiß sie, was das für eine Foltermethode ist? Sie erklärt es nicht. Naja, Mama ist manchmal seltsam, aber sie ist auch ein Mensch.

Wenn Papa nach Hause kommt, setzt er sich zu Mama an den Kranz und sie trinken gemeinsam den Glühwein aus. Das ist dann ihre "blaue Stunde", wie Mama immer sagt. Die haben sie wirklich, denn manchmal sind sie beide fast blau und Mama sagt dann immer "Aber doch nicht vor den Kindern!" Ab und zu bringt Papa auch richtig leckere Plätzchen vom Bäcker mit und wir naschen, bis uns schlecht wird. Mama schläft danach schon bei der Tagesschau ein und vergisst, den Lichterhäuschen neue Nahrung zu geben.

Was noch? Mama hört ständig "Last christmas", weil sie das so schön findet und flitscht ständig am Fernsehen rum, um das Video zu gucken, weil sie das soooo traurig findet. Das ist es auch, und Mama hofft immer, dass sich die beiden noch kriegen. Dabei haben wir Kinder gelesen, dass das eigentlich ein Osterlied werden sollte und irgendeiner auf die Idee kam, das Ganze als Weihnachtsgedudel rauszubringen und seitdem ist es dauernd auf Platz eins im Advent.

Adventskalender haben wir übrigens ganz viele. Mama hat alleine vier. Vier! Das heißt, sie muss ingesamt 96 Türchen bis Weihnachten öffnen. Das ist verrückt. Mama hat einen "Anti-Stress-Kalender", das ist so ein Buch von einem frommen Menschen. Außerdem bekommt sie jeden Tag eine Mail von einem ebenso frommen Absender. Der dritte Kalender ist eine fürchterlich kitschige Glitzerpostkarte, die am Küchenschrank hängt. Den vierten Kalender hat Papa ihr geschenkt. Sie hat ihn aber versteckt. Wir wissen nicht, was da drin ist. Wahrscheinlich irgendwas Versautes.

Trotz allem liebe ich die Adventszeit. Auch die mit Mama. Sie hat zwar gedroht, dass wir bald ausziehen sollen, aber wer soll denn dann mit ihr am Kranz sitzen? Meine Freundin will aber bald mit mir Schluss machen, wenn ich weiterhin jeden Tag um fünf Uhr zu Mamas Adventskranz gehe. Das wird eng für mich. Denn irgendwie - liebe ich sie. Mama.
 

Jo Phantasie

Mitglied
Humor und Satire?
Klar doch, wie in vielen deutschen Haushalten zu Weihnachten.
Die Geschichte klingt zu ehrlich, um drüber lachen zu können.
Muss man ja auch nicht, es reicht, wenn man deswegen mal die eigenne Weihnachtszeit beleuchtet.

Nicht schlecht!
Macht mich aber eher nachdenklich als lustig.
 
K

kal

Gast
hallo,
ja ja ... kommt mir auch bekannt vor :)

meine mutter hatte ne wurzel mit einem nagel und einer kerze. immer die gleiche .. jedes jahr.
nie was neues.

fand ich immer blöd. adventskranz und so .. bis ich dann meine tochter hatte.

und die obligatorische weihnachtsfeier. erst waren wir viele, dann hat der mit dem gestritten, und die mit dem ... und zum schluß kam dann nur noch meine oma.

familie! ist sie nicht schön? :D


ich wünsche dir einen vollen stiefel
und liebe grüße
andrea



ps: versprechen gehalten!
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Jo, wenn Du wenigstens über den Text nachdenken kannst, ist ja auch ein Ziel erreicht, wenn auch nicht das ursprüngliche. Ehrlich? O nein. :)
Vielen Dank für das "nicht schlecht" und die Wertung!

LG
Doc
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Kal, überhöhte Wirklichkeit - und natürlich ist Familie schön, niemals wird man so um sie beneidet wie zur Weihnachtszeit. Sonst natürlich nicht.
:)
Wenn Du Bestimmtes wiedererkennst UND dann lachen kannst, bin ich vollauf zufrieden.

LG Doc (mit vollem Stiefel heute Morgen)
 



 
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