Ängste

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Ängste​


5 Uhr 50
Was empfindet ein Teebeutel, kurz bevor er ins kochende Wasser getaucht wird?
Egal, denke ich und tauche ihn kurzentschlossen ein.
Gierig ergreifen wild sprudelnde Wasserbläschen den wehrlosen Teebeutel.
Da! - ein gellender Schrei lässt mich zusammenzucken.
Es wird das immer noch quietschende Scharnier der alten Eingangstür sein, beruhige ich mich.
Eine Aufgabe für den Hausmeister, aber den hatte ich seit Monaten nicht mehr gesehen. Irgendwann war er einfach weg, ohne sich zu verabschieden. Dabei hätte ich ihm gerne noch mal meine Meinung gesagt. Über seine Geschwätzigkeit, seine Gleichgültigkeit und seine Faulheit.
Dem Hörensagen nach soll er schwer erkrankt sein.
Auf jeden Fall war jetzt einfach weg, ohne das quietschende Scharnier zu ölen.
Kein Verlass auf die Leute.

In der Mittagspause werde ich das selbst in die Hand nehmen.


6 Uhr 30
Der Teebeutel meldet sich erneut, schreit aus der Unterwelt.
An dieser Tasse klebt Blut.
Es klopft an der sperrangelweit weit geöffneten Tür. Es wird Lisbeth sein, die gute Seele. Ob sie die Schreie auch gehört hat?
Altgewohnte Floskeln fallen mir ein. „Guten Morgen Kollegin, was kann ich für dich tun?“
Bullshit, als ob ich sie als Kollegin ansehe.
Eine kleine unwichtige Mitarbeiterin ist sie, mehr nicht.
Wer behauptet, sie sei eine gute Seele?
Erwartungsgemäß wird sie schlechte Nachrichten bringen. Krankmeldungen von den Simulanten.
„Sicherlich eine Folge der ungesunden Witterung“, wird sie wie immer beschwichtigend auf mich einwirken.
Es ist nicht Lisbeth.

Die Eingangstür quietscht erneut. Im Flur huschen flüchtige Schatten. Dann fällt die Tür laut ins Schloss. Wieder allein mit einem ermordeten Teebeutel.
Die Stille wird beklemmend.
Wieso, verdammt klingelt kein Telefon. Und was ist mit der sonst ständig brodelnden Kaffeemaschine?
Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Trostlose Dunkelheit überall. Auch das gegenüberliegende Bürohaus ist verwaist.
Ist heute Feiertag?
Nein, heute ist Donnerstag der Fünfte! Wäre ich sonst hier?

Irgendwann würde es passieren und ich würde ihm gegenüberstehen. Ich hatte es heraufbeschworen. Immer von oben herab. Jetzt hatte er sich mit den anderen verbündet.
Nein, ich bin nicht nachsichtig gegenüber den Schwächen anderer. Sie sind es auch nicht mit meinen.
Ich bin stur, uneinsichtig und vielleicht auch ein bisschen jähzornig.
Auf jeden Fall kann ich es jetzt auch nicht mehr ändern..
Versucht habe ich es oft, immer wieder, aber das Einzige, das funktioniert, ist mein Scheitern. Präzise; immer zuverlässig nach jedem verdammten Versuch.
Mittlerweile ist es mir egal.
War es mir eigentlich schon immer.

Jeder andere könnte jetzt einfach gehen. Alles stehen und liegen lassen. Aber ich bin nicht wie die Anderen.
Obwohl, mich zu ändern wird auch heute nicht funktionieren.
Ich bin ein leidenschaftlicher Verlierer.


7 Uhr 15
Er hat sich wahrscheinlich mit den anderen hier irgendwo verschanzt. Erst letzte Woche hatte ich Reste ihrer letzten Zusammenkunft in der Teeküche gefunden.
Die Stille macht mir Angst.
Es wird nicht mehr lange dauern. Spätesten um 9 Uhr ist es zuende. Dann muss er sich zeigen.
Aber warum um alles in der Welt klingelt kein Telefon?
Wäre es doch nur kaputt.
Wenn es jetzt klingelt muss ich mich entscheiden.
Dann ist es besser, es ist kaputt.
Vorsichtshalber schalte ich das Licht aus.
Aber was ist, wenn Lisbeth doch noch reinkommt und das Licht ist aus.? Was soll ich dann sagen?

Warum verlangt alles eine Erklärung?
Ich kann das Licht doch ein oder ausschalten wie ich will. Oder?


8 Uhr 20
Schritte. Waren da nicht Schritte auf dem Flur? Wer konnte das sein? Schritte ohne Stimmen, die dazu gehörten.
Ich kannte sie alle. Viele schlurfende Schritte, die von Gleichgültigkeit und Arroganz zeugten. Aber auch die, die Klärung verlangten. Klärung für alles, auch für das, das keiner Klärung bedarf.
Ich gerate ins Philosophieren.
Erneut Schritte. Schritte, die sich begegnen.
Auf der Stelle stehen bleiben, scharren und sich wieder entfernen.
Palude war tot. Letztes Jahr gestorben. Der konnte es nicht sein. Der hatte diese klackenden kleinen Schritte. Einer etwas kürzer, der andere wieder länger. So, als würde er im Kreis laufen. Aber der konnte es nicht sein, wie gesagt, er ist tot.
Einer der ersten einer Reihe von Toten. Der gute Palude. Guter Mann, ohne Allüren, obwohl er hätte sich welche leisten können.


8 Uhr 45
Noch 15 Minuten. Alles entscheidende Minuten.
Im Nebenzimmer klingelt das Telefon. Dort geht natürlich keiner ran. Auch ein Zeichen von Arroganz. Jede Form von Arbeit als störend zu empfinden.
Aber es nervt. Es klingelt ununterbrochen.
Ich gehe ran.
Ich melde mich, ohne meinen Namen zu nennen.
„Bist du es, Arsch?“
Ich antworte nicht und warte ab. Mir wird schlecht. Ich stütze mich am Schreibtisch ab.
„Egal“, sagt der Anrufer.
„Antworte mit ja oder nein. Nicht mehr. Kein Geschwafel, verstanden Arsch?“
Den Gefallen tue ich dir nicht, selber Arsch, denke ich und sage: „ nur mh….“.
Es scheint ihn nicht zu beeindrucken.
„Also pass auf, Arsch. Das Grab kannst du haben. Nr.16 neben dem Bahrenhaus“.
Ich gebe wieder mein nicht definierbares Brummen von mir und lege auf.
Überhaupt, der kann mich doch gar nicht meinen. Oder doch? Vielleicht weiß der Anrufer, dass nur ich allein im Hause bin.
Komischer Ausdruck: „Im Hause“ und „Bahrenhaus“. Wer weiß denn heutzutage noch, was ein Bahrenhaus ist?
Ich schon und denke dabei an meinen verstorbenen Großvater. Noch letztes Jahr hatte ich ihm seinen langersehnten Wunsch erfüllt. Wir besuchten die Ausstellung „Übergang zum Tod“. Initiiert vom Kirchenkreis.
Das Bild „Sensenmann am Bahrenhaus“ hatte Opa stark beeindruckt.
Da war es wieder, das Bahrenhaus.

8Uhr 55
Das Telefon klingelt.
Diesmal in meinem Zimmer. Ich ringe um Fassung.
Es ist Lisbeth.
Ich stöhne. Gott sei Dank, die gute Seele, denke ich.
„Hier ist ein Mann, komischer Typ. Der will sie sprechen. Lässt sich auch nicht abwimmeln“, flüstert sie.
„Worum geht`s?“, frage ich. Ich habe einfach keine Lust runterzugehen.
„Es geht um ihre Bestellung“, sagt Lisbeth jetzt wieder lauter.
„Welche Bestellung?“. Allmählich werde ich wütend.
Haben wir dafür nicht den Hausmeister?, frage ich mich und bin mir im selben Moment über der Unsinnigkeit dieser Frage bewusst.
„Es gehe um Nummer 16, sie wüssten Bescheid“, sagt sie nur und das reicht, um mir kalte Schauer über den Rücken zu jagen.„Soll ich ihn rauf schicken?“
„Ich komme“, sage ich und mach mich auf den Weg.
Die Tür zum Hof steht offen. Direkt davor zischt der Sechszylinder eines riesigen schwarzen Taxis mit dem Wind um die Wette. Nebelschwaden dringen bis in den Flur und zaubern ein Spalier fröhlicher Blumenkinder die verwelkte Blätter streuen.
„Wir müssen uns beeilen“, sagt der Fahrer, als er seine zerknautschte Schirmmütze lüftet.
„Ohne Gepäck“, stellt er fest. Ich versuche es zu erklären.
„Fahrgäste wie sie reisen immer ohne Gepäck“, kommt er meiner Erklärung zuvor.
Wie sich die Welt verändert hatte. Noch am Morgen säumten junge, fröhliche Menschen die Straße. Jetzt starren graue Gesichter in den Nebel. In der riesigen Glasfront des Möbelhauses spiegelt sich das Taxi als überlange Limousine. Schwere Eichentruhen im Möbelhaus erscheinen wie Särge und überlagern das Spiegelbild des Taxis.
Schwarzgekleidete Menschen blieben stehen und sehen uns mitleidig hinterher.

Ich wusste es: Irgendwann wird es passieren.
Jetzt war er da.
 
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Schreibfan

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Sehr schoene Idee und sprachlich gut umgesetzt. Man spuert bestaendig die latent bedrohliche Stimmung. Wirklich schade, dass diese Geschichte offensichtlich so lange keine Beachtung bekommen hat. Stilistisch wuerde ich nicht viel aendern, nur einige Fuellsaetze koennten meines Erachtens nach weg, z.B. "Wie schon gesagt, er war tot". Das wurde ja eben schon gesagt . Ansprechend finde ich aber den ueber Strecken abgehackte Sprache, sie zieht einen in die Beklemmung, die der Protagonist empfinden muss.
Die Aufschluesselung ist, wenn ich sie richtig interpretiere, ein echter "Twist", ganz im Sinne von "The Others" oder "The Sixth Sense". Allerdings ist sie mir noch etwas zu undeutlich und zu viele Fragen bleiben offen.

Ich fasse meine Interpretation mal zusammen:

Der Protagonist liegt zu Beginn des Textes im Sterben, was seine Fahrt im Leichenwagen am Ende erklaeren wuerde. Evtl hat er Selbstmord begangen, zumindest spricht er ja von raetselhaften "Versuchen", die immer schief gingen. Moeglicherweise wurde er aber auch umgebracht von dem Komplott, dass angeblich gegen ihn geschmiedet wurde. Jedenfalls ist er nicht der erste Todesfall in der Umgebung und nun hoert er-als Toter- die bereits vorher Verschiedenen.

Doch wer ist der ominoese "Er", dem er sich stellen muss? Sein Moerder? Der Tod? Das ist mir etwas zu undeutlich. Und wer hat Grab und Leichenwagen bestellt? Er selbst, vor der Selbsttoetung?

Wenn diese Interpretation stimmt, frage ich mich, wie der Protagonist aber noch selbst ans Telefon gehen kann und warum Lisbeth und der Autofahrer noch mit ihm reden koennen?
Ich bitte um Aufklaerung.

Aber insgesamt: Hut ab.
 

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Hallo Schreibfan.

Vielen Dank, dass du dich mit meinem Beitrag befasst hast.

Zu deinem Kommentar:
Textlich werde ich noch nachbessern, da hast du Recht.

Die Geschichte:
Der namenlose Protagonist, vielleicht ein leitender Angestellter, ist ein einsamer, verbitterter Menschenhasser. Alle sind gegen ihn. Er wittert überall Verrat. Er sitzt in seinem Büro und sinniert über sein Leben das in Trümmern liegt, und erkennt, dass er vieles falsch gemacht hat, sieht die Schuld aber bei den anderen. Es bleibt ihm keine Zeit, seine Fehler zu korrigieren. Vielleicht ist er schon alt oder krank??? Die Situation macht ihm Angst.

In seiner Fantasie vermischen sich Fiktion und Realität. Der Protagonist flüchtet sich in Selbstmitleid.

Was wäre, wenn jetzt sein Tod käme und (ER) ihn holen würde? Er schlüpft in eine Opferrolle, durchlebt seine Verurteilung zum Tod. Er wünscht sich den Tod als dramatische Inszenierung.

Gruß

KB
 



 
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