Afrikanische Musik

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Auch heute noch ist mir vollkommen rätselhaft, was diesem windigen Halunken durch den Kopf gegangen sein mochte, als er mich unter der Vorspiegelung, er verfüge über die von mir gesuchte Informationen, in das Schweizer Städtchen Winterthur gelockt hatte, nur um mich dann dort vergeblich auf sich warten zu lassen. Obwohl ich durchaus dazu neige, über Verhaltensweisen wie diese auch Jahre später noch in Zorn zu geraten, sehe ich mich in diesem Fall nicht veranlasst, allzu nachtragend zu sein; denn ohne die Frechheit, die sich dieser Kerl mir gegenüber herausgenommen hat, wäre ich um ein bemerkenswertes Erlebnis ärmer.
Etwa zwei Wochen zuvor hatte ich in ein paar nur Eingeweihten zugänglichen Fachzeitschriften eine Anzeigenserie schalten lassen, in denen mein Interesse an jedwedem Hinweis bekundet war, der mir bei meinen zu jener Zeit vollends ins Stocken geratenen Ermittlungen über den Verbleib des Karl Ludwig Wassermann Jr. weiterhelfen könnte. Wider Erwarten hatten sich nicht nur die üblichen Wirrköpfe mit mir in Verbindung zu setzten versucht, sondern auch drei, vier andere, deren Ausdrucksweise erkennen ließ, dass ihnen aus dem nicht eben alltäglichen Gewerbe, dem ich nachgehe, mehr als nur das in jeder einigermaßen ausgestatteten Bibliothek Nachlesbare geläufig war.
Ausgerechnet derjenige, mit dem sich zu einem Treffen zu verabreden mir am erfolgversprechendsten erschienen war, hatte mich dann aber an der Nase herumgeführt, als sei ich ein blutiger Anfänger. Wer er war und welchen Zweck er mit seiner albernen Posse verfolgt haben könnte, ich fand es trotz mehrtägiger Nachforschungen, die ich mir natürlich nicht habe verkneifen können, einfach nicht heraus. Immerhin hatten einige seiner wie beiläufig in das professionell knapp gehaltene Telefongespräch eingestreute Andeutungen belegt, dass er – oder aber derjenige, für den er tätig war – Zugang zu dem bekanntermaßen unzugänglichsten aller Archive des ganzen Kontinents gehabt haben musste. Daher kann ich mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass er in irgendeiner Hinsicht vom Fach gewesen war, wiewohl diejenigen, die dazugehören, gemeinhin kaum in dem Ruf stehen, zu kindischen Scherzen aufgelegt zu sein.
Unserer telefonischen Vereinbarung nachkommend, war ich zwei Tage später nach Winterthur aufgebrochen. Während der immerhin einige Stunden währenden Bahnfahrt hatte ich mich innerlich auf das Treffen vorbereitet; denn kaum etwas ist in meinem Beruf bitterer, als sich den Wert der Informationen, die zu erhalten man bemüht ist, vom Gesicht ablesen zu lassen. Da es nicht minder töricht wäre, einem Verhandlungspartner gegenüber auch nur die leiseste Spur der Vorfreude zu zeigen, die einen erfüllt, erwartet man, seinem Ziel endlich wieder einen Schritt näher zu kommen, hatte ich einige Anstrengung darauf verwandt, diese Empfindung aus meinem Gefühlsleben zu verbannen. Als der Zug gegen Mittag im Bahnhof einlief, fühlte ich mich ausreichend gegen die meisten mir bekannten Überraschungen und Risiken gewappnet.
Kaum dass ich aus der Bahnhofshalle herausgetreten war, stand ich inmitten einer quirligen, auf und ab wogenden Menschenmenge, deren Lebensfreude nicht einmal von den unzähligen Omnibussen getrübt werden konnte, die in mir nicht nachvollziehbarer Ordnung und mit recht gewagt erscheinender Geschwindigkeit durch das Gewühl hindurch kurvten. Es war nicht zu übersehen, dass man etwas feierte; doch zu welchem Anlass, das ließ sich nicht erkennen. In der Gewissheit, mich um weitaus wichtigere Angelegenheiten kümmern zu müssen, glaubte ich auch, sehr wohl darauf verzichten zu können, es in Erfahrung zu bringen. Zudem war ich in Eile, ich wollte rechtzeitig zu dem vereinbarten Treffpunkt gelangen. Es war dann in der Tat auch gar kein so einfaches Unterfangen, die in einer abgelegenen, beinahe lichtlosen Sackgasse verborgene Gaststätte, in der die Verabredung stattfinden sollte, ausfindig zu machen, denn der raue, kehlige Dialekt der von mir um Hilfe angesprochenen Passanten erschloss sich mir nur bruchstückhaft.
Nachdem ich mit einer nur unwesentlichen Verzögerung dort eingetroffen war, musste ich feststellen, dass außer einem gelangweilt Besteck polierenden Kellner niemand sonst in dem Lokal weilte, in das ich im Übrigen aus eigenem Antrieb heraus wohl niemals einen Fuß hineingesetzt hätte. Da ich befürchtete, womöglich doch zu spät gekommen zu sein, erkundigte ich mich danach, ob bis vor kurzem jemand da gewesen sei, dem man angesehen habe, dass er auf jemanden warte. Nachdem der Kellner meine Frage verneint hatte, bestellte ich eine Tasse Kaffee, entnahm dem Zeitungsständer eine örtliche Tageszeitung und ließ mich an einem der Tische nieder, an dem neu Eintretende zwangsläufig vorüber laufen mussten. Doch es kam niemand. Je länger ich wartete, desto mehr stieg meine Spannung. Ich legte das nicht übermäßig interessante Lokalblatt zur Seite und begann, mich in allerhand teils recht gewagten Mutmaßungen darüber zu verlieren, was das wohl für Unterlagen sein könnten, die mir alsbald vorgelegt werden würden. Als die dritte Tasse Kaffee allmählich zur Neige ging, wurde ich vom Tresen her gerufen, ich möge kommen, da man einen Anruf für mich in der Leitung habe. Der Stimme nach war es unzweifelhaft der selbe Mann, mit dem ich vor zwei Tagen telefoniert hatte. Es tue ihm leid, sagte er, doch er habe es sich mittlerweile anders überlegt. Sich den Aufwand einer Begründung für sein eigenartiges Verhalten ersparend, fügte noch ein spöttisches „Nichts für ungut“ hinzu und legte kurzerhand auf. Während ich zu dem Tisch, an dem ich gesessen hatte, zurückging, wusste ich nicht, ob ich des sinnlos vergeudeten Tages wegen in Wut geraten, oder aber es mit der meinem Alter angemessenen Gelassenheit hinnehmen sollte, jemandem auf den Leim gegangen zu sein, der offenkundig selber nicht wusste, was er wollte. Von dem erstaunlich wohlschmeckenden Kaffee in eher milde Stimmung versetzt, rang ich mich zu dem Entschluss durch, das erlittene Missgeschick von der heiteren Seite aus zu betrachten und für ein, zwei Stunden durch den in den Straßen herrschenden Trubel zu schlendern. Es mochte doch sein, dass diese mir bislang unbekannte Stadt etwas aufzubieten hatte, was einem nicht alle Tage begegnete.
Ich ließ mich durch die bemerkenswert sauberen und wohl aufgeräumten Gassen treiben, immer dort entlang, wo mir ein Durchkommen noch am ehesten möglich schien. Sehr bald hatte ich auch begriffen, dass es sich um ein multikulturelles Musikfest handelte. Allerorten waren exotische Klänge zu vernehmen, und Menschen aus aller Herrn Länder wandelten in Scharen umeinander.
Meinem Bestreben, einen Sitzplatz in einem der vielen Straßenrestaurants zu ergattern, um bequem sitzend den bunten Reigen an mir vorüber ziehen zu lassen, war für längere Zeit kein Erfolg beschieden. Endlich fand sich einer, allerdings in Reichweite zu einer in leuchtend bunte Gewänder gekleideten Gruppe, die mit allerlei Trommeln sowie einigen mir völlig unbekannt klingenden Blas- und Schlaginstrumenten eine Musik erzeugte, deren befremdlicher Klang und Rhythmus mir nicht unbedingt behagte. Meiner müden Füße zuliebe ließ mich trotzdem nieder. Ein auf meinem Tischchen vorgefundener Handzettel klärte mich darüber auf, es handele sich um die Musik eines in seiner Existenz bedrohten zentralafrikanischen Stammes; dessen Namen mir allerdings mittlerweile entfallen ist.
Ich muss zugeben, dass mich der Anblick der vielleicht zehn oder auch ein wenig mehr Mitglieder der Musikgruppe nicht wenig amüsierte, insbesondere, als sie allesamt von eher kurzem, gedrungenem Wuchs waren, helle, rosafarbene Haut hatten und, verrutschten ihre bunten Kappen, sah man es, akkurat geschnittene und wie mit dem Lineal gescheitelte Frisuren trugen. Mir schien, dass sie sich beträchtliche Mühe gaben, die geschmeidigen Bewegungen nachzuahmen, die – ob zu Recht oder zu Unrecht, ich weiß es nicht – den Angehörigen der Naturvölker nachgesagt werden; allerdings fiel dadurch ihre Schwerfälligkeit umso mehr auf. Ihre Musik hingegen, die zwar immer wieder das selbe Thema aufnahm, allerdings in mit jedem Mal leicht verändertem Ablauf, begann mir wider Erwarten irgendwann zuzusagen. Ich schloss die Lider und ließ mich auf das Spiel der Klänge ein.
Als ich die Augen nach einiger Zeit wieder öffnete, mochte ich ihnen nicht mehr trauen, so verblüffend war der Anblick, der sich mir bot. Frontal vor den Musikern stand eine ganze Anzahl hochgewachsener, schlanker Schwarzafrikaner, die allesamt in vorzüglich geschneiderte Geschäftsanzüge von gedeckter Farbe gekleidet waren. Ein jeder von ihnen trug einen Aktenkoffer aus erlesenem Leder in der Hand, einen Trenchcoat über dem angewinkelten Arm und eine verspiegelte Sonnenbrille im Gesicht. Ihre Hüften kreisten und ihre Füße tänzelten im Takt der Musik. Immer wieder raunten sie sich gegenseitig etwas zu, wiesen mit den Fingern mal auf den einen, dann auf den anderen Musiker und lachten; der Sonnenbrillen wegen war ihren Gesichtern allerdings nicht zu entnehmen, was in ihnen wohl vorgehen mochte. Als hätten sie sich abgesprochen, stellten alle zur gleichen Zeit ihre Aktenkoffer zu Boden, öffneten sie und entnahmen ihnen Videokameras und Fotoapparate – soweit ich das erkennen und beurteilen konnte, nur hochwertigste, neueste Geräte asiatischer Herkunft – und begannen, die Musiker aufzunehmen.
Wohl eine gute Viertelstunde lang starrte ich dem ungewöhnlichen Schauspiel fasziniert zu. Als die Musik zu Ende war, packten die Afrikaner ihre Apparate wieder ein und verschwanden in der Menge.
Dieses doch sehr befremdliche Bild noch vor Augen, begab ich mich kurz darauf zum Bahnhof, denn es war Zeit, die Heimreise anzutreten.
Gewiss, die Informationen, die mir zugesagt worden waren, hatte ich nicht erhalten; dafür war mir wieder einmal, und das in unnachahmlicher Weise, vor Augen geführt worden, dass nicht wenige der im Laufe eines Lebens erworbenen Vorstellungen mit der Wirklichkeit oft nicht mehr allzu viel zu tun haben, und dass die Rollen, die uns so oft wie auf den Leib geschneidert scheinen, beinahe mühelos untereinander vertauscht werden können.

Robert A. Berwitz
 



 
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