aire

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Mimi

Mitglied
aire


ich ging nicht leise
wuchs aus den wänden
zwischen fuge und wort
wie gras aus stein
ließ den wind
mich tragen

am offenen fenster
auch wenn er zerrte


war längst nur spur
die sich selbst verwischte
du wolltest mich leise
ein sturm im glas

deine hand
so rau


du sprachst vom bleiben
eine tulpe im herbst
ich lauschte dem wind
als wäre das gehen
mein gebet

und du
ein echo im morgen
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Mimi,

schön, etwas von dir zu lesen. Und nicht nur "etwas", sondern ein besonderes Gedicht. Meine Güte, ist das schön und tief und berührend. Ich hatte heute einen Streit und bin eigentlich sehr wütend, aber deine Zeilen haben die Kraft, mich zu beruhrigen. Danke schon mal dafür.

Und dabei steckt selbst so viel Kampf in deinen Versen. Aber würdig, ruhig und kraftvoll förmlich. Gras, welches aus Stein wächst - was für ein Bild! Es kann ja auf diesem Boden eigentlich nichts wachsen, Stein ist totes Material. Aber das Lyrische Ich hat diese Herkunft überlebt - um jetzt wirklich zu leben.

Auch sehr schön:

als wäre das gehen
mein gebet
Und dann ist da noch eine andere Person, ein "Du". Gekennzeichnet durch Härte (deine Hand so rau), Unterdrückung (du wolltest mich leise - also nicht frei, nicht aufbegehrend), Vereinnahmung (du sprachst vom bleiben). Aber das Lyrische Ich findet den Weg in die Freiheit, kann sich lossagen, war wütend (ein sturm im glas), war stark (ich wuchs aus den wänden) und ist nun frei, denn die Geschichte ist im Präteritum geschrieben. Doch die Wunden sind tief, und auch, nach dem alles vorbei ist, erinnert sich das Lyrische Ich noch an Früheres (und du/ein echo im morgen).

Aber obwohl diese Bezüge zu dieser anderen Person, dem "Du", ihren Raum einnehmen, ihren Schmerz mit sich tragen und in der Erinnerung noch manchmal aufflammen - dieses Gedicht erzählt vor allem von der Stärke und der Würde und der Lebendigkeit des Lyrischen Ichs. Das überlagert alles, das bleibt bestehen, das bildet ein neues Fundament. Und das ist wunderschön! Ein Gedicht wie ein Kuss - mit der Botschaft der Lebendigkeit und der Freiheit!

Sehr gern gelesen!

Liebe Grüße
Frodomir
 

sufnus

Mitglied
Hey Mimi!
Bei diesen berührenden und schönen Zeilen reicht mein Verständnis und subjektiv gefärbtes Einfühlen so weit, dass ich Sorge habe, das Wesentliche nicht zu erfassen. Daher lass ich sie bei mir noch etwas tiefer einwirken und vorab nur die Frage zum Titel: Ich dachte erst an eine Air wie bei J. S. Bach, also eine Aria/Arie (im Nicht-Opern-Sinn), aber wegen des e am Ende ist wohl doch etwas anderes (Französisches?, Spanisches?, Italienisches?) gemeint bzw. ich steh auf etwas auf dem Schlauch... :)
LG!
S.
 

Ubertas

Mitglied
Liebe Mimi,
ich kann mich den Worten von Frodomir und sufnus nur anschließen.
Was für ein Gedicht! Frodomir hat es auf den Punkt gebracht: es ist wie ein Kuss.
Zu deinem Gedicht hätte ich noch eine weitere Frage und wollte dich dazu per PN kontaktieren. Leider hat es nicht geklappt.
Wäre es möglich, dass du mir eine Nachricht sendest?
So und jetzt lese ich dein Gedicht gleich noch einmal.
Begeisterte Grüße, ubertas
 

Mimi

Mitglied
Ihr Lieben, @Frodomir, @sufnus, @Ubertas,
vielen Dank euch allen für eure Rückmeldungen zu meinem Gedicht.
Es berührt mich zu lesen, wie das Gedicht bei euch wirkt und welche Bilder und Gefühle ihr darin findet.
Eure Rückmeldungen zeigen mir, dass die Zeilen einen Raum öffnen, in dem jeder für sich etwas entdecken kann – sei es Stärke, Loslassen oder diesen Moment des Werdens im Weitergehen, sozusagen das Prozesshafte darin lyrisch verpackt .

Der Titel aire ist bewusst gewählt. Ja, er stammt aus dem Spanischen und bedeutet „Luft“.
Er passt, weil das Gedicht ursprünglich (wie viele meiner Texte) aus dem Spanischen übersetzt wurde und weil Luft etwas Flüchtiges, "Unfassbares" auf metaphorischer Ebene ist; etwas, das man nicht greifen kann, das aber spürbar ist/bleibt.
Für mich spiegelt er genau die Bewegung und Offenheit des Textes wider: das Gehen, das Loslassen und vor allem "das Atmen" danach.

Es freut mich, dass der Titel offenbar bei euch Fragen und Assoziationen geweckt hat, so wie das Gedicht selbst.
Danke, dass ihr euch Zeit genommen habt, die Zeilen wirken zu lassen und eure eigenen Eindrücke mit mir teilt.

Dankeschön an die vielen Leser & Bewerter und natürlich auch an @Franke für die Empfehlung.

Gruß
Mimi
 



 
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