Aletsch - Sonett

5,00 Stern(e) 4 Bewertungen

Walther

Mitglied
Aletsch

Am Ende tropft der Tannen Weiß ja doch
Nur Löcher in den Schnee, bevor er geht,
Obwohl der Schneehang anderes erfleht:
Weit oben auf dem Berner Jungfraujoch

Tropft eine Krüppelkiefer nie ein Loch.
Man steht und sieht nur ewig Weiß und Stein
Und kann mit sich im Schnee alleine sein.
Am Jungfraujoch gibt‘s einen Schweizer Koch,

Der schnetzelt Zürich klitzeklein und brät
Es an und schwenkt es unter Pilz und Rahm.
Der Teller trägt am Rösti-Dreieck schwer.

Wer dort am Tisch die Schweizer Art verrät,
Wird ewig faul und furchtbar lendenlahm
Erkennen und verstehn: Der Berg ist leer.
 

Johnson

Mitglied
Hallo Walther,

ist das ein italienische Sonett oder eine italienische Sonette.Ist das Italienisch? Die ersten acht Versen bilden das Oktett. Und die letzten sechs das Sextett. Mich interessiert der Aufbau und ob ich mit meiner Analyse des Aufbaues richtig liege….
Vom Inhalt holt es mich leider nicht ganz ab.
 

sufnus

Mitglied
Hey Walther,

ein sehr schönes Sonett im klassischen Oktett/Sextett-Aufbau (um J's nachgängige Lesart zu bestätigen).

Und wenn ich noch kurz beim ersten Teil von J. Frage verweile: walthers Beispiel ist kein Sonett im italienischen Stil (und so etwas ist im Deutschsprachigen auch extrem selten zu finden).
Um den italienischen Stil nachzuahmen, müsste ein Gedicht im silbenzählend-akzentuierenden Stil geschrieben werden und den italienischen Endecasillabo als Struktur verwenden, der im Deutschen schwer hinzubekommen ist. Anders als der Name Endecasillabo vermuten lässt, genügt es nämlich hier nicht, einfach nur elf (endeca...) Silben zu verwenden, sondern es ist eine komplexe Abfolge von Betonungen (deshalb silbenzählend-akzentuierend) und Zäsuren (Sprechpausen innerhalb einer Zeile) einzuhalten. Die Abfolge der Betonungen entspricht dabei keineswegs den deutschen Betonungsregeln eines sog. alternierenden Metrums (z. B. Jambus).
Nebenbefundlich: Walthers Sonett ist durchgängig 10-Silbig und paradoxerweise, wäre das kein Ausschlusskriterium beim italienischen 11-Silbler, denn der darf durchaus auch 10-Silbig oder 12-Silbig sein und gilt trotzdem ein 11-Silbler. Dieser verwirrende Umstand mag andeuten, dass es sich beim Endecasillabo um ein schwieriges Terrain handelt.

Was die (ich wiederhole mich) sehr schönen Zeilen über ein mehrdeutiges kulinarisches Gipfelerlebnis angeht, sind mir nur zwei Kleinigkeiten aufgefallen:
- Die Aussage, dass die Krüppelkiefern nie ein Loch tropfen (im Gegensatz zu den eingangs genannten Tannen) bleibt für mich etwas unklar. Tropfen die kein Loch, weil sie (Klimawandel) nie mehr Schnee tragen - das würde den Folgezeilen widersprechen ("ewig Weiß") oder gibts keine Krüppelkiefertropfung, weil der Schnee nie taut (das wäre botanisch problematisch). Diese etwas eigenartige Krüppelkieferpassage wirkt insofern aufgrund ihrer A-logik ein bisschen formgeschuldet verkürzt und/oder ungenau formuliert.
- Das "erfleht" finde ich als ein wenig aus dem Rahmen fallend, auf eine etwas unkontrolliert anmutende Weise. Ein Reim mit "-weht" wäre hier für mein Liking passender zum sonstigen Duktus.

Wie gesagt: Kleinigkeiten im ansonsten Walther-gemäßen, großen Lesegenuss! Ein bisschen verschmitzt, ein bisschen sarkastisch, durchaus auch mit Meta-Ebenen (am Schluss klingt für mich übrigens fasst ein bisschen der Herbsttag von Rilke an) und mit einem effektvollen Schlusstusch: Der Berg ist leer. Zackbumm. :)

LG!

S.
 

Walther

Mitglied
Hallo Walther,

ist das ein italienische Sonett oder eine italienische Sonette.Ist das Italienisch? Die ersten acht Versen bilden das Oktett. Und die letzten sechs das Sextett. Mich interessiert der Aufbau und ob ich mit meiner Analyse des Aufbaues richtig liege….
Vom Inhalt holt es mich leider nicht ganz ab.
Hi Johnson,
danke fürs reinlesen und kommentieren!
der sehr kenntnisreiche kollege @sufnus hat schon beantwortet, dass es sich nicht um ein sog. "Petrarca-Sonett" handelt. es ist vielmehr ein eher postklassisches kontinentales sonett und damit fast schon modern. :) allerdings sind die klassischen innerarchitektonischen anforderungen schon klar erfüllt. es gibt eben nicht nur den Endecasillabo (= Elfsilbler) zu beachten und die strenge reimstruktur und die weiblichen kadenzen am ende der verse (sonst wird es nichts mit den 11 silben).
vielmehr soll man dem sonett das antagonistische der argumentation (das sog. dialoggedicht) anmerken. selbst wenn die äußere form wie ein sonett aussieht, muss es nämlich noch lang keines sein.
lg W.
Hey Walther,

ein sehr schönes Sonett im klassischen Oktett/Sextett-Aufbau (um J's nachgängige Lesart zu bestätigen).

Und wenn ich noch kurz beim ersten Teil von J. Frage verweile: walthers Beispiel ist kein Sonett im italienischen Stil (und so etwas ist im Deutschsprachigen auch extrem selten zu finden).
Um den italienischen Stil nachzuahmen, müsste ein Gedicht im silbenzählend-akzentuierenden Stil geschrieben werden und den italienischen Endecasillabo als Struktur verwenden, der im Deutschen schwer hinzubekommen ist. Anders als der Name Endecasillabo vermuten lässt, genügt es nämlich hier nicht, einfach nur elf (endeca...) Silben zu verwenden, sondern es ist eine komplexe Abfolge von Betonungen (deshalb silbenzählend-akzentuierend) und Zäsuren (Sprechpausen innerhalb einer Zeile) einzuhalten. Die Abfolge der Betonungen entspricht dabei keineswegs den deutschen Betonungsregeln eines sog. alternierenden Metrums (z. B. Jambus).
Nebenbefundlich: Walthers Sonett ist durchgängig 10-Silbig und paradoxerweise, wäre das kein Ausschlusskriterium beim italienischen 11-Silbler, denn der darf durchaus auch 10-Silbig oder 12-Silbig sein und gilt trotzdem ein 11-Silbler. Dieser verwirrende Umstand mag andeuten, dass es sich beim Endecasillabo um ein schwieriges Terrain handelt.

Was die (ich wiederhole mich) sehr schönen Zeilen über ein mehrdeutiges kulinarisches Gipfelerlebnis angeht, sind mir nur zwei Kleinigkeiten aufgefallen:
- Die Aussage, dass die Krüppelkiefern nie ein Loch tropfen (im Gegensatz zu den eingangs genannten Tannen) bleibt für mich etwas unklar. Tropfen die kein Loch, weil sie (Klimawandel) nie mehr Schnee tragen - das würde den Folgezeilen widersprechen ("ewig Weiß") oder gibts keine Krüppelkiefertropfung, weil der Schnee nie taut (das wäre botanisch problematisch). Diese etwas eigenartige Krüppelkieferpassage wirkt insofern aufgrund ihrer A-logik ein bisschen formgeschuldet verkürzt und/oder ungenau formuliert.
- Das "erfleht" finde ich als ein wenig aus dem Rahmen fallend, auf eine etwas unkontrolliert anmutende Weise. Ein Reim mit "-weht" wäre hier für mein Liking passender zum sonstigen Duktus.

Wie gesagt: Kleinigkeiten im ansonsten Walther-gemäßen, großen Lesegenuss! Ein bisschen verschmitzt, ein bisschen sarkastisch, durchaus auch mit Meta-Ebenen (am Schluss klingt für mich übrigens fasst ein bisschen der Herbsttag von Rilke an) und mit einem effektvollen Schlusstusch: Der Berg ist leer. Zackbumm. :)

LG!

S.
lb sufnus,
ich bin mal wieder geplättet. es ist toll, dass du dabei bist. danke.
zu deinen bemängelungen, die dich selbst nicht am lesevergnügen richtig hindern konnten. in der tat kann ein hang keinen schnee erflehen, aber der, der einen skilift dort betreibt, schon. die krüppelkiefer liebe ich, weil sie diese herrlichen assoziationen auslöst und eben bis zur wald- und baumgrenze im gebirge zu finden sind. mir ist durchaus bewusst, dass das bild ein wenig des nachdenkens bedarf. die Eigernordwand ist über dieser grenze, der Aletsch auch.
meine dichtwerkcollagen führen in die untiefen des sprachspiels und des bösen erwachens. genau das aber sollen sie ja.
lg W.

der dichter dankt @fee_reloaded, @Tula, @manehans und @sufnus für ihre freundliche leseempfehlung!
 



 
Oben Unten