All He Needs Is Love - Ein Mann sucht sein Glück 17

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Frank stürzte sich kopfüber in die Verkaufspraxis. Zunächst besuchte er gute alte Kunden seiner Firma, um ihnen weitere Versicherungen zu verkaufen; das war am einfachsten, weil man da von Anfang an mit Wohlwollen rechnen konnte. Dann suchte er schlechte alte Kunden auf, solche, die völlig unterversichert waren oder sogar ihre Verträge gekündigt hatten. Das war schon schwieriger, darunter gab es manche unfreundliche Zeitgenossen, mit denen nicht gut Verträge schreiben war. Und dennoch, selbst bei diesen hatte Frank Erfolg. Ja, er hatte so viel Erfolg, dass es ihn selbst überraschte. Und da zeigte es sich wieder. Montag schrieb die Wahrheit: "Erfolg macht erfolgreich. Genauso wie es einen Kreislauf der Misserfolge gibt, wo die Niederlagen sich aufschaukeln und verstärken, so gibt es einen Erfolgskreislauf." Und so wurde Frank immer erfolgreicher; er war sich schließlich seines Erfolges so sicher, dass er ohne irgendwelche Zweifel oder Ängste bei den Kunden vorsprach. Dabei kam er im Wesentlichen mit zwei Strategien aus: die harte Tour und die sanfte Tour, für "die Harten und die Zarten". Bei freundlichen oder schüchternen, zartbesaiteten Leuten setzte er auf seine positive Ausstrahlung, getreu dem Ratschlag des "Positiven Versicherungsverkäufers": "Machen Sie dem Kunden klar, dass Sie sein Freund sind, wenn er nur unterschreibt. Und dass er dann ebenso ein strahlender Erfolgstyp werden kann wie Sie." Auf diese Weise hatte Frank bald jede Menge Freunde und Freundinnen.
Harten Brocken kam er dagegen auf die harte Tour. Da war er nicht der gütige, sondern der strenge Vater. Denn er hatte herausgefunden: Auch, ja gerade aggressive, rebellische Menschen hatten ein Gehorsamsprogramm in sich. Man musste nur den richtigen Knopf finden und drücken, dann unterschrieben sie kreuzbrav. Natürlich klappte das nicht immer: Manche Kunden reagierten auf sein autoritäres Gehabe mit gesteigerter Grobheit; einige Male flog er auch hochkant heraus. Das kratzte aber nicht an seinem Se1bstbewusstsein. Nein, er wurde immer ungenierter. Er rief Bekannte an und forderte: "Entweder du schließt selbst eine Versicherung bei mir ab, oder du gibst mir die Adresse von einem deiner anderen Bekannten." Schließlich sprach er sogar Personen an, die er ganz flüchtig kannte. Nur "Klinkenputzen", das wollte er nicht, aber das hatte er auch nicht nötig. Er verdiente jetzt über 3.000 Euro im Monat durch seinen Versicherungsverkauf und damit mehr als in seinem eigentlichen Hauptjob, als Sachbearbeiter im Innendienst. Sein gesteigertes Selbstbewusstsein zeigte sich aber am stärksten daran, dass er nicht mehr in Verlegenheit geriet, wenn ihn jemand fragte, was er eigentlich die ganze Zeit an seinem Ohrläppchen mache. Sondern er entgegnete dann cool: "Ich betreibe chinesische Ohr-Akupunktur. Sollten Sie auch einmal probieren."
Nun war auch die Zeit für den Porsche gekommen. Nachdem er vergeblich nach einem bezahlbaren Turbo gesucht hatte, entschied er sich für einen billigeren Carrera, aber im Turbo-Look mit verbreiterten Kotflügeln und großem Heckspoiler. Das Aussehen, der Schein war entscheidend, das hatte Frisch ihnen doch beigebracht (mein Gott, wie würde der Porsche seine BMW-Seele verstimmen!), außerdem konnte sich Frank so eine reichhaltige Ausstattung leisten. Zunächst, es handelte sich um einen 911 Carrera 4S PDK Sport-Chrono 4 mit Allradantrieb, das war schon eine Besonderheit erster Güte. Mit PDK-7-Gang Doppelkupplungsgetriebe, Bi-Xenon-Scheinwerfern, Volllederausstattung, PCM Navigationssytem, PASM Porsche Active Suspension Management und allmöglichem Tuning. Der Porsche besaß 385 PS, beschleunigte in 4,7 sec von 0 auf 100 km/h und erreichte eine Spitzengeschwindigkeit von 289 km/h - der absolute Wahnsinn. Zwar war er nicht mehr taufrisch, aber - wie der Händler versichert hatte - "technisch und optisch in lA-Zustand". Und er sah wirklich wie neu aus, strahlte in einer auffallenden Hellblau-Metallic-Sonderlackierung, Über 49.000 € hatte Frank bezahlt, das war das Äußerste, was er sich leisten konnte und wollte; aber dieser Traum auf vier Rädern schien es ihm wert.
Als Karin den Porsche das erste Mal sah, wurde sie blass. Arme Karin, dagegen sah auch ihr schicker BMW ziemlich bescheiden und alt aus. Als Pinky-John Frank im Porsche erblickte, wurde er dunkelpink, jedenfalls deutlich pinkiger als sein AMG-Tuning-Mercedes. Es wurde ihm wohl in einer Schreck-Sekunde bewusst, dass mit Frank jetzt als Konkurrent um die Führung der hiesigen Money-Gruppe zu rechnen war. Überhaupt erstaunlich, wieviel der Porsche bewirkte. Sicherlich, die Leute in Franks Umgebung hatten seine positiven Veränderungen schon vorher bemerkt, hatten wahrgenommen, wie viel selbstbewusster und optimistischer er auftrat, und darauf reagiert. Aber sein Porsche brachte das alles auf den Punkt, machte sein neues "Self Design" unübersehbar und auch unüberhörbar, der Sportauspuff dröhnte schließlich laut genug.
Im Büro tuschelte man und vor allem frau, wenn er - meistens zu spät - kam. Aber niemand tuschelte darüber, dass er zu spät kam. Nein, er war jetzt der Star, der sich Sonderrechte erlauben konnte. Auf der Versicherungsverkäufer-Rangliste der Gesellschaft, die im Flur aushing, besetzte er diesen Monat die Top Position; so kurz nach dem Einstieg in den Außendienst, und auch nur nebenberuf1ich, das war fast sensationell. Kein Wunder also, dass Abteilungsleiter Toupet um ihn herumscharwenzelte, die Freundlichkeit in Person. Er bot ihm ein eigenes, größeres Büro an und besorgte ihm einen bevorzugten Stellplatz auf dem Firmenparkplatz. Frank fand das zwar ganz nett, aber es rührte ihn nicht zutiefst. Denn offensichtlich handelte Toupet vor allem aus der Sorge, Frank könnte ihm seinen Posten streitig machen. Doch Frank hatte ganz andere Sorgen: Frau Alt. Sie verfolgte ihn mit ihrem Krönungskaffee derart, dass er am liebsten irgendwo Asyl beantragt hätte. Jedenfalls lehnte er das Kaffee-Angebot immer wieder eisern ab. Weniger aus Rache dafür, dass sie so getan hatte, als sei sie in ihn verliebt, und dies später als Sektlaune, schlimmer als Unzurechnungsfähigkeit infolge Trunkenheit erklärt hatte. Nein, er befürchtete, sie war drauf und dran, sich jetzt wirklich in ihn zu verknallen; und er hatte doch keinen Knall, sich mit ihr einzulassen.
Selbst Karlo zeigte unverhohlene Bewunderung, für den Porsche, aber auch für Frank. Am Anfang hatte er sich zwar aufgelehnt, versuchte gegen Franks neue Dominanz anzukämpfen. Aber das war automobilistisch wie personalistisch aussichtslos. Karlo fuhr einen VW Scirocco TSI Sport, immerhin mit 160 PS. Sicher, ganz nett, gut gemeint, aber doch nur ein Möchtegern-Sportwagen. Kein Vergleich mit Franks Allrad-Porsche; der war nicht gut gemeint, sondern gut, einfach gut. Diese Überlegenheit brauchte im Grunde nicht bewiesen zu werden. Aber es schadete auch nicht, sie bei passender Gelegenheit zu demonstrieren. Und diese günstige Gelegenheit ergab sich, als sie beide einmal genau zur gleichen Zeit vom Parkplatz abfuhren. Frank ließ Karlo "verhungern", er "machte ihn nass", der 911 zeigte dem Scirocco die Hinterleuchten. Frank fuhr sogar extra einen Umweg über die Stadtautobahn, um Karlo für alle Zeiten klarzumachen, wie hoffnungslos er hinterherfuhr.
Nachdem die Rangordnung auf der Straße geklärt war, gab Karlo im Büro freiwillig nach. Zwar muckte er hin und wieder auf, doch Frank drängte ihn mit seinem neuen Selbstbewusstsein sofort ins zweite Glied zurück, so wie der Porsche den VW. Karlo fragte ihn sogar nach dem Geheimnis seines Erfolges, so wie man einen Lehrmeister fragt. Doch Frank hatte wenig Lust, ihm seine Positivmethoden im Einzelnen zu verraten, wer weiß ... Stattdessen - und das war der Höhepunkt - verkaufte er Karlo eine Versicherung, ihm, der doch selbst bei der gleichen Versicherung arbeitete. Und ausgerechnet eine Haftpflichtversicherung: "Ich kann mir vorstellen, dass du mit deiner etwas rauhen, um nicht zu sagen rohen Art manches bei anderen Leuten zerdepperst." Karlo presste die Lippen zusammen, aber schloss die Versicherung ab, wohl in der Hoffnung, dafür näher in Franks Erfolgsgeheimnisse eingeweiht zu werden. Doch Frank kassierte die Provision und schwieg sich aus.
Komplizierter gestaltete sich die Konkurrenz mit Karin. Frank wollte zwar auch ihr überlegen sein, aber nicht zu krass. Denn erstens mochte er sie nicht kränken, und zweitens befürchtete er, das könnte ihrer Liebe zu ihm schaden. Aber die Gefahr hielt sich in Grenzen. Momentan hatten zwar er und sein "Angeberauto" (O-Ton Karin) die Nase vorn, aber das konnte sich schnell ändern. Auch Karin trat viel selbstbewusster auf. Und die Umsätze ihres Versandhandels stiegen rasant; ihr Einkommen hinkte dem Franks nicht viel hinterher. Die Konkurrenz war die eine Sache, die Liebe die andere. Und die Liebe überwog die Rivalität bei weitem. Wann immer das Positive Denken und das "Money Making" ihnen Zeit ließ, umhalsten und küssten sich Karin und Frank. Außerdem: Wenn jeder auch etwas eifersüchtig auf den Erfolg des anderen war, sie bewunderten sich gegenseitig dafür.
"Karinissima, du bist wirklich eine Super Versandfrau, ich meine Geschäftsfrau."
"Frank, du bist echt ein bombiger Vertreter, nein Repräsentant."
So verstand es sich von selbst, dass sie seit einiger Zeit nach einer gemeinsamen Wohnung suchten. Das war schon generell schwierig, in ihrem Fall besonders. Denn je mehr sie verdienten, desto mehr wuchsen die Ansprüche an diese Wohnung. Ihr Verdienst stieg aber außergewöhnlich rasant. So hatten sie vor mehreren Wochen einen Makler mit der Wohnungssuche beauftragt, und dabei gesagt: "Bis zu 1100 Euro Kaltmiete." Kürzlich stellte der Makler ihnen mehrere Objekte vor, doch die konnten ihren gewachsenen Ansprüchen nicht mehr genügen. Sie nannten dem Makler als neues Limit "1400 kalt". Heute rief er nun wieder an und sprach von einer Traumwohnung, genau zum Limit-Preis. Aber es stellte sich schnell heraus, dass diese Traumwohnung nicht einmal eine Doppelgarage für Porsche und BMW besaß. Was also tun? Karin schüttelte den Kopf:

- Also, eine geheizte Doppelgarage, natürlich mit Fernbedienung, das können wir schon erwarten, so hart, wie wir arbeiten. Und sie sollte geräumig sein, damit du gut rangieren kannst, dein Porsche hat ja leider einen reichlich großen Wendekreis.
- (Frank überhörte diese Spitze - scheinbar.) Natürlich muss dein BMW gut trocken stehen; ich glaube, der beginnt bereits an einigen Stellen zu rosten. Aber auch abgesehen von der Garage: Diese Behausung ist unserem Life Style einfach nicht angemessen. Nicht einmal zwei Bäder, der Balkon zu klein und nach Westen, anstatt nach Süden, überhaupt die Gegend ... Was sollen wir machen? Das Limit auf 1700 Euro Kaltmiete erhöhen?
- Vielleicht warten wir lieber noch etwas ab, bis wir uns ein eigenes Haus leisten können, das unserem Self Image und unserem Positiv Niveau entspricht.
- Meinst du ein Haus mieten oder kaufen?
- Ich dachte an mieten. Aber kaufen wäre auch keine schlechte Idee.
- Ich habe eine noch bessere Idee. Wenn es mit unserem Verdienst weiter so rapide nach oben geht, könnten wir uns vielleicht sogar ein Schlösschen leisten, mit großem Garten oder noch toller, mit kleinem Park.
- Mein lieber Frank, jetzt übertreibst du aber. Obwohl: Karin Pfeifer, Schlossbewohnerin, nein Schlossbesitzerin, das klingt gar nicht schlecht, daran könnte ich mich glatt gewöhnen.

Frank fand auch, dass sich das gut anhörte. Trotzdem gab es ihm einen kleinen Stich. Warum sagte sie nicht "Karin Fröhlich" oder wenigstens "Karin Fröhlich-Pfeifer" oder doch zumindestens "Karin Pfeifer-Fröhlich"? Aber über Heiraten hatten sie noch nie gesprochen. Er hatte zwar mal eine Andeutung in diese Richtung riskiert ("schau mal, wie schön diese Brautkleider sind!"), doch es kam keine Reaktion von ihr. Wenn er allerdings ganz ehrlich zu sich war, dann passte es ihm nicht schlecht, dass dieses Thema vermieden wurde. Denn obwohl er sein "Karinchen" innig liebte und sich kaum vorstellen konnte, mit einer anderen Frau zu gehen bzw. zu schlafen, "Heirat", "Ehe", "Ehepaar", das waren einfach Begriffe, die ihn erschreckten oder anödeten, ihn automatisch an grauen Ehealltag, Ehekrach oder sogar Ehehölle denken ließen.
Wenn also Frank und Karin auch kein Ehepaar, sondern nur ein Liebespaar waren, und obwohl sie in ihrer Partnerschaft durchaus konkurrierten, bei den Moneys, im Positron, traten sie als Einheit auf und wurden entsprechend eingeschätzt und benannt: als "Positiv-Pärchen" (freundlich), "Positiv-Paar" (neutral) oder "Positiv-Panzer" (missgünstig). So kletterten sie auch gemeinsam die Rangleiter nach oben, und zwar in beachtlichem Tempo. Ihr neuer, gehobener Rangplatz zeigte sich an vielen Einzelheiten. Nur ein Beispiel: Als sie anfangs in die Positiv-Kneipe kamen, guckten zwar alle neugierig, aber verdeckt, heimlich; keiner schaute offen zu ihnen oder kam auf sie zu. In der zweiten Phase, als sie bekannt, aber nicht besonders wichtig waren, guckte kaum einer auf, wenn sie reinkamen. Und heute? Heute schauten wieder alle, sobald sie nur einen Schritt ins Lokal setzten, aber offen. Es gab ein großes Hallo, man kam auf sie zu, sie hatten einen starken Auftritt.
Naturgemäß stieß ihr Emporkommen nicht bei allen auf ungeteilte Begeisterung, jedenfalls nicht bei den tonangebenden Stars, die einen Verlust an Einfluss befürchteten. Smiling Freddy musste hart daran arbeiten, sein Dauerlächeln durchzuhalten, wenn er sah, wie begeistert "der Positiv-Panzer" begrüßt wurde. Pinky John ließ sich entnervt auch noch die Haare pink einfärben, außerdem ließ er auf seinem Mercedes einen Flügelspoiler montieren, der größer war als die Heckflosse von Franks Porsche, nur um wieder im Mittelpunkt des Gesprächs zu stehen. Babsi Baby schaute Frank tief in die Augen und ließ ihn tief in ihr Dekolleté blicken. Hatte sie sich wirklich in ihn verliebt? Oder wollte sie ihn nur erobern? Allein EDV-Robert schien keine Probleme mit dem Aufstieg des Positiv-Pärchens zu haben. Er berechnete auf seinem Laptop, wieviel Tage, Stunden, Minuten, Sekunden und Zehntelsekunden es noch dauern würde, bis sie unangefochten die oberste Sprosse erreicht hätten. Allerdings gab er diese Information nicht preis, "aus Datenschutzgründen". Übrigens: No. 1 zu sein, hieß bei den Moneys kaum, konkrete Leitungsfunktionen auszuüben. Sondern es bedeutete vielmehr, dass die anderen einen als Trendsetter ansahen, als Meinungsmacher und Modemacher, den sie nachahmten. Wieweit es Frank hier schon gebracht hatte, wurde durch die Schuh-Story eindringlich klar.
Eines Abends war er so in Eile, dass er aus Versehen zwei verschiedene, sogar verschiedenfarbige Schuhe anzog. Als die anderen in der Kneipe das bemerkten, fanden sie es todschick, superpositiv und extracool. Sie schwärmten von der Vielfalt und Buntheit, welche die Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit der ganzen Welt widerspiegelten. Am nächsten Abend trug schon die Hälfte der Kneipenbesucher verschiedene Schuhe. Einige sprachen begeistert von einem ultra-neuen Fuß- und Schuhgefühl. Andere lobten die Befreiung des Fußes aus Uniformität und Monotonie. Die Füße wären wie Zwillinge gewesen, die immer das Gleiche anziehen mussten. Jetzt endlich dürften sie ihre Individualität entfalten und sich selbst verwirklichen - glückliche Füße. EDV-Rob sah die Sache allerdings ganz anders. Für ihn symbolisierte das ungleiche Schuhpaar das Prinzip der Zweiheit, konkret die binäre Logik, also die duale Schaltalgebra eines Computersystems; z. B. brauner Schuh: Strom fließt, blauer Schuh: Strom fließt nicht. Die Bunt-Schuh-Entwicklung verlief schön wie eine mathematische Kurve (deren Namen Frank allerdings vergessen hatte). Sie schaukelte sich innerhalb von drei Tagen auf fast 100% Mitmacher auf (nur Pinky weigerte sich, seine pinkfarbenen Schuhe zu wechseln), um dann allmählich wieder abzuflauen, bis auf 0% - nach zwei Wochen herrschte wieder die gewohnte Schuhmonotonie. Aber auch bei dieser Abwärtsentwicklung nahm Frank entscheidenden Einfluss. Nachdem er an besagtem Abend ungewollt die Lawine losgetreten hatte, trug er natürlich zunächst auch selbst weiterhin verschiedene Schuhe - halb belustigt und halb geschmeichelt.
Doch dann wurde es ihm zu dumm und zu bunt, wie ein bunter Hund herumzulaufen. So verkündete er, nach der Phase der Selbstverwirklichung müssten die Füße jetzt lernen, sich auf der neuen Entwicklungsstufe wieder zu harmonisieren, zur Ganzheit und Integration zurückzufinden. Sprach's und nahm vor versammelter Mannschaft ein neues, total gleiches Schuhpaar aus dem Schuhkarton und zog sie unter steigendem Beifall an. Einige weigerten sich zwar, sich von Frank das Ende der Fußrevolte einfach vorschreiben oder vortreten zu lassen. Aber die meisten folgten ihm sofort, und die rebellischen Füße samt ihrer Besitzer folgten wenig später - alle insgeheim erleichtert, dieses Modeabenteuer überstanden zu haben.
Frank besaß jetzt zwei Dinge, die er sich immer gewünscht hatte: Geld und Macht. Natürlich war beides noch ziemlich begrenzt, er konnte sich nicht wirklich reich nennen, und Macht besaß er in erster Linie nur bei den Moneys. Aber immerhin, im Vergleich zu früher war er ungeheuer reich und mächtig. Fragte sich nur: Hatte er Geld, weil er Macht hatte? Oder hatte er Macht, weil er Geld hatte? Egal. Es kam ihm nur darauf an, beides auszukosten. Und das tat er. Und das taten sie. Denn Karin war früher auch nicht gerade auf Rosen gebettet gewesen, hatte von ihrem schmalen Buchhändleringehalt keine großen Sprünge machen können. Und so bereitete es ihnen beiden einen Heidenspaß, reichlich Geld auszugeben und reichlich damit anzugeben. So speisten sie mindestens einmal pro Woche in einem der teuersten und erlesensten Feinschmeckerlokale der Stadt oder des Umlandes. In der Oper leisteten sie sich den besten Logenplatz, wobei sie sich wiederum den Luxus leisteten, schon in der Pause zu gehen, weil sie noch (die teuersten) Karten für eine Theatervorstellung besaßen - und weil sie von der Oper bereits die Ohren voll hatten. Karin kaufte alle paar Tage neue Edelklamotten, frisch vom Designer, und behängte sich (über)reichlich mit Schmuck. Auch Frank schmückte sich, zwei Ringe an der Hand, ein Goldkettchen um den Hals. Außerdem trug er meistens eine vergoldete Sonnenbrille. Natürlich konnte er auch nicht mehr zum 08/15-Frisör an der Ecke gehen, sondern an seine Haare ließ er nur noch einen Meisterfigaro, einen Haarstylisten allererster Sahne. Obwohl es Frank aus alter Gewohnheit - als Schnäppchenkäufer - schwer fiel, viel Geld für Kleidung auszugeben, hielt er sich tapfer. Um nur von Hemden zu sprechen: zwei neue pro Monat, und zwar mindestens 79 Euro je Hemd, das war sein Limit, darunter lief nichts, da blieb er eisern konsequent.
Leichter gab er Geld für seinen geliebten Porsche aus. Jede Woche wurde der bei einer Spezialfirma für sage und schreibe 130 Euro gehätschelt und gepflegt. Aber das war kein Cent zu viel, denn welche Freude bereitete es ihm immer wieder, in seinem blitzblanken, strahlenden Sportgefährt durch die Gegend zu brettern: "Ich will Spaß, ich geb' Gas", ja er bekam Spaß, und er gab Gas mit dem Bleifuß, fuhr auch in der Stadt schon mal 100 km/h. Natürlich hatte er dabei etwas Angst, erwischt zu werden, aber mit dem positiven Gedanken "mir passiert schon nichts", raste er weiter. Selbst wenn sie ihn ertappten, dann bezahlte er eben, war doch egal: "Ich hab's ja." Außerdem freute er sich diebisch, einmal den supercoolen Spruch abzulassen, den er neulich in einem Film gehört hatte. Da antwortete der in der Stadt gestoppte Fahrer dem Polizisten auf die Frage: "Wie schnell sind Sie gefahren?" "Ich fahre immer 100, dem Wald zuliebe." Natürlich, als umweltbewusster Mensch müsste er langsamer fahren, wegen dem Waldsterben und nochmal wegen dem Waldsterben. Aber verdammt, er hatte einfach Lust zu flitzen, und das allein zählte letztlich. Das war eine echt positive Einstellung. "Mein Auto fährt auch ohne Wald", lachte er. Noch so'n Spruch, den er einmal gehört hatte.
Wenn Frank mit anderen zusammen kam, protzte und prahlte er aus vollem Herzen, stolzierte und posierte, dass es - ihm - eine Freude war. Aber erstaunlicherweise gefiel das auch den anderen. Es war ihm in der Kindheit immer gepredigt worden: Sei schön bescheiden, dann mag dich jeder. Aber das stimmte einfach nicht. Wahrscheinlich trichtern die Erwachsenen das den Kindern ein, weil sie selbst ganz gerne ganz unbescheiden leben, ohne viel Rücksicht auf ihre Kinder; und da ist es dann praktisch, wenn die sich bescheiden und artig verhalten, überlegte Frank. Wie dem auch sei. Er, Frank Fröhlich, machte seinem Namen volle Ehre, er war selbs fröhlicht und brachte Fröhlichkeit in die Gesichter, in die Augen seiner Bewunderer.
Natürlich gab es auch einige Neider, die hinter seinem Rücken (aber doch gerade so laut, dass er es hören konnte und sollte) von "Herrn Neureich" oder "dem eitlen Pfau" sprachen. Aber was kümmern den Mond die Hunde, die ihn anbellen? Oder was kümmern die edle Kunststatue die Hunde, die sie anpinkeln? Nein, er sonnte sich in seinem Glanz und spiegelte sich in den Augen der anderen. Zu seiner Beliebtheit trug auch bei, dass er heute fast ständig glänzender Laune und außerdem in Spendierlaune war, gerne für die ganze Money-Clique einen Drink ausgab. Konnte es schon erstaunen, wie sehr sich sein Lebensgefühl, seine Lebenslaune gesteigert hatte, so verwunderte ihn selbst noch mehr, wieviel vitaler er sich inzwischen fühlte. Und für Karin galt entsprechendes. Obwohl sie beide wirklich viel arbeiteten, beide einen Haupt- und einen Nebenjob ausübten, und obwohl sie wenig schliefen oder ruhten, sie fühlten sich fast immer dynamisch, voller Elan, wie Asterix nach seinem Zaubertrunk. Es wurde schon spekuliert, ob sie auf Koks oder Speed drauf wären, aber sie brauchten kein Kokain, und keine Aufputschmittel, es war die richtige Mischung aus Positivem Denken, Sex und Geld, die bei ihnen so zündete.
Frank fiel auf, dass er lange nicht mehr am Ohr gezupft und somit sein Ohrläppchen arg vernachlässigt hatte. Aber er war inzwischen so selbstsicher, dass er sich dieses nervöse "Erbleiden" fast ganz abgewöhnt hatte. Um nicht völlig aus der Übung zu geraten, zusselte er mit voller Konzentration sein rechtes Ohrkäppchen, doch es brachte ihm nicht mehr viel. Es war zu befürchten, dass er diesen Tick bald völlig aufgeben würde.
Eines Tages traf Frank seinen alten Bekannten Thomas Peters im Posi. Thomas hatte ihm zwar seinerzeit erste Hinweise zum Erlernen des Positiven Denkens gegeben. Aber er hatte ihn auch überheblich, fast geringschätzig behandelt und ihn mit penetranten Aussagen über Psychomüll gekränkt. Von daher überwog Franks Rachsucht bei weitem eine eventuelle Dankbarkeit. "Na warte, mit dir habe ich noch ein positives Hühnchen zu rupfen. Das wird 'das höchste der Geflügel'." Und er ging auf Thomas zu bzw. los.

- Ach, hallo Frank, grüß dich. Alle sprechen von dir in Positivisten-Kreisen, du bist der Aufsteiger der Saison.
- Aufsteiger des Jahres, meintest du wohl. Ja sicher, das bin ich. Intelligenz und Kompetenz, Wissen und Können setzen sich eben einfach durch. Übrigens, von dir spricht keiner. Ich wusste gar nicht, dass man jemand wie dich auch bei den Moneys aufnimmt.
- Nein, ich gehöre bisher einer anderen, kleineren Posi-Gruppe an. Aber vielleicht kannst du doch bei den Moneys etwas für mich tun. Vergiss nicht, ich habe dir doch den Weg zum Positiven Denken gezeigt.
- Natürlich, herzlichen Dank für deine Bücherempfehlungen. Das waren zwar recht verstaubte Titel, aber für den allerersten Anfang haben sie mir wohl nicht geschadet. Frank erinnerte sich, dass Thomas immer so stolz auf seinen Porsche gewesen war, obwohl er nur einen arg bejahrten, kleinen Porsche fuhr, den 924, einen Volksporsche. Hier musste er ansetzen.
- Fährst du immer noch deinen Pseudo-Porsche?
- Was meinst du mit Pseudo-Porsche? Ich fahre einen waschechten 924.
- Richtig, dieser Kleine-Leute-Porsche für Arme. Tuckerst du immer noch mit dieser Kutsche durch die Gegend?
- Was heißt hier Kutsche?! Das ist ein reinrassiger Sportwagen mit toller Ausstattung.
- Aha, was du nicht sagst. Wieviel PS hat er denn? Stimmt es wirklich, dass der nur 125 PS stark ist?
- Nein, ich habe die S-Version mit 160 PS.
- Wie schön für dich. Du musst nur aufpassen, dass dich nicht jeder GTi abhängt. Nebenbei gesagt, mein Porsche kommt auf 385 PS. Aber das würde dich bestimmt fahrerisch überfordern.
- Du hast dich ziemlich verändert, Frank.
- Mag sein, doch reden wir lieber weiter von unseren Autos. Hat deiner eigentlich auch Allrad-Antrieb?
- Nein, wozu? Das braucht man doch in unseren Breiten gar nicht.
- Du wahrscheinlich nicht. Der 924 ist sowieso mehr ein Einkaufswagen bzw. Stadtwagen. Aber ich bin viel unterwegs, komme weit herum, da bringt mir der Allradantrieb zusätzliche Fahrsicherheit und zusätzlichen Fahrkomfort. Na ja, davon verstehst du nichts. Aber wenigstens ABS hat dein Wägelchen doch sicher auch?! Das ist ja schon fast seit der Steinzeit Standard.
- Nein, das war mir damals als Sonderausstattung zu teuer.
- Sicher, sicher. Bei deinem bescheidenen Einkommen musst du mit den Kröten haushalten. Hast den Wagen wohl auf Pump gekauft und musst ihn jetzt immer noch abstottern. Pass auf, kaum hast du die letzte Rate bezahlt, muss die Klapperkarre bereits zum Schrottplatz.
- Sagtest du etwa "Karre"?
- Nun reg dich mal nicht auf, mein Alterchen. Ich habe doch nicht gesagt, dass du zum Schrott gehörst, obwohl zum alten Eisen ... na, lassen wir das. Bleiben wir besser bei dem erbaulichen Auto-Thema. Bei meinem Porsche habe ich Wert darauf gelegt, dass er einerseits ein elektrisches Dach, andererseits aber auch eine - automatische - Klimaanlage besitzt. So kann ich ihn stets optimal lüften und temperieren. Was für eine Klimaanlage hat denn deiner, eine manuell zu regelnde oder auch eine automatische?
- Weder noch.
- So? Macht auch nichts. Das würde in deinen Oldtimer ohnehin gar nicht passen.
- Oldtimer? Gut, der Wagen ist 24 Jahre alt Jahre alt, aber top gepflegt. Übrigens hat er zur Lüftung ein Sonnendach, mit dem komme ich bestens zurecht.
- Gratuliere. Hol’ dir bei der Zugluft bloß keinen Schnupfen.
- Frank, was ist mit dir los? Warum bist du so gemein zu mir? Was habe ich dir getan? Dabei erhoffte ich mir eigentlich Hilfe von dir. Es geht mir nämlich gar nicht mehr so gut. In letzter Zeit fällt es mir immer schwerer, positiv zu denken; ich brauche alle meine Kraft, um die negativen Gefühle zu stoppen. Kannst du mir vielleicht einen Rat geben?
- Ja mein Lieber, das kann ich. Und der Rat ist sogar kostenlos, denn es ist der gleiche, den du mir damals gabst, als ich dich um Hilfe bat. Du musst eben deinen Seelenmüll ausleeren oder - anders gesagt - deine Müllseele gründlich entsorgen. Bei deiner Psycho-Verschmutzung dürfte das allerdings äußerst schwierig werden; ich denke da an Sperrmüll oder Sondermüll.

Damit endete das Gespräch. Frank war zwar bewusst, dass er recht hart reagiert hatte. Aber er sagte sich: "Thomas wird sich schon alleine wieder hochrappeln. Außerdem, ich bin eben konsequent, ziehe eine Sache gründlich bis zum Ende durch, und das gilt auch für eine Rache. Was soll's überhaupt? In meinem Leben ist kein Platz für Grübeleien oder gar Schuldgefühle, ich lebe positiv.“ Das tat er dann auch weiterhin. Und eine Zeitlang genoss er dieses Leben in vollen Zügen.

Aber allmählich, fast schleichend stellte sich ein irgendwie schales Gefühl ein, ein Gefühl der Leere. "Ich kann wirklich glücklich sein, ich habe fast alles erreicht, und den schäbigen Rest schaffe ich mit links", sagte er zu sich. Doch es blieb das Gefühl, dass etwas fehlte. Nur was? Das konnte er nicht genau sagen, aber jedenfalls verlief sein Leben zu oberflächlich. Lust und Laune, Luxus und Lachs, das konnte doch nicht alles sein; Spaß und Späßchen, Spott und Schadenfreude, die reichten nicht als Lebenssinn. Auch seine Money-Freunde (waren das denn wirklich Freunde?), die er bisher als so amüsant und "posig" erlebt hatte, kamen ihm jetzt manchmal langweilig oder albern vor.
 



 
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