Stefan Sternau
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Frank zog sich ein paar Tage ganz zurück und dachte nach. Es war ja gut und schön, wenn er eine neue Lehre des Positiven Denkens kreieren wollte, aber was sollten eigentlich die Inhalte dieser Lehre sein? Er zog eine Bilanz seiner bisherigen Einsichten:
Bei den Positivisten-Moneys drehte sich alles nur ums Geld. Ihnen fehlte das geistige und religiöse Element. Außerdem waren sie reichlich rücksichtslos, egoistisch, ja aggressiv, es mangelte ihnen an Sanftheit und sozialer Einstellung.
Bei den Lichtis wurde dagegen nur Wert auf die geistige Entwicklung gelegt. Sie sagten, Geld sei nicht wichtig; es hatte sich aber gezeigt, dass ihnen das Materielle durchaus wichtig war, was sie nur nicht wahrhaben wollten. Ähnlich war es mit ihrem Bekenntnis zur permanenten Friedfertigkeit. Damit verdrängten sie offensichtlich nur ihre feindseligen Seiten, die sich dann aber plötzlich - wie bei Bruder Ludwig - entluden.
Frank stöhnte, es war eine schwere Geburt, doch dann kam ihm plötzlich der positive Geistesblitz: Ich muss diese beiden Richtungen miteinander kombinieren; denn sie ergänzen sich, sie bilden erst zusammen ein harmonisches Ganzes.
Frank fiel ein, was er über Polarität gehört hatte. Die war bestimmt durch zwei gegensätzliche Pole, die aber erst zusammen die Ganzheit ausmachten. Vor allem wurde immer von der Polarität zwischen dem weiblichen Yin und dem männlichen Yang gesprochen. Die Moneys mit ihrem Geld- und Machtstreben waren deutlich männlich geprägt; die sanften Lichtis - die auch nicht zufällig von einer Frau geleitet wurden - repräsentierten dagegen den weiblichen Pol.
Frank formulierte: Mein Positiv-System fordert, dass wir nicht entweder männlich oder weiblich denken bzw. leben, sondern sowohl als auch. Es ist eine großartige Synthese von Geld + Gott, Reichtum + Religion, Erfolg + Erleuchtung, Moneten + Mystik. Dabei soll keiner der beiden Pole bevorzugt werden, sie sind gleichberechtigt, und somit ist unsere Aufgabe, sie in einem Gleichgewicht zu halten. Oder abwechselnd mal mehr dem einen Pol und dann wieder dem anderen zu frönen, so dass sich jedenfalls insgesamt ein Ausgleich ergibt. Das gilt für Männer und für Frauen: An Yang-Tagen fordert man oder frau vom Chef ein höheres Gehalt, stellt den lärmenden Nachbarn zur Rede oder vergnügt sich mit Holz hacken. Wenn frau (man) ihre (seine) Yin-Tage hat, sind Blumen gießen, ein Museumsbesuch oder ein tränenreicher Liebesfilm angesagt.
Frank war vor Begeisterung aufgesprungen und ging mit großen Schritten durch sein Wohnzimmer: Welch eine großartige Positiv-Brücke hatte er da geschlagen! Jetzt brauchte er nur noch einen angemessenen, würdigen Namen für seine Schöpfung. Spontan fiel ihm ein: "Positiv-Polarität". Ja, das war es. Er würde sein System "die einzig wahre positive Polarität" nennen. Bevor er sein grandioses Positiv-System aber weitergeben und lehren konnte, musste er es erst einmal selbst leben und in der Praxis ausprobieren. Und das tat er: Er gab zwar weiterhin reichlich Geld aus für Edelklamotten und Edelklunker, Edelspeisen und Edelgetränke, aber eben auch für gute Bücher über Kultur und Kunst, Wissenschaft und Religion. Und wenn er eine Flasche vom teuersten Champagner geköpft hatte, dann überwies er danach eine großzügige Spende an "Brot für die Welt" - wobei er natürlich diese Spende wiederum von der Steuer absetzte. Hatte er den feinen Champagner einmal fast bis zur Besinnungslosigkeit genossen, dann legte er zu Hause eine meditative Besinnungsminute ein. Blieb trotzdem ein Kater zurück, dann mischte er den starken (männlichen) Kaffee ausgiebig mit (weiblicher) Milch.
Überhaupt achtete Frank streng darauf, dass seine Nahrung im Gleichgewicht von Yin (weiblich) und Yang (männlich) stand. So aß er zum Beispiel Banane (Yang) nur zusammen mit Orangen, Melonen oder auch Pflaumen (Yin), Spargel nur mit Kartoffeln, aber nie mit Pommes Frittes, eine Gurke zusammen mit mindestens zwei Tomaten; und ein Baguette kam bei ihm nur zusammen mit Milchprodukten wie Käse oder Quark auf den Tisch, aber nicht mit Fleisch.
Immer wenn er sich einen besonderen Luxus leistete, kaufte er auch gleichzeitig ein bescheidenes Billigprodukt. Holte er sich zum Beispiel Duschgel, Shampoo, Haarwasser, After Shave und Eau de Toilette für 80 Euro, nahm er auch ein paar Rollen vom rauhen, einlagigen Bundeswehrtoilettenpapier mit. Und kleidete er sich einmal wieder vom Kopf bis zu den Füßen, d. h. vom Hut bis zu den Schuhen - über Hemd, Anzug, Pullover, Unterwäsche - neu ein, für fast 999 Euro, erstand er dazu ein paar Söckchen vom Wühltisch für 0,99 Euro.
Eigentlich wollte er gerne anfangen, Karate zu trainieren. Aber um diese extrem männliche Sportart weiblich auszugleichen, hätte er schon Ballett-Unterricht nehmen müssen. Etwas so Weiches zu machen, das war ihm aber dann doch zu hart, lieber ließ er dann auch das Karate sein. Um seine Männlichkeit anders zu befriedigen, kaufte er sich ein schweres Motorrad. Eigentlich hätte das - für den notwendigen Yin-Yang-Ausgleich - rosafarben sein müssen, aber das gab es nicht - Gott sei Dank. Immerhin bekam er es in rot, wobei er sich nicht ganz sicher war, ob rot wirklich eine weibliche oder doch eine männliche Ausstrahlung besaß.
Überhaupt fiel es ihm nicht immer leicht, eindeutig zu unterscheiden, was weiblich und was männlich, was fraulich (bzw. „dämlich“) und was herrisch war; viele Dinge schienen ohnehin eine Kombination von beiden zu sein. Aber entscheidend fand Frank, sich am Prinzip des Ausgleichs zu orientieren, Geld und Gold zu lieben, aber Geist und Gott zu verehren.
Natürlich kam auch in der „Positiv-Polarität“ das (positive) Denken vor dem Leben. Erst musste man Geld denken, um dann Geld zu haben. Erst musste man Gott denken, um dann göttlich zu sein: Von nichts denken kommt nichts. Und sein System funktionierte: Er fühlte sich in einer nie gekannten Weise gut, großartig, glücklich, als ein Gewinner, dem alles gelingt. Mit Stolz sagte er: "Le positivisme c'est moi." Ich habe es bewiesen: Wenn man Yin und Yang, Weichheit und Härte, Liebe und Macht harmonisch miteinander vereinigt, dann zeigt sich von beiden Polen jeweils nur das Positive. Wenn man dagegen im Extrem nur einen Pol lebt, dann äußert der sich verzerrt und negativ. Wenn man nur auf Macht und Geld fixiert ist, dann wird man geldgierig und machtgeil. Und wenn man andererseits nur auf Freundlichkeit und Spiritualität setzt, dann wird man weichlich, opportunistisch und spinnert, nicht spirituell sondern spinnert.
Außerdem hatte Frank erkannt: Wird ein Pol unterdrückt, weil man nur den anderen lebt, dann zeigt sich der unterdrückte Pol unterschwellig in verzerrter destruktiver Form oder entlädt sich plötzlich in einer Explosion. Das war ihm besonders bei den Lichtis aufgefallen. Die geforderte übertriebene Freundlichkeit und Friedfertigkeit, das ewige Lächeln führte zur Unterdrückung eines gesunden Egoismus, einer notwendigen Selbstbehauptung, also des männlichen Pols. Dieser Pol war aber nicht wirklich ausgeschaltet, sondern er führte zu einer unterschwelligen Feindseligkeit, zu klammheimlicher Hinterlist oder zu abrupten Wutanfällen, sogar Ausbrüchen von Hass, wenn sich die gestaute Energie des abgewehrten Pols plötzlich - und dann völlig überzogen und unpassend - entlud.
Jetzt stand Franks neue Positiv-Philosophie, theoretisch wie praktisch, auf festen Füßen. Doch wie machte er seine großartige Erfindung bekannt? Wie brachte er ihn unter die Leute? Und wie konnte er daran verdienen? Frank entwarf blitzschnell ein Public-Relations-Konzept: Vorträge halten, ein Institut für Positivberatung aufmachen, CDs mit Positivismus-Sprüchen selbst besprechen, ein Buch über seinen Weg zum Positiven Denken schreiben.
Es lief alles unheimlich gut und unheimlich rasant an. Noch am gleichen Tag fragte er bei Volkshochschulen und kirchlichen Bildungswerken nach, ob sie an einem Vortrag über eine neue Form des Positiven Denkens interessiert seien. Die Nachfrage war unerwartet groß, schon in der nächsten Woche hatte er zwei Vortragstermine, und dies steigerte sich dann von Woche zu Woche. Zwar waren die Vorträge in der Erwachsenenbildung nicht gerade gut bezahlt, aber sie machten ihn bekannt und gaben ihm auch Gelegenheit, sich in der Kunst der Rede zu üben. Und bereits kurze Zeit später erfolgten Anfragen aus der Industrie und von Wirtschaftsverbänden. Und hier konnte Frank andere Summen kassieren, 1.000,- Euro pro Abend waren kein Problem, später steigerte sich das auf 3.000 €.
Auch mit dem Beratungsinstitut klappte es von Anfang an. Wie zufällig entdeckte Frank geeignete Räume, ganz in der Nähe seiner Wohnung. Sie waren sofort verfügbar und er mietete sie ohne Zögern an. Schon eine Stunde später besorgte er sich beim Schildermacher ein großes Schild mit der Aufschrift: Frank Fröhlich, positiv-polare Beratungen. Am ersten Tag saß er zwar noch alleine in seinem "Institut", aber schon bald gab es einen solchen Andrang, dass er gar nicht mehr alle Leute aufnehmen konnte. Es waren vor allem Zuhörer aus seinen Vorträgen, in denen er natürlich auf sein Beratungsinstitut - in aller Bescheidenheit - hinwies. Sein größter Pluspunkt dabei war wahrscheinlich, dass er einerseits die Niederungen des Positiven Denkens kannte, dann aber unübersehbar dessen Höhen erklommen hatte. Ein recht vornehmes Institut, sein auffälliger Porsche und seine exklusive Kleidung zeigten jedermann, dass er es wirklich geschafft hatte, dass er nicht nur theoretisierte, sondern wusste, wovon er sprach.
Auch mit den Psycho-CDs gab es kaum Probleme. Sehr schnell fand er einen geeigneten Komponisten, der ihm eine Musik für seine CDs schrieb, die genau zu den Texten passte. Die Texte schrieb er selbst und sprach sie auch selbst. Es waren Anleitungen, wie man durch verschiedene Methoden einerseits immer reicher und reicher, andererseits immer geistiger und geistiger wird. Selbstverständlich wies er in den Vorträgen und in den Beratungsgesprächen auf seine eigenen CDs hin. Er verordnete sie geradezu wie ein medizinisches Medikament: "Hören Sie die CD 'Positiv-Polarität' dreimal täglich, morgens auf nüchternen Magen."
Auch mit seinem Buch kam er überraschend flott vorwärts. Er nannte es: "Ein Mann sieht rosa - Mein Positives Denken." Es ging primär um seine persönlichen Erfahrungen: Wie er trotz vieler Misserfolge das Positive Denken nie aufgegeben hatte und schließlich zum enormen Erfolg mit seinem PP-System gelangt war. In der Einleitung schrieb er: "Dies ist ein schonungslos ehrliches Bekenntnis." Natürlich schrieb er trotzdem nicht ganz ehrlich über das, was er alles erlebt hatte - aber das würde ohnehin niemand erwarten.
Auch die Medien wurden auf Frank aufmerksam: Man lud ihn zu verschiedenen Radiosendungen ein, machte Interviews mit ihm, ja er würde bald auch im Fernsehen auftreten. Dann ließ er sich eine professionelle Homepage gestalten, das war ein Muss. Es ging einfach so unglaublich gut und glatt, dass Frank es fast nicht fassen konnte: Jetzt habe ich es wirklich geschafft, total. Jetzt arbeitet das Universum wirklich für mich, der Kosmos gehört mir, ich bin ein Meister der Gedanken, ein Schwerathlet des Geistes. Aber ich habe es mir auch wirklich Alt verdient, ich habe alle möglichen Positivsysteme ausprobiert und auch durchlitten, bis ich sie jetzt schließlich in meinem großartigen polaren Positivismus miteinander verbunden und versöhnt habe.
Der durchschlagende Erfolg lag allerdings auch an Franks kompromissloser Werbestrategie. In jedem bzw. mit jedem seiner "Produkte" warb er für alle anderen seiner "Produkte". Jedem seiner Beratungs-Kunden drückte er ein Blatt mit seinen Vortragsterminen in die Hand, und natürlich wurde jeder darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, eine von Franks CDs zu kaufen. In einem Aushang wurde auf sein Buch aufmerksam gemacht, obwohl das noch gar nicht erschienen war. In den CDs wurde wiederum auf die Vorträge, das Institut und das kommende Buch hingewiesen; und selbstverständlich blieben auch die Hörer seiner Vorträge nicht ausgespart von Hinweisen auf seine anderen Angebote.
Natürlich brachte dieser Erfolgsstrudel wichtige Veränderungen in seinem Leben mit sich. So gab er schon sehr bald nach dem Versicherungsinnendienst jetzt auch den Außendienst auf. Er hatte gar keine Zeit mehr dafür, er brauchte diese Einkommensquelle ohnehin nicht mehr, und die Versicherungsvertretung passte auch nicht mehr zu seinem neuen Image. Er gab sich heute als Großmeister oder Hochmeister, als Therapeut und Magier, als Autoritäts- und Führungspersönlichkeit, als einzigartiges Positiv-Genie.
Eigentlich wäre es jetzt dringend Zeit gewesen, sich auch eine neue Wohnung, nein ein Haus, nein eine Luxusvilla zuzulegen. Aber er hatte einfach keine Zeit dazu. Er war so ausgelastet, von morgens bis abends mit seinen vielfältigen Positiv-Tätigkeiten beschäftigt, dass er solche Projekte zurückstellen musste. Die vielleicht größte Befriedigung lag für Frank jedoch darin, dass die wichtigsten Personen, mit denen er auf seiner Positiv-Odyssee zu tun gehabt hatte und von denen einige ihn arg gekränkt hatten, jetzt zu ihm kamen und ihn hofierten.
Als erstes kam Karin. Sie sagte zwar nicht ganz klar, was sie wollte, aber es war doch offensichtlich, dass sie die Beziehung zu Frank gerne wieder neu aufnehmen wollte. Denn wenn es auch keinen offenen Bruch zwischen ihnen gegeben hatte, so war ihre Liebesbeziehung doch längst zu Ende, fast waren sie kaum noch Freunde gewesen, nur gelegentlich hatten sie sich in letzter Zeit gesehen. Frank fühlte sich geschmeichelt. Sie lieben eben alle den Sieger, sagte er sich. Obwohl ihn Karin schon verletzt hatte, weil sie den Kontakt mit den Moneys der Beziehung zu ihm letztlich vorgezogen hatte, empfand er ihr gegenüber doch keine starken Revanchegelüste. Doch er war auch nicht an einer Neuauflage ihrer Liaison interessiert. Im Moment hatte er überhaupt keine große Lust auf eine neue Liebschaft, nicht einmal auf Sex. Er erklärte sich das so: Ich lebe im Gleichgewicht von Yin und Yang, verwirkliche meine männliche wie meine weibliche Seite. Insofern brauche ich keine Frau zur Ergänzung. Ich ergänze mich selbst, ich bin für mich allein ein Ganzes, ich bin mir selbst genug. Ich bin eben der perfekte androgyne Mensch. Ein bisschen Strafe musste aber doch sein und ließ sich trefflich mit einem therapeutischen Ratschlag verbinden. Er gab Karin mit auf den Weg, noch einmal die Lightys = Lichtis aufzusuchen, obwohl sie sich ja geschworen hatte, dort nie wieder hinzugehen. "Die Lichtis sind zwar nicht die Lösung, die Lösung bin ich und meine Positiv-Polarität. Aber dafür bist du noch nicht weit genug. Du brauchst den Umweg über die Lichtis, um dich weiterentwickeln zu können."
Als zweite und dritter kamen aus dem Versicherungsbüro Frau Alt und Karlo. Frau Alt fragte Frank, ob er nicht eine Stelle in seinem Büro für sie hätte - schon wieder ein halb verecktes, halb offenes erotisches Angebot. Das war natürlich indiskutabel, aber dafür gab Frank ihr eine ganz spezielle Therapieanweisung. Sie sollte eine Woche lang dem ganzen Büro ihren Krönungs-Kaffee ausgeben, dabei aber selbst den billigsten Aldi-Kaffee trinken. Frau Alt wurde noch röter als ihre Haare, nickte aber brav, wie ein artiges Schulkind, und verließ sein Institut.
Noch am gleichen Tag hatte sich sein früherer Kollege Karlo angemeldet. Er war wohl vor allem neugierig zu erkunden, wie Frank jetzt lebte - und er war äußerst neidisch. Ohne um einen Rat gebeten zu sein, sagte Frank: "Du lebst viel zu sehr im Yang, nur aus dem männlichen Pol heraus. Wenn du genaueres darüber wissen willst, besuche einen meiner Vorträge. Als erstes ist es für dich jedenfalls wichtig, Bescheidenheit zu lernen. Mein Tip: Kaufe dir eine vollständige Garderobe auf dem 'Schnäppchen-Markt', und zwar für insgesamt nicht mehr als 49,90 Euro."
Als vierter kam Meier-Meyer, der Leiter der Coué-Gruppe. "Was soll ich bloß tun?" fragte er. "Seit Jahren sage ich nun täglich die Coué-Formel: 'Ich werde mit jedem Tag immer größer und größer.' Aber ehrlich gesagt bin ich noch keinen Zentimeter seither gewachsen." "Ihr eigentliches Problem ist nicht die Kleinwüchsigkeit, sondern Ihre Coué-Besessenheit", antwortete Frank, "nehmen Sie ein Jahr lang kein Buch mehr von Coué in die Hand, sondern lesen Sie stattdessen die Bücher der 'Ami-Positivler'." Meier-Meyer schluckte und wandte sich, er wollte widersprechen. Aber Frank ließ sich auf nichts ein, sagte schmunzelnd "ausgezeichnet" und schickte ihn hinaus.
Als fünfte empfing Frank Rita, die er damals bei den Couéisten kennengelernt hatte. Sie war noch genauso naiv wie früher und genauso ungehemmt: Sie beließ es nicht bei zweideutig-eindeutigen Angeboten, sondern stellte den mitgebrachten CD-Player an und begann hüftwackelnd wieder einen Ausziehtanz. Frank wurde höchst unliebsam an eine der peinlichsten Erfahrungen in seinem Leben erinnert, die er Rita verdankte; trotzdem fühlte er keine Revanchebedürfnisse ihr gegenüber, sie konnte einfach nichts dafür. Jedoch hatte er nicht den geringsten Wunsch, sie noch einmal nackt zu sehen. Er sagte ihr nur "zieh dich an" und stellte die Klimaanlage auf eiskalt, falls sein Wort allein Rita nicht abhalten konnte. Für ihre allzu große Süßlichkeit verschrieb er ihr ungesüßten Zitronensaft und für ihre überweite Offenherzigkeit bzw. Offenbrüstigkeit das Tragen eines hochgeschlossenen bzw. zugeknöpften Kleides.
Nach den Couéisten waren die Moneys dran, von ihnen kam - als sechster - Pinky Johnny. Er wollte von Frank erstens wissen, ob man mit dessen Positiv-System noch mehr Geld machen könnte als mit dem herkömmlichen Positiven Denken nach Art der Moneys. Und zweitens wollte er, als neuer Lover von Karin, auskundschaften, welches ihre geilsten erogenen Zonen seien. Frank beantwortete beide Fragen nicht oder doch in höchst ungewöhnlicher Weise. "Was Intimitäten betrifft, Pinky, so rate ich dir dringend, ein Buch von deinem Intimfeind der Moneys, Joe Morphey, zu lesen. Und solange du es dir noch leisten kannst, in dieser geschmacklosen Pinkkleidung herumzulaufen, geschmackloser als jeder Punk, solange hast du noch viel zu viel Geld."
Auch die Lichtis meldeten sich, genau genommen ihre mütterliche Leiterin Ma Solila. Sie bot Frank an, Bruder Ludwig aus dem Zentrum rauszuschmeißen und stattdessen mit ihm zusammen, als göttliches Paar, als Göttin und Gott das Zentrum zu leiten. Aber was interessierte Frank eine göttliche Partnerschaft? Er war gewissermaßen sein eigener und einziger Gott; er empfahl der Mutter, um von ihrer heuchlerischen Fixierung auf das Friedvolle und Harmonische wegzukommen, dreimal am Tag lautstark zu fluchen. Außerdem riet er ihr - das war nun weniger therapeutisch gemeint als eine Art Genugtuung - den lahmen Tantra-Sex aufzugeben und sich stattdessen auf Quickies zu spezialisieren. Dem humorlosen Bruder Ludwig ließ er ausrichten, er solle sich mal als "Bruder Lustig" versuchen.
Nach den Positiv-Genossen kamen jetzt Freunde und Bekannte von Frank. Allen voran als achter Thomas Peters. Thomas war in der Zwischenzeit stark heruntergekommen, schmutzig, unrasiert, in abgewetzter Kleidung. "Frank, bitte hilf mir! Jetzt bist du ganz oben, wie ich auch einmal ganz oben war, aber du kannst ebenso fallen und wirst dann vielleicht auch jemand brauchen, der dir hilft." Frank wollte nichts davon hören und auch nicht darüber nachdenken. Überhaupt schien es ihm ganz unausdenkbar, dass sein unglaublicher Erfolg mit dem Positiven Denken einmal zu Ende sein könnte. Vor allem aber hatte ihn Thomas tiefer gekränkt als jeder andere, indem er seine Seele mehrfach mit einem ungeleerten Mülleimer verglichen hatte. Deshalb war auch das einzige, wozu er sich bereit fand, Thomas anzubieten: "Ich kann dir eine Stellung bei der Städtischen Müllabfuhr besorgen." Thomas drehte sich wortlos um und ging heraus, und Frank war froh, ihn loszuwerden.
Als neunte kamen Josefine und Josef. Diese waren wahrscheinlich die unglücklichsten von allen, aber hatten sich so häuslich in ihrem Unglück eingerichtet, dass sie keineswegs von Frank eine Hilfe oder eine Beratung wollten. Ganz im Gegenteil. Frank nannte sein System der Positiv-Polarität manchmal auch einfach Positivismus (der Begriff war einprägsamer, allerdings eigentlich schon von den Moneys in Beschlag genommen). Josefine belehrte ihn von oben herab, dass der Begriff "Positivismus", bereits philosophiegeschichtlich besetzt sei. "Positivismus ist eine philosophische Richtung, die nur in dem unmittelbar Wahrgenommenen eine sichere Grundlage des Erkennens sieht." Frank meinte: "Dann nenne ich mein System eben Neuen Positivismus oder Neo-Positivismus." "Dieser Begriff ist ebenfalls bereits belegt", nörgelte Josefine. "Der Neo-Positivismus betrachtet die sinnliche Wahrnehmung und logische bzw. mathematische Deduktion als die einzigen zulässigen Verfahren in der wissenschaftlichen Erkenntnis." Ehe Frank etwas erwidern konnte, ergriff Josef das Wort: "Positivismus, wie immer man ihn genau definiert, ist in jedem Falle schlecht, ist negativ. Das einzige Positive ist der Negativismus.“ Jetzt wurde es Frank aber zu dumm. Das brauchte er sich heute wirklich nicht mehr bieten zu lassen. "Ich möchte Euch so lange nicht mehr sehen, bis ihr im gemischten Duett, aus voller Brust singt 'Freunde, das Leben ist lebenswert' ."
Als zehnter und letzter aus dieser Reihe kam Professor Feelgood. Frank konnte es kaum glauben. Zwar war er ja heute selbst ein Positiv-Star, aber den Positiv-Professor, den sah er doch noch immer über sich. Dieser Mann war eine internationale Berühmtheit, der größte aller Positivdenker. Was mochte der bloß von ihm wollen? "Herr Fröhlich, können Sie schweigen?" Frank nickte nur stumm. "Dann werde ich Ihnen mein größtes, mein tiefstes, mein schlimmstes Geheimnis verraten." Professor Positiv stockte, dann kam es brüchig über seine Lippen: "Ich bin Alkoholiker, seit 25 Jahren schon. Nur mit Alkohol gelingt es mir, mich in eine positive Stimmung zu versetzen und den Menschen vom Positiven Denken vorzuschwärmen. Trinke ich nichts, verfalle ich rettungslos in Resignation und Apathie." Frank konnte und wollte es nicht glauben. Dieser strahlende, selbstsichere, grandiose Professor Feelgood war ein Alkoholiker. Obwohl er seinerzeit im Streit vom Professor weggegangen war, empfand er doch keinerlei Genugtuung über diese Offenbarung. Sie machte ihn vielmehr traurig und ließ ein merkwürdiges Gefühl von Unsicherheit in ihm aufsteigen. Stimmte vielleicht doch etwas nicht mit dem Positiven Denken, wenn dessen überzeugtester und überzeugendster Vertreter es nur mit der Hilfe von Schnaps und Wein realisieren konnte? Gab es hier möglicherweise auch eine Bedrohung für ihn? Aber dem war sicher nicht so. Sein System des Positivismus glich eben die Ungereimtheiten und Einseitigkeiten des normalen Positiven Denkens aus. Er bot dem Professor an, ihn als seinen Meisterschüler in Positiv-Polarität zu unterrichten, um ihn vom Alkoholismus zu heilen, und der Professor akzeptierte. Ein unglaublicher Triumph für Frank!
Wahrlich, Frank führte jetzt ein Leben fast wie im Märchen, wie ein Prinz, ein Positiv-Prinz. Er besaß jetzt wirklich den Status eines großen Meisters, dessen Anhängerschaft ständig anwuchs. Aus seinen engsten und treuesten Anhängern hatte sich eine Art Jüngerschar gebildet, die ihn stets zu seinen Auftritten begleitete. Da die Nachfrage so riesig war, hielt er nur noch wenig Einzelberatungen ab, und die für 500,- Euro die Stunde. Stattdessen leitete er verschiedene Positiv-Gruppen. Aber auch um nur in eine solche Gruppe aufgenommen zu werden, musste man eine Wartezeit von mehreren Monaten hinnehmen. Um sich zu entlasten, setzte Frank sogenannte "Mind machines" in seinem Institut ein. Man wurde mit einer Brille und einem Kopfhörer daran angeschlossen. Das Programm war allerdings so eintönig wie der Wetterbericht, in der Brille blitzte es, und im Kopfhörer donnerte es. Diese optischen und akustischen Impulse sollten aber dazu führen, dass die beiden Hälften des Großhirns, die rechte und die linke Hemisphäre, synchronisiert, ins Gleichgewicht gebracht wurden. Und das passte natürlich bestens zu Franks Positivismus-Polaritäts-Therapie.
Außerdem rief er eine Ausbildungsgruppe ins Leben, in der er neue Lehrer im System des polaren Positivismus ausbildete. Es handelte sich vorwiegend um Ärzte und Psychologen, die aber doch alle ihn, der keine akademische Ausbildung besaß, als ihren Lehrmeister akzeptierten. Sein Buch "Mein Positives Denken" kam heraus und wurde sofort ein Bestseller, der ihn natürlich noch weiter bekannt machte. Auch seine CDs liefen und liefen und liefen.
Jetzt bin ich ganz oben, sagte sich Frank, noch höher ist für mich gar nicht vorstellbar. Ich habe alles erreicht, als höchstes sogar mein Idealgewicht, dank dem Positiven Denken. Ja, ich muss nicht einmal mehr positiv denken. Das heißt natürlich nicht, dass ich mich negativen Gedanken hingebe. Klar denke ich weiterhin positiv bzw. positivistisch, aber automatisch, wie von selbst. Ich brauche keine Positiv-Übungen mehr, keine Positiv-Bücher, nicht einmal Positiv-CDs. Stattdessen brauchen heute andere meine positivistischen Ergüsse.