Stefan Sternau
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Am nächsten Abend lud Yvonne Frank zum Abendessen bei ihr ein. "Du siehst etwas dünn aus", meinte sie. Das war für Frank das schönste Kompliment, es ging ihm runter wie Öl. Denn dass er zu dünn sei, hatte er das letzte Mal kurz nach seiner Geburt gehört. Danach hatte man ihn ordentlich hochgepäppelt, und später hatte er selbst das seinige dazu beigetragen, dass man ihm stets sagte, direkt oder durch die Blume, er könnte ruhig ein bisschen abnehmen (um nicht zu sagen abspecken). Aber es war wahr, er hatte durch seine Krise einige Kilos eingebüßt, denn er hatte nur noch mäßig und unregelmäßig gegessen. Yvonne, die sich schon als großartige Gesprächspartnerin und Liebhaberin gezeigt hatte, erwies sich auch als ausgezeichnete Köchin. Sie zauberte aus Gemüse, Vollreis, Soja und Gewürzen ein vorzügliches Mahl, das Frank seine eingefleischten Vorurteile gegen fleischloses Essen vergessen ließ. Als sie abschließend noch ein Glas "lieblichen Wein" zusammen tranken, rückte Frank mit der Frage heraus, die ihn am schwersten im Magen bzw. auf der Zunge lag:
- Yvonne, bist du eigentlich glücklich?
- Manchmal ja, manchmal nein. Auch ich bin nicht immer gleichbleibend glücklich, sondern meine Stimmung unterliegt Schwankungen, ich erlebe Hochs und Tiefs, Aufs und Abs.
- Warum gelingt es denn nicht, ständig Glück und Hochstimmung zu empfinden anstatt so eines wechselhaften Seelen-Wetters?
- Alles im Leben unterliegt Veränderungen, Frank. Das macht ja gerade die Lebendigkeit aus. Und das meiste im Leben bewegt sich in einem Rhythmus, in einem Zyklus, so wie eine Welle zwischen Wellengipfel und Wellental wechselt. Allerdings kann ich für mich sagen, dass ich heute überwiegend auf dem Gipfel, im Hoch lebe, und dass meine Täler meistens nicht mehr so tief sind wie früher. Überhaupt haben die Schwankungen nachgelassen, ich kreise mehr um eine Mitte und behalte fast immer mein positives Grundgefühl.
- Und wie hast du das geschafft? Mit welcher Methode hast du gearbeitet? Gibt es dafür vielleicht auch CDs?
- Ach Frank, du meinst noch immer, es gäbe für alles eine Methode, eine Strategie, die man nur anwenden muss, und dann funktioniert die Seele automatisch, wie ein Apparat. Seelische Veränderungen sind sehr komplex und lassen sich nicht ohne weiteres gezielt herbeiführen.
- Aber irgendetwas muss man doch tun können, um sich zu verändern und weiterzuentwickeln.
- Ja, das schon. Das wichtigste ist, einerseits seelische Verletzungen aus deiner Vergangenheit, vor allem deiner Kindheit, zu klären und zu überwinden. Andererseits musst du lernen, das Leben als Ganzes mehr anzunehmen und zu bejahen, es nicht ständig verändern und bekämpfen zu wollen. Fangen wir direkt einmal an. Wie warst du als Kind? Wie war deine Kindheit? Gibt es da Erfahrungen, die uns verstehen lassen, warum du so unzufrieden gewesen bist und warum du dich so fanatisch auf das Positive Denken gestürzt hast?
- Nun, meine Eltern waren beide ebenfalls stark aufs Positivsein fixiert. Aber auch bei ihnen war es nicht wirklich echt, jedenfalls hatten sie keinen überzeugenden Erfolg damit. Ich glaube, das habe ich als Kind ganz in mich aufgenommen. Lange Zeit blieb das allerdings mehr unterbewusst, ich habe so dahin gelebt, ohne große Zufriedenheit und ohne große Unzufriedenheit. Plötzlich ist es dann aufgebrochen, und zwar dadurch, dass du hier eingezogen bist und ich von dir mehr beachtet, ja gemocht werden wollte. Im tiefsten Inneren habe ich aber wohl darum gekämpft, für mein Positivsein endlich von meinen Eltern akzeptiert zu werden, sie aber andererseits zu überflügeln und so für die frühere Missachtung zu bestrafen.
- Siehst du, Frank, da hast du schon sehr wichtige Einsichten gewonnen. Hier musst du weiterforschen. Zugleich musst du aber lernen, das Leben an sich, dein Leben, mit all seinen Mängeln mehr zu tolerieren, es schließlich mehr und mehr zu lieben. Ebenso musst du lernen, dich zu akzeptieren, dir zu verzeihen und dich zu lieben.
- Und wie mache ich das?
- Versuche, alles was in dir ist, erst einmal zuzulassen, es wahrzunehmen, wenn möglich zu äußern. Sei offen für dich selbst.
- Aber dann kommen doch auch negative Gedanken und negative Gefühle wie Angst und Wut in mir hoch.
- Lass sie zu. Es ist ohnehin nicht möglich, ihnen dauerhaft davonzulaufen oder sie ständig zu bekämpfen, das hast du ja selbst erfahren. Nur indem du sie erst einmal aufkommen lässt und dich mit ihnen auseinandersetzt, werden sie allmählich nachlassen.
- Ich glaube, jetzt verstehe ich den Trick: Es gibt doch eine Lösung. Und diese Lösung ist, dass es keine Lösung gibt. Wenn ich akzeptiere, dass ich nie absolut befreit sein werde, dann bringt mir gerade dieses Akzeptieren meine Befreiung.
- Nein, Frank, nicht einmal so gelingt eine ultimative Befreiung. Du suchst immer noch das total Positive. Aber erst das Positive und das Negative zusammen ergeben die Ganzheit des Lebens.
- Ganzheit, da sagst du etwas. Ich hatte doch geglaubt, mit meinem System der Positiv-Polarität die Ganzheit geschnappt zu haben. Indem ich die beiden Pole Yin und Yang, weiblich und männlich, Geist und Geld, Melonen und Bananen zusammenfasste.
- Aber das war keine wirkliche Ganzheit. Du hast nur zwei Positiv-Pole miteinander verbunden. Oder man kann auch sagen, du hast nur die Positivseiten der beiden Pole zur Synthese gebracht. Sowohl der Yin- wie auch der Yang-Pol haben jedoch auch ihre negativen Seiten: beim Yin etwa Sentimentalität und Irrationalität, beim Yang Egoismus und Arroganz.
- Aber ich dachte, das Negative eines Pols entfaltet sich nur, wenn man ihn einseitig und im Extrem lebt.
- Nein, das Negative ist selbst Bestandteil des Pols, es gehört untrennbar zu ihm hinzu, wenn auch sein Ausmaß davon abhängt, wie weit die beiden Pole im Gleichgewicht stehen. Aber wir müssen überhaupt die Begriffe "positiv" und "negativ" relativieren. Wir bewerten die Dinge vorschnell, wir unterteilen sie nach unseren Vorlieben in positiv oder negativ, aber das sagt nichts über ihren wirklichen Wert aus. Krankheit bezeichnen wir z. B. als negativ, Gesundheit als positiv. Aber eine Krankheit kann manchmal sinnvoll sein. Sie mag zu einer Reinigung des Körpers führen, zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte und zu einer geistig-seelischen Neuorientierung, zu einem Entwicklungssprung. Das sogenannte Negative kann also durchaus auch positiv sein, und das sogenannte Positive kann auch mal negativ sein.
- So habe ich das noch nie gesehen. Du öffnest mir wirklich die Augen.
- Die meisten Menschen versuchen, den negativen Pol gänzlich auszuschalten, oder sie versuchen, den Gegensatz zwischen den Polen aufzu1ösen. Das ist ganz besonders krass bei der Polarität der Geschlechter. Viele wollen heute den Unterschied zwischen männlich und weiblich aufheben oder "transzendieren", wie sie sagen. Es soll im Verhalten keinen Unterschied mehr zwischen Männern und Frauen geben. Aber das ist eine Illusion. Die polare Spannung zwischen den Geschlechtern kann nicht völlig beseitigt werden, und sie sollte es auch gar nicht. Damit meine ich nicht, wir müssten an allen hergebrachten Geschlechtsbildern, an der typischen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau festhalten. Aber eine gewisse Spannung zwischen den Geschlechtern ist wichtig, sie müssen sich gegenseitig anregen und ergänzen, sonst bliebe nur Langeweile und Monotonie.
- Was macht denn diesen Unterschied aus, außer dem "kleinen Unterschied"?
- Das Weibliche ist fließender und kontinuierlicher, der männliche Pol ist mehr diskontinuierlich, zergliedert und zergliedernd. Aber das lässt sich bewusst gar nicht eindeutig bestimmen, dennoch wissen oder fühlen wir es intuitiv.
Zwischen Frank und Yvonne gab es weder langweilige Monotonie noch monotone Langeweile. Denn sie waren trotz einer Seelenverwandtschaft doch gegensätzlich. Wenn Yvonne auch sehr stark war, so blieb sie in ihrem Verhalten doch weiblich. Und wenn Frank gerade derzeit von einer Schwäche in die nächste fiel, so blieb seine Persönlichkeit doch männlich. Sie waren also nicht wie zwei gleiche Pole, die sich abstoßen, sondern wie zwei verschiedene Pole, Plus und Minus, die sich anziehen. Zwischen ihnen bestand eine Spannung (von mindestens 220 Volt), zwischen ihnen funkte es, zwischen ihnen floß Strom (mit mindestens 100 Ampere).
Anders ausgedrückt, sie hatten sich ineinander verliebt. Aber es war nicht so, dass sie sich wie zwei Turteltäubchen ständig in die Arme fielen, ihre Liebe war ruhiger, aber auch tiefer. Und ohne dass sie darüber sprachen, war ihnen beiden klar, sie wollten eine Beziehung miteinander eingehen. Frank konnte es manchmal gar nicht fassen. Wie sehr hatte er sich früher gewünscht, mit dieser Traumfrau zusammenzukommen. Das war sogar der Auslöser für seine Aufnahme des Positiven Denkens gewesen. Aber er hatte keinen Erfolg bei Yvonne gehabt und schließlich resigniert. Später war er dann so von seinem positiven Höhenrausch besetzt gewesen, dass er gar nicht mehr auf Yvonne geachtet hatte. Und jetzt hatte es also doch noch geklappt, so als ob sie füreinander bestimmt gewesen wären. Und wirklich: Irgendwie hatte Frank das Gefühl, Yvonne schon immer gekannt zu haben. Und ihr ging es ebenso mit ihm. Da war eine große Vertrautheit, eine Nähe, die eigentlich gar nicht in so kurzer Zeit gewachsen sein konnte. Trotzdem konnte Frank nicht behaupten, dass er Yvonne in allem und jedem durchschaue. Neben der großen Klarheit blieb doch etwas nicht Fassbares, etwas Unausprechliches und Geheimnisvolles. Und das fand er gut, gerade das faszinierte ihn.
Obwohl der Kontakt mit Yvonne, besonders die Gespräche mit ihr, Frank Sicherheit gaben, er blieb dennoch weiterhin unsicher. Yvonnes Auffassung über das Leben war ihm nach wie vor zu bescheiden. Ihm fehlte dabei die Grandiosität, das Pathos des Positiven Denkens. Darüber grübelte er weiterhin nach. Und er sprach auch immer neu mit Yvonne über diesen neuralgischen Punkt. Einige Tage später saßen sie wieder einmal abends bei so einem Gespräch. Frank biss gerade in einen Leibniz-Keks, als er plötzlich aufschrie. "Was ist los?" fragte Yvonne besorgt. "War etwa ein Steinchen im Keks?" "Nein, nein, nein!" schrie Frank außer sich. "Ich habe einen furchtbaren Fehler begangen." "Was denn?" fragte Yvonne nun ernstlich besorgt. "Ich habe das Positive Denken bisher immer völlig falsch betrieben, so konnte es gar nicht richtig funktionieren. Aber jetzt weiß ich die Lösung."
- Erklär mir das.
- Ich habe immer versucht, durch Positives Denken mich selbst und mein Leben zu verändern, nämlich, wie ich meinte, zu verbessern. Damit habe ich mich immer auf die Zukunft ausgerichtet, gar nicht wirklich im Hier und Jetzt gelebt. Während ich eben in den Keks biss, kam plötzlich die Erleuchtung über mich: Die Welt ist genauso, wie sie ist, richtig und gut. Es gibt gar nichts zu verändern bzw. zu verbessern. Das Positive Denken hat in Wahrheit nur den Sinn, einen erkennen zu lassen, dass schon jetzt - in der Gegenwart - alles positiv ist.
- Aber Frank! Damit verfällst du doch noch mehr der lllusion als bisher. Früher hast du wenigstens noch Probleme anerkannt und versucht, sie durch Positives Denken zu beheben, wenn du dir auch lllusionen darüber machtest, dass alles erreichbar sei. Wenn du nun behauptest, alles ist bereits positiv, dann bedeutet das doch "Illusion total". Du schaust durch die rosarote Brille auf die Welt. Wie soll denn alles gut sein, wo es doch so viel Leid und Elend auf der Welt gibt?
- Natürlich gibt es Leid, das kann ich nicht bestreiten. Aber jedes Leid hat sicher einen positiven Sinn, einen wichtigen Zweck, einen geheimen Nutzen, der uns nur nicht immer ersichtlich ist. Wenn jemand leidet, dann mag dies den Sinn haben, ihn zur Besinnung zu bringen, damit er bescheidener und weniger egoistisch wird. Ich bin davon überzeugt: Einfach alles hat einen Sinn, sogar der Unsinn. Ebenso ist jeder Mensch für etwas gut, auch der Verbrecher, und sei es nur als warnendes Beispiel für die anderen. Und deswegen gilt für mich: Alles soll so bleiben, wie es ist. Und: Ich will so bleiben, wie ich bin.
- Was soll denn der Sinn sein, wenn ein Kind missbraucht und ermordet wird? Oder was soll der Sinn von Völkermord sein? Hier ist doch gar kein Sinn vorstellbar, jedenfalls keiner, der so ein Verbrechen rechtfertigt.
- Selbst wenn nicht alles einen gültigen Sinn hat, bleibe ich bei meiner Aussage. Denn wahrscheinlich ist eine Welt ohne Leid unmöglich, es gehört einfach zu ihr dazu. In unserer Welt ist das Leid aber so gering wie nur möglich. Wir leben deshalb in der besten aller möglichen Welten.
- Was meinst du damit?
- Nun, auch in unserer Welt sterben viele Menschen an furchtbaren Krankheiten. Aber in jeder anderen, real möglichen Welt würden noch sehr viel mehr Menschen daran sterben. So gesehen ist unsere Welt die beste.
- Ach, Frank! Ich verstehe, es fällt dir schwer, den Gedanken an eine durchweg positive Welt aufzugeben. Natürlich fühlst du dich erst einmal besser und sicherer, wenn du glaubst, alles sei gut oder sogar optimal. Du wünschst dir, dass alles in unserer Welt geordnet und gerecht sei, aber dem ist einfach nicht so, es gibt viel Chaos, Ungerechtigkeit und Sinnlosigkeit. Manche Menschen, die Nihilisten, behaupten deshalb: "Alles ist sinnlos." Doch das stimmt genauso wenig. Es gilt nicht alles-oder-nichts, sondern teils-teils, nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch. Das heißt, es gibt in unserer Welt Sinn und Unsinn, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Ordnung und Chaos.
- Aber Yvonne, ich verstehe dich nicht: Du hast doch selbst gesagt, ich muss lernen, das Leben so zu akzeptieren, wie es ist. Wenn ich alles im Leben als positiv sehe, habe ich doch den höchsten Grad von Akzeptieren erreicht.
- Nein, akzeptieren meint nicht, die Dinge schön zu färben, sie nur rosa verzerrt wahrzunehmen. Es bedeutet, die Welt möglichst wahrhaftig zu erkennen - soweit das möglich ist - und dann zu sagen: "Dies und jenes gefällt mir zwar nicht, aber ich versuche, es anzunehmen. Weil es nicht veränderbar ist; oder weil eine Veränderung andere, größere Nachteile mit sich brächte; oder weil ich einsehe, dass mein Wunsch nach Veränderung unberechtigt ist, nur auf einem Perfektionismus beruht."
- Du meinst also, man soll sich nicht einreden, alles sei bestens, aber dennoch alles als gegeben hinnehmen, letztlich zu allem ja und amen sagen.
- So auch nicht. Es gibt durchaus Dinge, die wir verändern können und die es auch wert sind, geändert zu werden, z. B. wenn wir mit unserer Arbeitsstelle unzufrieden sind. Wir müssen nur lernen zu differenzieren: Wo ist das Annehmen der richtige Weg? Und wo ist es besser, sich zur Wehr zu setzen und auf eine Veränderung hinzuarbeiten? Übrigens, wir müssen manchmal auch akzeptieren, dass wir etwas nicht akzeptieren können; und wir sollten manchmal nicht akzeptieren, dass wir etwas akzeptieren.
- Ganz schön kompliziert! Meine Methode "Alles ist bestens" fällt leichter.
- Ja und nein. Auf den ersten Blick, wobei das Leichtere auch nicht unbedingt das Bessere sein muss. Aber andererseits, wenn du versuchst, alles positiv zu finden, bist du zu einem ständigen Kampf verurteilt, verharrst in einer permanenten Abwehrhaltung. Denn niemand kann sich so vollkommen belügen. Irgendwie fühlt jeder, dass in Wahrheit nicht alles positiv ist, und er muss dann diese Wahrheit ständig wegdrängen, unablässig aufpassen, dass er von den negativen Gedanken nicht wieder eingeholt wird, dass ihn diese "alten Bekannten" nicht - ohne Einladung - aufsuchen bzw. heimsuchen, aufdringlich wie ein Staubsaugervertreter.
Frank ahnte, fühlte, erkannte, dass Yvonne Recht hatte. Aber er tat sich schwer damit, seine Positiv-Ideologie aufzugeben. Denn er hing an ihr wie an einem Halteseil, und sie hing an ihm wie eine Klette an einem Pudel. Doch allmählich, in den nächsten Tagen und Wochen, löste sich der Positiv-Krampf, die starre Positiv- Fixierung. Er wurde freier, offener, entspannter. Nach dem letzten Rückfall ins Positive Denken hatte er seine Positiv-Sucht jetzt überwunden. Zwar litt er noch hin und wieder an Entzugssymptomen, fehlten ihm die großartigen Versprechungen immerwährenden Glücks. Aber insgesamt fühlte er sich viel besser - und mit den Füßen auf dem Boden; er war "nüchtern", "trocken", "clean", und er hatte einen neuen Lieblingssong. Nach dem "You can get it, if you really want" auf dem Höhepunkt, dem "I can't get no satisfaction" am Tiefpunkt, hörte er jetzt am liebsten "You can't always get what you want".
Dieser Titel entsprach genau seiner neuen Lebensanschauung: Du kannst nicht immer Sieger sein, du bist auch mal Verlierer, du kannst nicht ständig gewinnen, du kassierst auch manchmal eine Niederlage. So ist das Leben, that's
life, c'est la vie. Das war keine hochtrabende, sondern eine schlichte, dafür aber umso tiefere Wahrheit. Eine Wahrheit, die man leicht verstehen konnte. Doch sie zu leben, darauf kam es an, und das war eine Kunst.
Aber auch wenn es ihm selbst gelang, diese Lebenskunst zu praktizieren und damit dem Positiven Denken "Adieu" zu sagen, was sollte er mit seinem Institut machen? Überhaupt mit den vielen Menschen, die mittlerweile an seinen Positivismus glaubten? So weiter machen wie bisher, das ging nicht mehr. Da wäre er sich wie ein Betrüger vorgekommen. Das Institut schließen oder sich jedenfalls ganz zurückziehen und es von Professor Feelgood führen lassen, das wollte er auch nicht. Das Beste war wohl, mit offenen Karten zu spielen. Allen klar zu sagen, dass er jetzt eine andere, neue Richtung vertrete. Damit mutete er seinen Anhängern allerdings einiges zu. Denn wenn er auch nicht alles, was er bisher vertreten hatte, für falsch erklärte, so bedeutete es doch einen Riesenumschwung. Seine "Klienten" mussten wie er die rosa Brille absetzen und sich dem Leben mit all seinen - positiven wie negativen - Seiten stellen. Er würde bestimmt viele Anhänger verlieren, oder würde er alle verlieren? Und sein Buch und seine CDs, würde die noch jemand kaufen? Und wollte er sie denn überhaupt noch verkaufen? Aber all das war ihm nicht so wichtig. Es ging ihm nicht mehr um den großen, totalen Erfolg - Erfolg hatte er schon genug gehabt -, es ging ihm jetzt um Authenzität, Echtheit, zu sich selbst Stehen.
Er hatte auch mit Yvonne besprochen, dass sie vielleicht zusammen arbeiten könnten, ihre Praxis und sein Institut miteinander fusionieren könnten. Aber selbst das war ihm nicht so wichtig. Frank dachte einfach weniger an die Zukunft, plante weniger für große Ziele, sondern lebte im Heute. Und er fühlte, wie etwas in ihm aufging, das lange verschlossen war: ein direktes Gefühl für sich selbst, eine Sinnlichkeit dem Leben gegenüber, ein Wahrnehmen der kleinen Dinge im Hier und Jetzt. Er konnte es aushalten, dass die Zukunft in vielem unsicher war. Ja, er empfand sogar eine lustvolle Spannung, eine Neugier, was die Welt für ihn bereithielt, wenn er nicht versuchte, sein Leben streng zu planen und zu dirigieren. Oft fühlte er sich heiter, ohne die künstliche Euphorie des Positiven Denkens. Manchmal fühlte er sich melancholisch, selten auch tief traurig oder zornig; aber es waren alles seine ganz eigenen Gefühle, nichts Aufgesetztes, nichts Gemachtes, nichts Eingeredetes, und somit war es gut für ihn.
Einmal traf er Karin auf der Straße. Sie hatte es weit gebracht: Die Buchhandlung, in der sie früher Angestellte war, gehörte jetzt ihr, und sie hatte den Buchladen in "Positiv-Buchhandel" umbenannt. Ihr Versandhandel lief glänzend, und bei den Moneys war sie zusammen mit Pinky Johnny die Nummer Eins. Aber Frank beneidete sie nicht, im Gegenteil, sie tat ihm leid. Er sah die Leere hinter ihrem Lächeln, die Hektik in ihrem Positivgetue, die versteckte Angst in den Augen, die Angespanntheit durch den ständigen Kampf gegen das Negative. Im Moment kann ich nichts für sie tun, sagte sich Frank. Im Moment hat sie noch keinerlei Einsicht in ihre Misere. Aber irgendwann wird sie wahrscheinlich auch abstürzen und die dunkle Nacht der Seele durchleiden müssen. Dann werde ich versuchen, ihr zu helfen, so wie mir geholfen worden ist.
Frank dachte an seinen früheren Freund Thomas. Der hatte den Absturz vom Positivgipfel schon lange hinter sich und konnte sich bis heute nicht davon erholen, denn er war nicht aufgefangen worden. Frank hatte ihn mehrere Male abblitzen lassen, da gab es wirklich etwas gutzumachen. Und plötzlich hatte er die Idee: Ich könnte mein Institut zu einer Ambulanz für Opfer des Positiven Denkens umfunktionieren, sowohl für Notfallpatienten, im akuten Positiv-Absturz, wie für chronisch Positivgeschädigte. Schauen wir mal.