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Wittelsbach

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Wir befinden uns mit Klaus (16 Jahre alt) und seinen fünf Schwestern im Katalonienweg.
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28. November 1974
„Und ihr könnt auch mal Voralarm abgeben, bevor ihr wie eine Horde Zombies hier herein stürzt!“
„Und du kannst deine Hausaufgaben in deinem Zimmer machen!“ erwiderte die immer frechere Schwester Christiane. Der fehlte eindeutig ein Mann! Nun gut, – dafür war sie noch zehn oder zwanzig Jahre zu jung.
„Zombies, Zombies!“ Biene ließ ihre hässliche Wanderratte auf und ab über den Tisch hüpfen.
„Wie sieht denn ein Zombie aus?“ fragte Schwester Katharina.
„So wie du, so wie ihr alle!“
„Klaus, zähme deine Worte! Und nimm das zurück!“
„Die wissen doch gar nicht, was ein Zombie ist, Mama! Ein Untoter! So wie Bienes Kanalratte!“
„Die ist aber tot!“ sagte Katharina.
„Ratte ist nicht tot!“ schrie Bienchen aufgebracht. „Guck mal! Springen und Tanzen!“ Die Ratte hüpfte vergnügt über den Tisch und stieß eine leere Kaffeetasse um.
„Jetzt pack‘ die Ratte weg, es gibt Kaffee und Kuchen!“
„Kuchen oder Torte?“ Ich machte mir wenig Hoffnung.
„Scheibe Brot für jeden, Butter und Stachelbeer-Marmelade!“
Man soll sich nie Hoffnungen machen.
„Und danach isst jeder einen Apfel!“ fügte sie hinzu.
„Jeden Tag ein Apfelschmaus
und der Doktor bleibt zu Haus!“ sangen die Kasperlefiguren am Tisch wie auf Knopfdruck.
Ich stapelte die Schulbücher neben mir auf dem Boden. „Wenn die Bücher nicht so schwer wären! Das meiste braucht man sowieso nicht!“
„Dann musst du mehr in deinen Büchern lesen!“ erklärte Schwester Christiane unaufgefordert. „Vom Lesen werden sie leichter. Weil die gelesenen Worte aus dem Buch in deinen Kopf verschwinden.“
Biene heulte direkt auf Stufe Zehn los.
„Geht das auch eine Stufe leiser und mit Voralarm?“ brüllte ich.
Biene schaute mich stumm und neugierig an.
„Bevor du heulst, kannst du doch zweimal Glucksen und dann die Sirene einschalten! Oder du lässt das Heulen ganz sein. Aus dem Alter bist du schon seit fünf Jahren raus!“
„Klaus! Sabine ist erst vier!“ wies mich Mutter zurecht.
Biene gluckste zweimal und begann direkt wieder auf Stufe zehn zu heulen.
„Was ist denn nun, Sabine?!“ fragte meine Mutter.
„Mein Buch kann ich nicht mehr lesen!“ schluchzte sie in die Ratte hinein.
„Du kannst auch andere Bücher nicht lesen! Vielleicht kannst du dein Klopapier lesen, wenn du gerade deinen.–“
„Klaus! Wir sind bei Tisch!“
„An einem leeren Tisch!“
„Natürlich kann ich lesen!“
„Wenn du es zufällig richtig rum hältst, kannst du dir die „Bilder anschauen!“
„Wie wär’s denn, wenn du das Brot schneidest!“
„Nein, Mama! Klaus macht sich selber immer eine viel dickere Scheibe ab!“
„Andere Leute haben eine Brotschneidemaschine!“ schlug ich vernünftigerweise vor.
„Ja, mit angeschlossener Dampfmaschine!“ sagte die freche Schwester Christiane.
„Gut, ich schneide jetzt sechs Scheiben Brot ab und dann werden sie verlost!“ Salomon ist ein Waisenknabe gegen mich.
„Klaus hat sieben Scheiben Brot abgeschnitten und eine heimlich unter seinen Teller geschoben!“ beschwerte sich Monika.
„Wenn es heimlich war, dann hat es keiner gesehen!“ sagte ich. Meine berufliche Laufbahn als Hütchenspieler kann ich an den Haken hängen. Ich legte alle sieben Scheiben auf dem Tisch aus.
„Jetzt sagt jeder eine Zahl. Christiane?“
Jede Schwester sagte eine Zahl. Ich sagte: „Eins! Und damit habe ich gewonnen! Es galt die niedrigste Zahl zu nennen. Also darf ich frei auswählen!“
„Das ist doch Schwachsinn! Die Regel musst du vorher angeben!“ sagte Christiane. „Wir machen das anders. Jeder denkt sich – Gut ich sehe gerade, das hat sich erledigt. Wo ist das Buttermesser?“
Meine Mutter hatte die Scheiben ohne viel Firlefanz einfach verteilt und die siebte Scheibe wieder unter das Brot geschoben. Nennt man das pragmatisch? Ein neues Wort aus meinem Wort-Karteikasten. Diktatorisch passt wohl besser.
Ich sah Bienchens Lieblingsbuch zwischen meinen wertvollen Schulbüchern liegen. Da ich auf das Buttermesser noch lange warten konnte, nahm ich es in die Hand. „Was der Wind erzählt. Von Reinhold Ehrhardt.“ Ich spähte über den Rand. Ich hatte die volle Aufmerksamkeit. Biene hing besonders an meinen Lippen. Auch die Wanderratte hatte sich mir zugewendet. „Ich sehe gerade, lauter leere Zeilen! -Dies bin ich. Der Pustewind. Puste hier und da,- . . . oh, – das Wort ist leidlicherweise verschwunden. – Puste hier und da –“
„Geschwind!“ rief die Kanalratte.
„Sause über Land und Meer. Hui, im Himmelsflug – das Wort fehlt wieder. Schade.“
„… daher!“ krähte Biene vergnügt.
„Bienchen, du kannst ja lesen ohne überhaupt ins Buch zu schauen! Toll!“ sagte ich anerkennend, schlug das Buch zu und sicherte mir schon mal die Butterdose.
 



 
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