Alle meine Zahnärzte

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Dr. Weiß in Hamburg kam wie auf Kufen ins Behandlungszimmer gerollt. „Was wie Plattfüße aussieht“, sagte er, „sind meine erfrorenen Zehen. Ich habe sie aus dem Krieg mitgebracht.“ Klein und dicklich, wirkte er wie ein freundlicher älterer Maulwurf. Einmal erzählte er vom Zahnziehen an der Ostfront. Sie hätten zum Desinfizieren Pferdeurin genommen. „Altes Mittel aus Ostpreußen. Sehr zu empfehlen.“ Er wollte wissen, wie alt ich ihn schätzte. Ich sagte, ungefähr sechzig. – „Pah, schon fast siebzig. Ich muss noch eine Weile durchhalten. Gegen die Ölpreise kann man kaum anverdienen. Ich habe ein Haus mit hundertvierzig Quadratmetern zu beheizen.“ Und er begann zu bohren.

Dr. Weiß hatte bei seiner Statur oft Mühe, mit dem Bohrer an die entscheidende Stelle im Mund zu gelangen. „Meine Helferin sagt manchmal: Setzen Sie sich ihm doch auf den Schoß. Na, das würde Ihnen natürlich Spaß machen, wenn Sie vom anderen Ufer wären …“ Ich zuckte zusammen, damals war ich ein junger Mann und nicht gerontophil. Er wollte es wieder gutmachen und fügte hinzu: „Seien Sie beruhigt, dafür halte ich Sie bestimmt nicht.“ Und er tätschelte mir die Schulter.

Um diese Zeit musste ich einmal am Wochenende in die Zahnklinik. Der Warteraum für Notfälle war überfüllt. Einer trug Texasstiefel mit Sporen und hatte seine Freundin mitgebracht. Sie war schwanger, hoffentlich von ihm. Er stiefelte schmerzgeplagt wie ein gereizter Tiger vor allen auf und ab. Dann war er dran, ich aber noch lange nicht und hatte auch Schmerzen. Es gibt mitleidige Menschen, die Erbarmen kennen: Ich durfte außer der Reihe ins Behandlungszimmer. Seine Ausstattung war mangelhaft und veraltet, die Stromversorgung des Bohrers setzte in Intervallen aus. Es war sehr aufregend. Endlich war der Durchbruch geschafft, der Herd bald ausgeräumt. Den Rest sollte Dr. Weiß besorgen.

Als ich den Stadtteil wechselte, wollte ich auch einen anderen Zahnarzt haben. Dr. Gold war jung, dynamisch und voller Ideen. Er sah mir in den Mund: „Das sieht ja nach DDR-Kronen aus … Muss alles ersetzt werden … Und links haben Sie keinen richtigen Biss, merken Sie das denn nicht?“ Er entfernte den Zahnstein und entließ mich für diesmal. Die Helferin sagte: O, wir werden Ihnen viele Termine geben müssen. Machen wir nächstes Mal.“

Stattdessen konsultierte ich Dr. Schmelz. Er sagte: „Wissen Sie, es gibt Ärzte – und es gibt Kaufleute. Ihre Kronen ersetzen wir nach und nach, wenn es an der Zeit ist.“ An den Wänden seines Wartezimmers hingen Plakate mit Ansichten tropischer Strände. Er verbrachte seinen Urlaub gewöhnlich auf fernen Inseln. Die Atmosphäre in seiner Praxis hatte etwas Einlullendes. Sanft, behutsam, sehr freundlich. Immerzu wurde gelächelt. Ich glaube, seine Helferin war vielleicht auch seine Geliebte. Sie sagte zu mir: „Zähne ziehen, das kann er!“ und blickte bewundernd zu ihm auf. So sagt eine Konditorsfrau über ihren Mann: „Versuchen Sie einmal seinen Baumkuchen!“

Wir hatten also eine kleine Debatte über eine Extraktion. Ich drücke mich mit Absicht gewählt aus. Nach dem kleinen Eingriff sagte Dr. Schmelz: „Aspirin, falls Sie Schmerzen haben sollten, vielleicht schon zur Vorsorge, wenn Sie schlafen gehen.“ Dann stand ich im Wartezimmer, die Hand vor dem blutgefüllten Mund. Es war inzwischen eine frühere Kollegin von mir eingetroffen, ich hätte sie gern begrüßt und mit ihr geredet. – „Sagen Sie nichts, ich kenne die Situation.“

Daheim hörte die Blutung allmählich auf. Ich hatte es hinter mir. Erleichtert machte ich mir Tee und trank drei Tassen Assam Broken. Und schluckte zur Nacht Aspirin, wie mir geraten. In meinen Träumen hatte ich das Gefühl von Lakritzstangen in meinem Mund. In Wirklichkeit waren diese weichen Wülste, die immer länger wurden und mir bereits in den Hals hineinwuchsen, geronnene Blutfäden. Blut sickerte unaufhörlich aus der Wunde und es ließ sich auf keine Weise stoppen. In der Herrgottsfrühe eilte ich mit einem Taxi zum Notzahnarzt. Er sagte: „Ich muss die Schiene erst anfertigen, die Ihre Wunde zusammenpressen soll. Mögen Sie solange fernsehen?“ Und später: „Aspirin? Bei Extraktionen absolut kontraindiziert!“ Den Tee hatte ich ihm verschwiegen.

Hier auf dem Land gehe ich zu Dr. Biss. Die Leute sagen, er sei ein Pferdenarr. Tatsächlich sieht er wie ein älter gewordener Jockey aus, klein und mager, und er hat auch den typischen Gang. Bei Pferden spielt das Gebiss eine große Rolle. Die raue Stimme von Dr. Biss schallt durch die Praxis wie über eine Rennbahn. Alle Behandlungsräume stehen offen wie Pferdeboxen. Dr. Biss behandelt seine Patienten gewöhnlich parallel. Wenn er einen unter sich hat, bespricht er gleichzeitig schon die nächsten Fälle mit den Assistentinnen nebenan. Eine von ihnen bereitet mich in einem Nachbarzimmer auf die Behandlung vor. Ich höre Dr. Biss rufen: „Riecht die Füllung bei Herrn Abendschön noch?“ – „Ja, tut sie, nach Gas.“ – „Dann kriegt er wieder eine Einlage.“ Und alle bekommen alles mit.

Dr. Biss ist im direkten Umgang mit seinen Kranken überraschend sanft, geradezu zartfühlend. Wenn er hereinkommt, sieht er aus wie ein tüchtiger Handwerker – und ist ein Künstler in seinem Fach. Ein Griff in den Mund, wie bei Pferden, und er ist sich seiner Diagnose sicher. Sofort beginnt die Behandlung. Es ist eigentlich ein Vergnügen, sein Patient zu sein. Ich bleibe ihm treu, bis auf weiteres.



Nachbemerkung: Text von 2007. Jetzt in Berlin gehe ich zu einer Zahnärztin. Da gibt es nichts zu lachen, sie ist einfach nur kompetent und freundlich.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Amüsante Geschichten zum Draufloslesen. Atmosphärisch und zuweilen ulkig. Hießen und heißen die Herren Zahnärzte tatsächlich so?
Gruß KK
 
Danke, klauskuckuck, für deine freundliche Aufnahme des Textes. Natürlich hießen die Zahnärzte nicht so. Ich habe nur versucht, mit den Namen Anklänge an die Zahnheilkunde herzustellen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Lieber @Arno Abendschön: Was Zahnärzte betrifft, könnte ich Sachen erzählen …
Darf ich leider nicht. Weil es sich nicht gehört, wenn man im Erstberuf Zahnarzthelferin gewesen ist.
 
Meinen großen Dank auch an alle, die zwischenzeitlich den Text noch bewertet haben.

Zum Thema Vertraulichkeit, von Isbahan angesprochen: Als Patient darf man wohl einiges ausplaudern? Zum Beispiel, wie ich einmal während eines kieferchirurgischen Eingriffs aus der Vollnarkose aufwachte und mitanhören durfte, wie der Operateur die vielleicht gerade etwas konfuse Schwester an seiner Seite herunterputzte: Sie solle sich jetzt nicht so gehen lassen, sondern zusammenreißen, sie hätten schließlich bis Mittag noch so und so viele Operationen vor sich. Das in offenbarer Wut herausgebellt, fand ich ungemein beruhigend.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Ich darf nur nichts über ehemalige Patienten … über meine Chefs könnte ich. Wenn ich wollte ;)
 



 
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