Alle Menschen sollen "glücklich" sein

4,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Heinrich VII

Mitglied
Er traf sie im Chinesen-Schnellimbiss, gleich bei ihm gegenüber. Dort saß er zu der Zeit jeden Mittag und aß Reis mit Huhn, manchmal auch etwas anderes.
Es war billig, es war viel und es schmeckte einigermaßen. Manchmal sogar gut.
Wie aus heiterem Himmel stand sie neben ihm, als er so am Futtern war und lächelte. Er sah sie verwundert an und konnte nichts erwidern, weil er gerade kaute. Sie bestellte ein Bier und setzte sich neben ihn auf den Barhocker. Das war ihm schon eine Weile nicht mehr passiert, dass sich eine so gut aussende Frau neben ihn setzte. Er wurde dieses Jahr 56 und damit waren seine Chancen bei Frauen, wie er glaubte, mehr oder weniger im Eimer. Eine Arbeit hatte er schon lange nicht mehr. Zuletzt war er Fahrer gewesen, in einer Spedition. Dann rentierte sich die Tour nicht mehr und er wurde entlassen. Als er sich bei anderen Firmen bewarb, musste er die Erfahrung machen, dass für Leute ab 50 die Arbeitswelt mit Brettern vernagelt war. Noch nicht einmal als Klo-Putzer hätten sie ihn zu der Zeit genommen. Lediglich eine Autovermietung bot ihm einen Job an, fünf Euro die Stunde. Er lehnte ab und meldete sich arbeitslos. Hin und wieder konnte er schwarz irgendwo ein paar Kröten dazu verdienen. aber ein Auto konnte er sich schon lange nicht mehr leisten. Am Wochenende weg gehen war inzwischen auch nicht mehr drin. Also saß er meist in seinem Wohnzimmer vor dem Fernseher oder surfte im Internet. Hin und wieder ging er mal auf ein Bier ins Bistro gegenüber - das war´s auch schon.
"Kommst du öfter hierher?", fragte sie.
Dietmar nickte und sagte: "Dich hab ich hier noch nie gesehen."
"Bin ja auch zum ersten Mal hier."
"Bist wohl neu in der Stadt?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ich wohne zwei Orte weiter; da gibt´s keinen Imbiss. Hab diesen hier zufällig beim Vorbeifahren entdeckt."
Sie bestellte dasselbe wie er, Reis mit Huhn. "Bin mal gespannt, wie das schmeckt."
Dietmar aß fertig und bezahlte. Dann verabschiedete er sich und wollte seiner Wege gehn.
"He, willste nich noch bleiben, um zu erfahren ob´s mir geschmeckt hat?"
Dietmar blieb stehen und besah sich das Frauenzimmer eingehender. Geschätzt Anfang dreißig. Lange, schwarze Haare. Ein bisschen mehr als schlank, aber dennoch gute Figur. Ihr Gesicht war hübsch und ihre Stimme angenehm. Doch etwas irritierte ihn an ihr, ohne dass er drauf kam, was es sein könnte.

"Wenn du gegessen hast, kannste ja bei mir klingeln und Bescheid geben“, sagte er zum Spaß.
„Ich wohne gleich da drüben im Nachbarhaus" , er zeigte in die Richtung, "zweiter Stock, bei Lohman."
Sie nickte. Dietmar drehte sich um und ging raus. Die beste Art, aufdringliche Frauenzimmer los zu werden, dachte er auf dem Weg. Schönheit hin oder her, er war es einfach nicht mehr gewohnt, sich mit einer Frau einzulassen. Als er vor der Haustür stand, schloss er auf und lief hoch in seine Wohnung, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen.

Eine halbe Stunde später klingelte es. Als es ein zweites Mal klingelte, nahm Dietmar den Hörer der Sprechanlage ab und fragte wer da sei.
„Na ich - die Frau aus dem Imbiss.“
Dietmar zögerte und überlegte einen Moment, ob er sie rein lassen sollte.
„Scheiß drauf!“ Er drückte den Knopf.
Ist das zu glauben, fragte er sich, als er vor seiner Wohnungstür stand und das Klack, klack von Frauenschuhen im Treppenhaus hörte. Nicht viel später stand sie vor ihm und sagte: "Wenn du mich auf n Bier rein lässt, erzähl ich dir, wie das Essen geschmeckt hat." Sie lachte, vermutlich um ihrem Auftritt etwas Unbefangenes zu geben.

Als beide im Wohnzimmer saßen, holte Dietmar zwei Flaschen Bier, öffnete sie und gab ihr eine.
"Willste n Glas?"
"Geht schon!"
Sie setzte die Flasche an und trank. Dietmar nahm auch einen Schluck und sah sie danach fragend an.
"Und, wie hat´s denn nun geschmeckt?"
"Gut genug, dass ich da unten nochmal hingehe."
Dietmar nickte und wusste nicht, ob er dazu einen Kommentar abgeben sollte.
Er aß schon ewig da unten. Ob es gut war, darüber hatte er noch nie wirklich nachgedacht.
Für seine Verhältnisse war es gut genug, für das Geld und es machte einen bis zum Abend satt.

"Kannst du mir die Schultern massieren, bin grad ziemlich verspannt."
"Willst du mir nicht erst deinen Namen sagen?"
"Su - Kurzform von Susanne."
"Und du?"
"Dietmar."
Einen Moment schwiegen sie, dann sagte Su: "Was ist jetzt, massierst du mir die Schultern?"
Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihm. Dietmar trank noch einen Schluck und stellte die Flasche auf den Tisch.
"Ah, das tut gut", schnurrte sie, als er damit anfing. Dietmar knetete sie gut durch. Darauf verstand er sich, hatte seine sämtlichen Freundinnen
immer ausgiebig massiert.
"Verstehst du dich auch auf Brüste?"
"Wie?"
"Ob du mir die Titten massierst?"
"Wo soll n das hinführen?"

Später, als er sie auch dort massiert hatte, lagen beide in seinem Bett und Su sagte: "Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht."
"Was meinst du?"
"Mit einem wildfremden Kerl einfach in die Kiste."
"Und wann hast du´s zum letzten Mal gemacht?"
"Zu meiner Studentenzeit, als ich bei den Linken war."
"Bei den Linken?"
"Damals waren alle links, die cool und angesagt sein wollten.“
Dietmar legte sich auf sie und führte sein bestes Stück ein, bevor allzu viel Diskussion die Sache im letzten Moment noch verhinderte.
Nach dem Verkehr lagen sie nebeneinander und rauchten.

"Wir hatten damals so einen Wahlspruch in diesen Gruppen", plapperte Su.
"Allen Menschen soll es gleich gut gehen, nicht nur materiell, auch vom Befinden her."
"Und wie soll das gehen?"
"Man tut in seiner Umgebung, was man kann."
"Und was hast du getan?"
"Ab und zu mit einem Mann geschlafen, der eine wie mich sonst nie bekommen hätte."
Dietmar verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette und musste gewaltig husten. Su klopfte ihm auf den Rücken, um Abhilfe zu schaffen.
Als er wieder reden konnte, fragt er: "Aus Mitleid?"
"Wir nannten es anders: Sagten, dass wir es deshalb tun, damit alle Menschen glücklich sind; auch die vom Leben benachteiligten."
"Und jetzt hast du es gerade wieder mal getan?"
Su nickte.
Dietmar packte sie und warf sie im nächsten Moment aus dem Bett. Er stand auf, riss ihre Klamotten vom Stuhl und trieb sie vor sich her, raus auf den Flur.
Dort schmiss er ihre Sachen auf den Boden und sagte: "Fünf Minuten - wenn du dann nicht verduftet bist, drück´ ich deine hohle Birne in die Kloschüssel!"
Kopfschüttelnd eilte er in die Küche und machte sich ein Bier auf. Nichtmal so viel Grips, wenigstens das Maul zu halten. Oder gehörte das auch dazu - um andere Menschen "glücklich" zu machen? Mit einem Mal wusste er, was ihn so irritiert hatte an ihr; es war dieser aufgesetzte Samariter-Blick.
 
Zuletzt bearbeitet:

ThomasQu

Mitglied
Ich muss schon gestehen, Herr Heinrich, dass dein Text bei mir leichtes Grinsen erzeugt hat, allerdings, so fürchte ich, geht es nicht jedem Leser bzw. jeder Leserin so.
Lustig, angenehm und flott geschrieben, überraschender Schluss.
Grüße Th.
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo ThomasQu,

Ich muss schon gestehen, Herr Heinrich, dass dein Text bei mir leichtes Grinsen erzeugt hat, allerdings, so fürchte ich, geht es nicht jedem Leser bzw. jeder Leserin so. Lustig, angenehm und flott geschrieben, überraschender Schluss.
Danke, hat mich gefreut, dass es dir gefallen hat und dass du mir einen Kommentar hinterlassen hast.
Das "Schweigen im Walde" ist ja oft bedrückender als eine negative Kritik (deine nicht, die war sehr positiv)
Diese Geschichte ist nicht jedem seine Sache, das ist klar. Liebe und Beziehungskram wird ja oft in den buntesten Farben dargestellt.
Wobei ich der Meinung bin, dass es in der Realität oft völlig anders aussieht. Wie auch immer: Es war mir ein Anliegen zu zeigen,
dass gut gemeinte Dinge auch nach hinten los gehen können. ;)

Gruß, Heinrich
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Mir gefällt die Geschichte
Bisschen schräg. Und real könnte das durchaus passieren.
Ich dachte, er wirft sie aus dem Fenster. :))

Gruß DS
 

aliceg

Mitglied
Hallo Heinrich!
Sehr anschaulich wie du drauflos geplaudert hast!
Zeitweise gewürzt mit satirischen Anmerkungen, nimmt die Geschichte nach dem ersten Drittel Tempo auf.

Klar, wenn zwei zusammenkommen oder auch nicht, muss nicht immer die Gefühlsebene unendlich tief sein. Man konnte nicht einmal erraten, wie sich die Dinge ver- oder entwickeln werden.

Machte Vergnügen, deinem Erzählverlauf zu folgen, der am Ende den Erzähler mitten ins männliche Ego trifft. Seine Reaktion - kein Wunder also!
lg aliceg
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo aliceg,

Sehr anschaulich wie du drauflos geplaudert hast! Zeitweise gewürzt mit satirischen Anmerkungen,
nimmt die Geschichte nach dem ersten Drittel Tempo auf. Klar, wenn zwei zusammenkommen oder auch nicht,
muss nicht immer die Gefühlsebene unendlich tief sein. Man konnte nicht einmal erraten, wie sich die Dinge ver- oder entwickeln werden.
Machte Vergnügen, deinem Erzählverlauf zu folgen, der am Ende den Erzähler mitten ins männliche Ego trifft. Seine Reaktion - kein Wunder also!
Ja - du hast es schön zusammen gefasst. Manchmal kann der Schuss (zu zweit) nach hinten los gehen. :rolleyes:
Danke für deinen Kommentar und dein Rating - hat mich gefreut.

Gruß, Heinrich
 



 
Oben Unten