Allein geht’s auch, wenn nur keine Pandemie dazwischen kommt

Milja Lajoie

Mitglied
Allein geht’s auch, wenn nur keine Pandemie dazwischen kommt

Ich bin das, was andere als Bauchmensch bezeichnen würden. Eigentlich Quatsch. Findet eh alles im Gehirn statt. Aber meins lässt sich sich dummerweise viel zu oft von Emotionen leiten. Nichts da Ratio, sobald ich einen Impuls verspüre, folge ich ihm wie Jerry dem Käse. Ein langer verführerischer Faden Richtung Verderben.

Dabei sind die eigenen Gefühle eigentlich kein guter Ratgeber. Als mein Partner nach Deutschland reiste und damit den gemeinsamen Teil unserer Weltreise beendete, habe ich mich nach Heim und Zweisamkeit gesehnt, nach Wochenmarkt und Spießigkeit. Ich flog nach Thailand mit einem bleiernen Klotz am Bein, der unter allen Umständen mit nach Deutschland wollte. Und jetzt, keine 10 Tage später, warte ich auf meinen eigenen Flug und fühle mich wie Rose Dewitt Bukater, die in Fesseln nach Amerika zurückgebracht werden soll. Was ist passiert?

Die ersten Tage auf Koh Mok folgte ich einem getriebenem Rhythmus. Bloß nicht stehenbleiben, innehalten, nachsinnen. Ich hatte schließlich Pläne und Trübsalblasen würde mir nur kostbare Zeit stehlen. Nachdem ich die kleine Insel zu Fuß ausgekundschaftet hatte, entschied ich mich für eine Tour zu einer der Nachbarinseln. „Most busy guest I have ever seen“, stellte Nick kopfschüttelnd fest, während seine Ehefrau Wuan, die Besitzerin der Wohnanlage, mich über mögliche Ausflüge aufklärte. „You better find somebody else, otherwise boat too expensive“, bemerkte sie mit besorgter Miene. Somebody else. Nein, danke. Am Abend jedoch bedeuteten mir beide einvernehmlich, dass sie jemanden gefunden hätten und Wuan deutete auf einen Mann in weißem Hemd, ausgestattet mit Strohhut und Mai Tai. Erster Impuls: Laufen. Zweiter: Gegensteuern. Die Auswahl an Sozialkontakten war hier schließlich begrenzt. Reza kam ursprünglich aus den USA und reiste seit mehr als 20 Jahren um die Welt. Die Krempe seines Strohhuts war fettig. Er hatte den Hut offensichtlich nicht im ersten Tourishop am Flughafen gekauft. Dieser Hut lebte und erfüllte einen Zweck. Wir redeten bis tief in die Nacht. Reza erzählte mir von seiner verqueren Familiengeschichte und ich erklärte ihm, dass Frauen keine Besitztümer seien. Hatte ihm in den letzten 20 Jahren wohl noch niemand gesagt. Wurde mal Zeit. Wir tauschten uns über elterliche Fauxpas aus, debattierten über den freien Willen und erörterten die Sinnhaftigkeit der Schuldfrage. Als Wuan uns beim Frühstück fragte, ob wir noch einen weiteren Gast mit auf die Tour nehmen wollten, waren wir skeptisch. „A lot of people suck and then they gonna ruin the experience, you know?“ - Ja, weiß ich und seh ich auch so. Aber aus Solidarität entschieden wir uns gegen unser Bauchgefühl und so lernten wir Jim kennen. Jim kam aus England und arbeitete, ebenso wie Reza, im Festivalbereich und beide berichteten von einem Leben abseits von festen Arbeitszeiten, Bürokratie und Einschränkungen. Das mit den Frauen und den Grenzen musste auch Jim noch lernen, aber dafür brachten die beiden mir bei, zur Ruhe zu kommen. Als sich uns ein streunender Hund anschloss und uns fortan begleitete, war unsere Gang komplett. Wir ließen uns im Meer treiben, gingen schnorcheln, wir machten Yoga und meditierten. Abends tauschten wir frische Kokosnüsse gegen Bier aus und unterhielten uns lebhaft. Über die Lage in Europa natürlich und über eine Pandemie, die für uns noch weit entfernt schien. Jim berichtete von der Unfähigkeit Boris Johnsons, Reza ließ sich über Donald Trump aus und wir alle fühlten uns wie unbeteiligte Kommentatoren einer schicksalsträchtigen Theateraufführung. „Keep attention to the sunset, don‘t miss the show“, ermahnte uns der Kellner und deutete mit dem Zeigefinger Richtung Horizont. Stimmt, es gibt noch die wichtigen Dinge im Leben - zum Beispiel Sonnenuntergänge.

Das Coronavirus hat sich so wenig auf uns ausgewirkt wie der berühmte Sack Reis, der mal irgendwo in China umgefallen sein soll. Die Wissenschaftler vermuteten einen Zusammenhang zwischen hohen Temperaturen und der Ausbreitung des Virus. Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Unantastbar. Während wir uns im Meer treiben ließen, fragte Reza mit der ernsten Miene eines Investigativreporters: „So, Edina, during the Corona crisis in 2020 - what did you worry about the most?“, woraufhin ich antwortete: „Well, most likely it was the question of when to put sunblock on - now or later.“

„Ich will dabei sein, wenn das alles explodiert“, sang Gisbert und wir sollten Zeugen dieser Explosion werden. Ein Boxkampf in Bangkok führte zu einem plötzlichen Anstieg der Coronainfizierten. Währenddessen spitzte sich die Lage in Europa weiter zu und die Gesundheitsversorgung in Italien drohte zusammenzubrechen. Der internationale Flugverkehr erlahmte und Deutschland sprach eine weltweite Reisewarnung aus. Mein Flug nach Japan wurde gestrichen und als die Möglichkeiten der Weiterreise sich reduzierten, beschloss Jim nach England zurückzukehren. Reza und ich hingegen verlängerten unser Visum umgehend und boten Wuan an, die Kinder der Nachbarn in Englisch zu unterrichten. Wuan war sichtlich begeistert von der Idee und rief sogleich Bekannte und Verwandte an, um ihnen von unserem Angebot zu erzählen. Am nächsten Morgen teilte sie uns jedoch mit, dass die Menschen auf Koh Mok skeptisch seien. Weil wir aus dem Westen kämen. Unser Angebot wolle niemand annehmen. Nick erklärte uns, dass der Gesundheitsminister von Thailand öffentlich verkündet habe, dass Menschen aus dem Westen schmutzig seien. Sie würden keine Masken tragen und das Virus könne sich so ungehindert in Thailand ausbreiten. Man müsse sich von ihnen fern halten. Das Sündenbocknarrativ also. Funktioniert immer.

In den kommenden Tagen verschlechterte sich das politische Klima maßgeblich. Straßensperren wurden errichtet, Kontrollen durchgeführt, Touristen ausgewiesen. Wuan und Nick nahmen uns unter Familienschutz und so blieben wir, während alle anderen abreisten. In mir stieg ein mulmiges Gefühl auf. Als Nick uns dann darüber informierte, dass in ein paar Tagen ein Lockdown stattfinden würde und die Regierung das Militär einsetzen wolle, um nicht nur Ausgangssperren, sondern Bewegungsverbote mit sofortiger Wirkung zu verhängen, ließ ich meine Ratio sprechen und buchte einen Rückflug nach Deutschland. Reza wäre damit bald auf sich allein gestellt. Eine Bleibe in den USA habe er nicht, zu seiner Freundin in den NIederlanden dürfe er nicht mehr und hier laufe er Gefahr von den thailändischen Behörden eingesperrt zu werden. Klingt jetzt ein bisschen dramatisch, war es aber auch. Eine Shitshow, wie Reza es bezeichnete. Hier wie anderswo. Während Donald Trump eine Falschmeldung nach der anderen rausgab, die der Immunologe Fauci mühsam richtigstellte, klärte der Comedian John Oliver die amerikanische Bevölkerung über die Folgen des Coronavirus auf und über das richtige Verhalten, um einem Kollaps des ohnehin fragilen Gesundheitssystems weitestgehend zu entkommen. Der Präsident hatte anscheinend wichtigeres zu tun.

Ich reise ungern ab. Gegen mein Gefühl. Eigentlich hatte doch gerade erst alles begonnen. Und was erwartete mich schon zu Hause? Quarantäne statt Meer. Alltag statt Abenteuer. Deutscher Frühling statt japanisches Kirschblütenfest. Insgesamt keine guten Aussichten. Aber immerhin ziemliche Luxusprobleme. Während sich in Deutschland Menschen darüber beklagen, nicht mehr in Kneipen gehen zu dürfen, nehmen sich im Norden Thailands die ersten Menschen bereits das Leben, weil ihre Existenz zugrunde gerichtet ist. Mit den schmutzigen Touristen aus dem Westen bleibt leider auch deren Geld aus.

Wuan, Nick und Reza bringen mich zur Fähre und zwei Tage später stehe ich geknickt am Flughafen in Bangkok. Um mich herum nur Leute mit sauberen Strohhüten und ich habe das starke Gefühl ausbrechen zu wollen und zur Insel zurückzuschwimmen. Gefühle sind oft ein bisschen langsam und sicher nicht die hellsten Kerzen auf der Torte. Daher sollten wir es mit ihrer Verfolgung nicht überstürzen. Erst ein bisschen Recherche betreiben und schauen, ob sich der ganze Aufwand auch lohnt. Ich hab mir meine Reise zwar sicher anders vorgestellt, aber vielleicht ist es zuhause ja auch schön. Zeit zur Reflexion bietet die Quarantäne allemal. Und Sonnenuntergänge gibt es auch in Münster.
 



 
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