Allein Gelassen

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Tsibi

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Allein Gelassen

Inspiriert durch den Krieg in der Ukraine; gewidmet all denen, die aufgrund sinnloser Konflikte in der Welt leiden müssen



Ich habe Angst. So große Angst. Schon seit ein paar Tagen sind alle in heller Aufregung. Nichts ist mehr übrig von dem Frieden und der fröhlichen Stimmung, die noch vor kurzem geherrscht haben. Mama und Papa streiten sich immer wieder laut. Auch wenn sie versuchen, es vor mir zu verstecken, sind sie so laut, dass es unmöglich ist, nichts davon mitzubekommen. Sie sprechen von Angst, Flucht, den Willen, das eigene Land zu beschützen und der Gefahr eines Krieges. Nichts davon verstehe ich, außer die Angst. Sie ist so allgegenwärtig, dass ich mich am liebsten nur in meinem Zimmer vor allen verstecken würde, damit ich sie nicht mehr um mich herum spüren und sehen muss. Mama und Papa waren immer meine Sicherheit. Sie waren immer so stark. Und jetzt sind sie so nervös, dass sie schon bei einfachen Kleinigkeiten aus der Haut fahren. Ich verstehe es nicht, ich verstehe das alles nicht. Warum? Warum passiert all das?

Plötzlich explodiert irgendetwas in der Umgebung. Es ist so laut, dass mir die Ohren wehtun und ich sie mir zuhalten muss. Die Erschütterung ist selbst hier, in meinem Zimmer zu spüren. Augenblicklich spüre ich, wie Tränen in meine Augen steigen. Ich verstehe all das nicht! Es macht mir Angst! Mama kommt in mein Zimmer gestürmt. Doch so sehr ich mich nach ihrer Nähe und ihrer Sicherheit sehne, will ich doch ihr Gesicht nicht sehen. Ein Gesicht voller Schock und Furcht.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Schatz?“, fragt sie hastig.

„Mhm“, antworte ich nickend.

Besser kann ich nicht antworten, während die Tränen nicht aufhören wollen, meine Wangen entlangzufließen.

„Komm, komm her, mein Schatz.“

Ich eile zu ihr und lasse mich in die Arme schließen. Sie ist warm und ich fühle, wie sich etwas von meiner Anspannung legt. Trotzdem achte ich darauf, dass ich meinen Kopf so gegen sie lege, dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann.

„Es ist alles gut. Alles ist gut“, versucht sie, mich zu beruhigen, während sie mit einer Hand über meinen Kopf streichelt. Doch ich spüre die Nervosität in ihrer Berührung. Ein paar Augenblicke später kommt es zu weiteren Explosionen. Der Schreck lässt mich zusammenzucken und jeder klare Gedanke wird sofort in der Tränenflut hinweggespült. Ich habe Angst! Mama! Papa! Helft mir! Ich will, dass es aufhört! Doch es hört nicht auf. Ganz im Gegenteil. Die Explosionen gehen weiter, aber inzwischen mischen sich laute Schreie in den Lärm. Stimmen, die einander Dinge zubrüllen, die ich nicht verstehen kann, aber auch Laute des Schmerzes, der Qual, des Leides und der Trauer. Und meine Stimme gesellt sich dazu. Alles wird immer lauter und lauter und lauter. Es fühlt sich an, als würde mein Kopf platzen. Als würde der Boden unter meinen Füßen wegbrechen und alles, was ich kenne, alles was meine Welt war, keine Bedeutung mehr hätte.

Auf einmal kommt eine weitere Gestalt durch die Tür. Ich brauche ein paar Momente, um zu realisieren, dass es Papa ist. Aber auch wenn ich weiß, dass es Papa ist, wirkt er so ganz anders. Fast schon macht er mir Angst. Normalerweise hat Papa immer eine so beruhigende Wirkung auf mich, aber jetzt scheint er wie eine ganz andere, fremde Person zu sein.

„Seid ihr in Ordnung?“, fragt er uns.

Mama nickt, während ich mich in ihren Armen verstecke.

Erleichtert atmet er auf und gemeinsam gehen wir in das Wohnzimmer, begleitet von Explosionen und Schreien. Mama trägt mich.

Auf dem Tisch liegen Taschen und irgendwelche komischen Dinge. Eines der Dinge nimmt Papa und schnallt sie sich mit einem Gurt um die Hüfte. Waffen? Ich glaube das sind Waffen. Ich habe noch nie welche gesehen, aber langsam bin ich mir sicher. Woher hat Papa so etwas? Was will er damit?

„Was hast du vor?“, fragt Mama ihn mit einer ungläubigen Stimme.

„Was ich vorhabe? Was für eine dumme Frage! Natürlich werde ich da rausgehen und meine Heimat und meine Familie beschützen!“

Warum ist Papa so laut? Es macht mir Angst!

„Du willst deine Familie beschützen? Wir sind deine Familie!“, brüllt Mama ihn an.

Ich halte mir die Ohren zu, doch trotzdem verstehe ich jedes einzelne Wort, so sehr ich es auch vermeiden möchte.

„Und genau deswegen werde ich auch kämpfen!“

„Das ist Selbstmord! Du bist kein Soldat! Ich kann dich sehr gut verstehen, verdammt nochmal, am liebsten würde ich es selbst tun! Aber wir sollten das denen überlassen, die es auch können!“

„Jeder von uns kann kämpfen!“

„Und jeder von uns kann sterben! Denk an deine Tochter! Willst du, dass sie ohne einen Vater aufwachsen muss?“

„Willst du, dass sie ohne eine Heimat aufwachsen muss? An einem Ort, den sie nicht kennt? Fernab von wo sie geboren wurde? Es gibt kein Richtig und kein Falsch! Aber ich will nicht zusehen, während unsere Heimat zerstört wird! Ich will nicht davonrennen!“

„Mama! Papa! Hört auf zu streiten!“, schreie ich so laut, wie ich nur kann. Ich kann nicht noch mehr hören. Es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Doch zum Glück scheint es einen Effekt zu haben, da beide betreten schweigen. Schließlich geht Mama auf Papa zu.

„Schatz, wie gesagt, ich kann dich gut verstehen. Aber solange wir leben, wird es immer eine Zukunft geben. Und jetzt müssen wir vor allem an unsere Tochter denken.“

„Eine Zukunft? Eine Zukunft der Ungewissheit und voller Furcht? Ich will doch auch nicht Soldat spielen. Ich will mit euch beiden in aller Ruhe und im Frieden leben. Ich will mit dir zusammen alt werden. Ich will sehen, wie meine Tochter groß wird und ihr eigenes Leben beginnt. Ich will diese Zukunft so unbedingt sehen. Aber ich habe Angst. Was soll ich tun? Es fühlt sich einfach alles falsch an. Egal, wofür ich mich entscheide, mache ich einen Fehler. Und all das nur, weil uns dieser sinnlose Krieg aufgezwungen wurde. Warum hat niemand etwas unternommen? Warum muss es überhaupt so weit kommen? Warum müssen wir so leiden? Was haben wir getan, damit wir das verdient haben?“

Verzweifelt vergräbt Papa sein Gesicht in seinen Händen und dieses Mal ist er es, der Tränen vergießt.

„Wir haben nichts getan, Schatz. Wir wollten diesen Krieg nicht. Aber wir sind nicht diejenigen, die die Wahl dazu hatten. Wir sind nur diejenigen, die darunter leiden werden und die Kosten dafür bezahlen müssen. Und unsere einzige Wahl jetzt ist die zwischen Flucht und Kampf. Eine Wahl, vor der niemand jemals stehen sollte.“

All das, worüber Papa und Mama reden, ist für mich unverständlich. Aber ich kann ihre Gefühle spüren. Die Angst und die Unsicherheit. Ihre Zerrissenheit. Ihre Wut. Und ihre Verzweiflung.

„Ich will nicht, dass Papa weggeht!“, breche ich die entstandene Pause.

„Liebling.“

Papa legt eine Hand auf meine Wange, doch ich schüttle meinen Kopf und erneut füllen Tränen meine Augen, während ich immer panischer wiederhole: „Nein! Ich will nicht, dass Papa geht! Papa! Bleib hier! Du sollst nicht gehen! Nein! Gehe nicht!“

Für einen Moment ist Papa wie erstarrt, doch dann wirkt er auf einmal wieder so wie der normale Papa. Ich beruhige mich und er legt seine große, beschützende Hand auf meinen Kopf.

„Keine Sorge, meine Süße. Papa wird nirgendwo hingehen. Papa wird bei dir bleiben.“

Schniefend frage ich zur Bestätigung: „Sicher? Ganz sicher? Du wirst nicht verschwinden?“

„Nein, ich werde nicht verschwinden. Ich werde immer an deiner Seite und an der Seite von Mama bleiben, versprochen.“

Mhm. Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen oder tun soll, zu verwirrend und zu erschlagend ist die ganze Situation, aber ich bin froh, dass Papa bei mir bleiben wird. Ich werde zusammen mit Mama und Papa bleiben, das ist das Wichtigste.

Doch bereits einen Moment später bleibt nichts mehr davon übrig. Ich werde zu Boden geschleudert, meine Ohren und Kopf fühlen sich an, als würden sie platzen und ich kann nichts mehr hören. Alles tut mir weh.

„Mama? Papa?“

Meine Stimme ist nicht mehr als ein leises Krächzen und der Staub, mit an manchen Stellen leicht roter Einfärbung, verhindert jegliche Sicht.

„Mama? Papa?“

Keine Reaktion.

„Mama! Papa!“, versuche ich so laut wie möglich zu schreien, aber immer noch passiert nichts. Warum? Warum sagen sie nichts? Warum tun sie nichts? Mama! Papa!

Es dauert eine geradezu ewig andauernde Weile, bis sich der Staub gelegt hat und endlich kann ich Gestalten, begraben von Schutt und Staub, ausmachen. Nein. Nein, nein, nein, nein, nein! Nein! Das kann nicht sein! Mama! Papa!
Ich sehe ihre Körper nur noch verschwommen, während ich mich qualvoll langsam zu ihnen ziehe. Aus irgendeinem Grund wollen mir meine Beine nicht mehr Folge leisten und mir bleibt nichts anderes übrig, als über den Boden zu kriechen. Endlich komme ich bei ihnen an, doch selbst nachdem ich meine Hand auf sie lege und versuche, Papa und Mama wach zu rütteln, reagieren sie nicht.

„Papa! Mama! Hört auf damit! Ihr macht mir Angst!“

Keine Reaktion. Keine Reaktion. Keine Reaktion. Keine Antwort. Nichts. Gar nichts. Sie fühlen sich noch warm an, doch ich spüre genau, dass ihnen etwas sehr Wichtiges fehlt. Ich spüre keine Sicherheit mehr in der Berührung mit und der Nähe zu ihnen. Wie eine Flutwelle reißt mich die Angst mit sich und droht, mich zu überwältigen, doch schon bald versiegt sie und lässt mich allein zurück. So allein. Allein gelassen von meinen Eltern, allein gelassen von der Welt, allein gelassen von mir selbst. Alles ist hinfort. Das Einzige was bleibt ist mein Unverständnis. Ich verstehe es einfach nicht. Warum? Warum nur ist all das passiert? Warum nur wurde mein, unser Leben so zerstört?
 



 
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