Karl Feldkamp
Mitglied
Natürlich hatte auch Valerian Wolther kleine Schwächen und trat gern als jemand auf, der Lebensweisheiten von sich gab. Gelang ihm das im Kreise andächtig zuhörender Leuten, hörte er stets seine innere Stimme. Wiederholte sie seine Worte, konnte er sicher sein, einen bedeutenden Satz gelassen ausgesprochen zu haben. Wiederholte die innere Stimme seinen Ausspruch gar mehrfach, musste es ein außergewöhnlich bedeutender Satz gewesen sein.
Die besondere Würde des zunehmenden Alters – trug Wolther, inzwischen immerhin 68, mit getragener Stimme vor, bestehe darin, die von Lebensjahr zu Lebensjahr schneller wachsende Ohnmacht mit Würde zu ertragen. Die Leute in seinem Seniorenkreis im evangelischen Gemeindehaus nickten anerkennend. Doch seine innere Stimme schwieg. Hastig ergänzte er, mit besonderer Würde zeichnen Alte sich natürlich nur aus, wenn sie nicht allzu würdevoll daher schwafeln.
Wieder nickten die Alten im Gemeindehaus anerkennend. Doch sein inneres Echo blieb stumm und er fühlte sich plötzlich müde und innerlich leer.
Nun eignet sich gerade Valerian Wolther als geborenes Einzelkind ideal für das Leben in unserer allzu individualistischen Konkurrenzgesellschaft. Seine Mutter erzählte immer wieder, er habe sich wenige Monate nach seiner Geburt, als er noch nicht ohne fremde Hilfe gehen und stehen konnte, im Laufstall unter Aufwand all seiner kleinkindlichen Kraft an den Gitterstäben hochgezogen haben. Und immer wenn er den Halt verlor, begann er wütend zu kreischen und sich die Wangen aufzukratzen.
Zudem hatte sein Vater quer über den Hof hinter dem Teil des Reihenhauses, der seinen Eltern zu eigen war, einen dicken verzinkten Draht gespannt, über den Valerians Mutter ihre Wohn- und Schlafzimmerteppiche hängte, um aus ihnen mit einem Klopfer aus Bambus auch die allerletzten Staubteilchen herauszudreschen. Dabei schlug sie so heftig zu, dass Valerian bisweilen glaubte, sie stellte sich vor, anstatt des Teppichs seinen Vater vor sich hängen zu haben. Der war einer jener kleinwüchsigen Tyrannen, die mangelnde Körpergröße durch cholerisches Machtgehabe ausglichen.
Valerian diente der schmale Hof mit dem quer gespannten verzinkten Draht in späteren Kinderjahren als Spielfeld für Sportarten, die alle irgendwie dem Volleyball ähnelten und zu denen er ständig neue Regeln erfand, die ihn am Ende unweigerlich immer und immer wieder siegen ließen. Da er für seine Einzelsportart über keinen Schiedsrichter verfügte, war er gezwungen, dessen Rolle mit zu übernehmen und sich durch unbestechliche Entschlusskraft und absolute Aufmerksamkeit auszuzeichnen.
Vor allem aber galt es als Spieler und Gegenspieler, den Ball mit der flachen Hand oder mit der Faust so über den Draht zu schlagen, dass er ihn auf der anderen Seite noch, wenn auch nicht ganz problemlos, erreichen konnte. Das gelang ihm am besten, sobald er sich nahezu gleichzeitig auf Angriff und Verteidigung einstellte. Schlug er als Angreifer den Ball zu aggressiv und unberechenbar, hatte er als Verteidiger und Gegenangreifer auf der anderen Seite des Drahts keine Chance, sich erfolgreich zu wehren. Schlug er den Ball zu sanft, war er als Angriffsspieler auf der einen Seite unterlegen.
Damit er sich mit sich nicht langweilte, musste er jeweils auf der einen und der anderen Seite auch unberechenbare Bälle aufschlagen oder retournieren. Das schaffte Valerian nur, wenn der Zufall mitspielte und er aus Ungeschicklichkeit den Ball nicht besonders platziert in die vorausberechnete Richtung schlug. Manchmal versuchte er weitere Feldspieler zu beteiligen. Allerdings verkomplizierte das seine Spielweise. Und so gab er sich in der Regel mit einem Gegenspieler zufrieden.
Ein Unentschieden befriedigte ihn nie, da er als Sonntagskind im Sternzeichen Löwe der geborene Siegertyp war. Somit ließ er sich, ganz seinem Gerechtigkeitsempfinden folgend, abwechselnd mal auf der einen und dann wieder auf der anderen Seite gewinnen und riss jubelnd die Arme hoch.
Vor vier Jahren, als er nach seiner dritten fast zwanzig Jahre andauernden Ehe Witwer wurde, entschied er sich für die zeitgemäßeste aller individualistischen Lebensformen und blieb Single. Wöchentlich besuchte er – obwohl katholisch - die Single-Party 50 plus im Gemeindesaal der evangelischen Christuskirche.
Selten nahm er eine attraktive Seniorin mit nach Hause und ließ sich mit ihr für die eine oder andere Nacht auf das ein, was seine sich allmählich erschöpfende Potenz noch zuließ.
Besonders genoss er das morgendliche Zusammensein mit fülligeren Seniorinnen, die sich am Abend zuvor in seiner Küche zeigen ließen, wo sie alles Notwendige für das Frühstück fanden, um es ihm am späten Vormittag am Bett zu servieren. War das Frühstück gut, verbrachte er mit ihnen noch die eine oder andere Nacht.
Zumeist einmal im Monat, beehrten ihn zwei Zeugen Jehovas. Besonders wenn er ihnen verriet, Probleme mit der katholischen Amtskirche zu haben, weil sie unter anderem gegen Verhütung sei und er deswegen aus der Kirche austrat, wurden die zwei Männer besonders eifrige Prediger. Fast bei jedem Besuch kamen zwei andere, zumeist ein jüngerer und ein älterer. Und alle behaupteten sie nahezu wortgleich, das sprach für ihre Teilnahme an Predigerkursen, gerade Zweifler wären Suchende und deswegen besonders gläubige Menschen. Dabei lächelten ihre rosigen jungen und älteren Unschuldsgesichter milde und zugleich fanatisch. Redlich mühten sie sich, ihm einen Weg aus seiner inneren Leere zu zeigen, die sie selbstredend als Gottlosigkeit auslegten.
Vor fünf Wochen bekam er plötzlich hohes Fieber und heftigen Husten. Sein inneres Echo hatte schon lange nicht mehr geantwortet. Elend fühlte er sich. Blieb tagelang im Bett.
Verena, vollschlank, achtundfünfzig, die offenen blonden Haare viel zu lang für ihr Alter, war seine letzte Errungenschaft von der 50plus-Party. Für sonderlich intelligent hielt er sie nicht. Schwätzte viel Belangloses. Kam ihn aber täglich besuchen, kochte ihm Tee, brachte ihm Hustenbonbons und kochte leichte Kost, obwohl er keinen Hunger verspürte. Über Nacht blieb sie selten.
Schließlich erzählte Valerian Verena von seiner Leere, obwohl er sicher war, sie würde ihn nicht verstehen.
„Ich komme mir vor wie ein Niemand, ohne Mitte, ohne Boden unter den Füßen. Wohl fühle ich mich nur, wenn ich im Bett liege. Ich glaube, der Tod kommt von innen.“
Obwohl Verena immer wieder beteuerte, für sie sei er kein Niemand, behauptete er klagend, er umhülle bald nur noch ein Nichts. Dieses wachsende Vakuum fresse ihn von innen auf.
Als Verena, die in der Nacht zuvor im Bett neben ihm geschlafen hatte, sich besorgt nach seinem Zustand erkundigte, erklärte er ihr unmissverständlich, sie werde seine zunehmende Leere nicht aufhalten. Erschrocken sah sie ihn an und empfahl ihm wütend, endlich zum Psychiater zu gehen.
Er verschluckte sich, brüllte heiser, für wen sie ihn denn halte. Auf ihre nutzlosen Ratschläge könne er verzichten. Verrückt sei er allenfalls, weil er sich mit ihr eingelassen habe.
Verena, die inzwischen nur noch auf der Kante seines Bettes hockte, stand schweigend auf und verließ eine Viertelstunde später grußlos und mit gepackter Reisetasche seine Wohnung.
Für ihn sei es ohnehin besser, allein zu leben. Frauen wollen Männer nur ausnutzen. Er lasse sich nicht länger als Unterhaltungsknabe und Bettgenosse missbrauchen. Doch seine Selbstgespräche blieben ohne Echo.
Schon öfter hatte er daran gedacht. Doch allein die Idee fand er schon lächerlich. Dennoch stellte er sich jetzt vor, vom Balkon seiner Wohnung zu springen. Um Tatkraft zu beweisen, erhob er sich entschlossen, ging um das Bett herum, öffnete die Balkontür, trat an das Geländer. Fünf Stockwerke unter ihm lagen weiße kinderfaustgroße Steine, die Regenwasser, das aus Wasserspeiern von den Balkonen lief, hindern sollten, das Erdreich wegzuschwemmen. Er atmete tief ein, hielt die Luft an, zählte bis einundzwanzig, drehte sich abrupt um, ging ins Schlafzimmer zurück und ließ sich laut lachend auf sein Bett fallen.
Zum richtigen Leben gehören nun einmal ein paar ordentliche Identitätskrisen, behauptete einst Kollege Fritz Wiefelspütz nach dessen Scheidung. Bei der Goliath AG bearbeiteten sie Lebensversicherungen. Über 12 Jahren in einem gemeinsamen Büro.
Wiefelspütz zählte bereits fünf Jahre vor seinem Renteneintritt jeden Tag, den er bis zu seinem Ruhestand noch im Versicherungsbüro zu arbeiten hatte. Zwei Wochen, bevor er in Rente gehen konnte, starb er abends während einer Überstunde an seinem Schreibtisch. Schlaganfall. Und in der Todesanzeige der Goliath stand: Er verließ uns zu früh.
Valerian Wolther träumte in der Nacht von einem alten Mann mit grauem Vollbart.
Der Alte schwieg, griff ihm unter das Kinn, hob Valerians Kopf, zwang ihn, ihm in die Augen zu blicken.
Am nächsten Tag wachte Valerian mit steifem Nacken auf. Er blieb im Bett. Nachmittags klingelte es. Im Morgenmantel ging Valerian an die Wohnungstür. Die beiden Zeugen Jehovas sahen aus wie Vater und Sohn. Lächelnd blickte der Ältere Valerian in die Augen, räusperte sich geräuschvoll, um mit volltönendem Bass zu sagen, die besondere Würde zunehmenden Alters bestehe darin, die von Lebensjahr zu Lebensjahr schneller wachsende Ohnmacht gegenüber sich selbst mit der notwendigen Würde und mit Gott zu ertragen.
Valerian schloss die Augen.
Als er sie öffnete, hörte er, wie zwei Personen langsam die Treppen hinab stiegen.
Er wollte ihnen hinter her rennen, ein Krampf im rechten Bein hinderte ihn. Langsam humpelte er in die Wohnung zurück zum Telefon, rief Verena an, meldete sich mit seinem Vornamen und bat sie, nicht aufzulegen. Er brauchte lange. „Ich glaube, ich kann nicht…“, stotterte er und seine innere Stimme wiederholte den Satz.
Die besondere Würde des zunehmenden Alters – trug Wolther, inzwischen immerhin 68, mit getragener Stimme vor, bestehe darin, die von Lebensjahr zu Lebensjahr schneller wachsende Ohnmacht mit Würde zu ertragen. Die Leute in seinem Seniorenkreis im evangelischen Gemeindehaus nickten anerkennend. Doch seine innere Stimme schwieg. Hastig ergänzte er, mit besonderer Würde zeichnen Alte sich natürlich nur aus, wenn sie nicht allzu würdevoll daher schwafeln.
Wieder nickten die Alten im Gemeindehaus anerkennend. Doch sein inneres Echo blieb stumm und er fühlte sich plötzlich müde und innerlich leer.
Nun eignet sich gerade Valerian Wolther als geborenes Einzelkind ideal für das Leben in unserer allzu individualistischen Konkurrenzgesellschaft. Seine Mutter erzählte immer wieder, er habe sich wenige Monate nach seiner Geburt, als er noch nicht ohne fremde Hilfe gehen und stehen konnte, im Laufstall unter Aufwand all seiner kleinkindlichen Kraft an den Gitterstäben hochgezogen haben. Und immer wenn er den Halt verlor, begann er wütend zu kreischen und sich die Wangen aufzukratzen.
Zudem hatte sein Vater quer über den Hof hinter dem Teil des Reihenhauses, der seinen Eltern zu eigen war, einen dicken verzinkten Draht gespannt, über den Valerians Mutter ihre Wohn- und Schlafzimmerteppiche hängte, um aus ihnen mit einem Klopfer aus Bambus auch die allerletzten Staubteilchen herauszudreschen. Dabei schlug sie so heftig zu, dass Valerian bisweilen glaubte, sie stellte sich vor, anstatt des Teppichs seinen Vater vor sich hängen zu haben. Der war einer jener kleinwüchsigen Tyrannen, die mangelnde Körpergröße durch cholerisches Machtgehabe ausglichen.
Valerian diente der schmale Hof mit dem quer gespannten verzinkten Draht in späteren Kinderjahren als Spielfeld für Sportarten, die alle irgendwie dem Volleyball ähnelten und zu denen er ständig neue Regeln erfand, die ihn am Ende unweigerlich immer und immer wieder siegen ließen. Da er für seine Einzelsportart über keinen Schiedsrichter verfügte, war er gezwungen, dessen Rolle mit zu übernehmen und sich durch unbestechliche Entschlusskraft und absolute Aufmerksamkeit auszuzeichnen.
Vor allem aber galt es als Spieler und Gegenspieler, den Ball mit der flachen Hand oder mit der Faust so über den Draht zu schlagen, dass er ihn auf der anderen Seite noch, wenn auch nicht ganz problemlos, erreichen konnte. Das gelang ihm am besten, sobald er sich nahezu gleichzeitig auf Angriff und Verteidigung einstellte. Schlug er als Angreifer den Ball zu aggressiv und unberechenbar, hatte er als Verteidiger und Gegenangreifer auf der anderen Seite des Drahts keine Chance, sich erfolgreich zu wehren. Schlug er den Ball zu sanft, war er als Angriffsspieler auf der einen Seite unterlegen.
Damit er sich mit sich nicht langweilte, musste er jeweils auf der einen und der anderen Seite auch unberechenbare Bälle aufschlagen oder retournieren. Das schaffte Valerian nur, wenn der Zufall mitspielte und er aus Ungeschicklichkeit den Ball nicht besonders platziert in die vorausberechnete Richtung schlug. Manchmal versuchte er weitere Feldspieler zu beteiligen. Allerdings verkomplizierte das seine Spielweise. Und so gab er sich in der Regel mit einem Gegenspieler zufrieden.
Ein Unentschieden befriedigte ihn nie, da er als Sonntagskind im Sternzeichen Löwe der geborene Siegertyp war. Somit ließ er sich, ganz seinem Gerechtigkeitsempfinden folgend, abwechselnd mal auf der einen und dann wieder auf der anderen Seite gewinnen und riss jubelnd die Arme hoch.
Vor vier Jahren, als er nach seiner dritten fast zwanzig Jahre andauernden Ehe Witwer wurde, entschied er sich für die zeitgemäßeste aller individualistischen Lebensformen und blieb Single. Wöchentlich besuchte er – obwohl katholisch - die Single-Party 50 plus im Gemeindesaal der evangelischen Christuskirche.
Selten nahm er eine attraktive Seniorin mit nach Hause und ließ sich mit ihr für die eine oder andere Nacht auf das ein, was seine sich allmählich erschöpfende Potenz noch zuließ.
Besonders genoss er das morgendliche Zusammensein mit fülligeren Seniorinnen, die sich am Abend zuvor in seiner Küche zeigen ließen, wo sie alles Notwendige für das Frühstück fanden, um es ihm am späten Vormittag am Bett zu servieren. War das Frühstück gut, verbrachte er mit ihnen noch die eine oder andere Nacht.
Zumeist einmal im Monat, beehrten ihn zwei Zeugen Jehovas. Besonders wenn er ihnen verriet, Probleme mit der katholischen Amtskirche zu haben, weil sie unter anderem gegen Verhütung sei und er deswegen aus der Kirche austrat, wurden die zwei Männer besonders eifrige Prediger. Fast bei jedem Besuch kamen zwei andere, zumeist ein jüngerer und ein älterer. Und alle behaupteten sie nahezu wortgleich, das sprach für ihre Teilnahme an Predigerkursen, gerade Zweifler wären Suchende und deswegen besonders gläubige Menschen. Dabei lächelten ihre rosigen jungen und älteren Unschuldsgesichter milde und zugleich fanatisch. Redlich mühten sie sich, ihm einen Weg aus seiner inneren Leere zu zeigen, die sie selbstredend als Gottlosigkeit auslegten.
Vor fünf Wochen bekam er plötzlich hohes Fieber und heftigen Husten. Sein inneres Echo hatte schon lange nicht mehr geantwortet. Elend fühlte er sich. Blieb tagelang im Bett.
Verena, vollschlank, achtundfünfzig, die offenen blonden Haare viel zu lang für ihr Alter, war seine letzte Errungenschaft von der 50plus-Party. Für sonderlich intelligent hielt er sie nicht. Schwätzte viel Belangloses. Kam ihn aber täglich besuchen, kochte ihm Tee, brachte ihm Hustenbonbons und kochte leichte Kost, obwohl er keinen Hunger verspürte. Über Nacht blieb sie selten.
Schließlich erzählte Valerian Verena von seiner Leere, obwohl er sicher war, sie würde ihn nicht verstehen.
„Ich komme mir vor wie ein Niemand, ohne Mitte, ohne Boden unter den Füßen. Wohl fühle ich mich nur, wenn ich im Bett liege. Ich glaube, der Tod kommt von innen.“
Obwohl Verena immer wieder beteuerte, für sie sei er kein Niemand, behauptete er klagend, er umhülle bald nur noch ein Nichts. Dieses wachsende Vakuum fresse ihn von innen auf.
Als Verena, die in der Nacht zuvor im Bett neben ihm geschlafen hatte, sich besorgt nach seinem Zustand erkundigte, erklärte er ihr unmissverständlich, sie werde seine zunehmende Leere nicht aufhalten. Erschrocken sah sie ihn an und empfahl ihm wütend, endlich zum Psychiater zu gehen.
Er verschluckte sich, brüllte heiser, für wen sie ihn denn halte. Auf ihre nutzlosen Ratschläge könne er verzichten. Verrückt sei er allenfalls, weil er sich mit ihr eingelassen habe.
Verena, die inzwischen nur noch auf der Kante seines Bettes hockte, stand schweigend auf und verließ eine Viertelstunde später grußlos und mit gepackter Reisetasche seine Wohnung.
Für ihn sei es ohnehin besser, allein zu leben. Frauen wollen Männer nur ausnutzen. Er lasse sich nicht länger als Unterhaltungsknabe und Bettgenosse missbrauchen. Doch seine Selbstgespräche blieben ohne Echo.
Schon öfter hatte er daran gedacht. Doch allein die Idee fand er schon lächerlich. Dennoch stellte er sich jetzt vor, vom Balkon seiner Wohnung zu springen. Um Tatkraft zu beweisen, erhob er sich entschlossen, ging um das Bett herum, öffnete die Balkontür, trat an das Geländer. Fünf Stockwerke unter ihm lagen weiße kinderfaustgroße Steine, die Regenwasser, das aus Wasserspeiern von den Balkonen lief, hindern sollten, das Erdreich wegzuschwemmen. Er atmete tief ein, hielt die Luft an, zählte bis einundzwanzig, drehte sich abrupt um, ging ins Schlafzimmer zurück und ließ sich laut lachend auf sein Bett fallen.
Zum richtigen Leben gehören nun einmal ein paar ordentliche Identitätskrisen, behauptete einst Kollege Fritz Wiefelspütz nach dessen Scheidung. Bei der Goliath AG bearbeiteten sie Lebensversicherungen. Über 12 Jahren in einem gemeinsamen Büro.
Wiefelspütz zählte bereits fünf Jahre vor seinem Renteneintritt jeden Tag, den er bis zu seinem Ruhestand noch im Versicherungsbüro zu arbeiten hatte. Zwei Wochen, bevor er in Rente gehen konnte, starb er abends während einer Überstunde an seinem Schreibtisch. Schlaganfall. Und in der Todesanzeige der Goliath stand: Er verließ uns zu früh.
Valerian Wolther träumte in der Nacht von einem alten Mann mit grauem Vollbart.
Der Alte schwieg, griff ihm unter das Kinn, hob Valerians Kopf, zwang ihn, ihm in die Augen zu blicken.
Am nächsten Tag wachte Valerian mit steifem Nacken auf. Er blieb im Bett. Nachmittags klingelte es. Im Morgenmantel ging Valerian an die Wohnungstür. Die beiden Zeugen Jehovas sahen aus wie Vater und Sohn. Lächelnd blickte der Ältere Valerian in die Augen, räusperte sich geräuschvoll, um mit volltönendem Bass zu sagen, die besondere Würde zunehmenden Alters bestehe darin, die von Lebensjahr zu Lebensjahr schneller wachsende Ohnmacht gegenüber sich selbst mit der notwendigen Würde und mit Gott zu ertragen.
Valerian schloss die Augen.
Als er sie öffnete, hörte er, wie zwei Personen langsam die Treppen hinab stiegen.
Er wollte ihnen hinter her rennen, ein Krampf im rechten Bein hinderte ihn. Langsam humpelte er in die Wohnung zurück zum Telefon, rief Verena an, meldete sich mit seinem Vornamen und bat sie, nicht aufzulegen. Er brauchte lange. „Ich glaube, ich kann nicht…“, stotterte er und seine innere Stimme wiederholte den Satz.