alles fließt

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HerbertH

Mitglied
alles fließt

changierende schattenwürfe auf den steinen
von wasser gehöhlt in fluten geschliffen
kaum langlebiger als papierene schiffe

immer schneller jagt die zeitenwende
uhrzeiger um uhrzeiger und eindrücke verschwinden

die brandung spült die spuren
deiner füße erst tief ein - bis du gehst

exponentiell verschwinden die jahre in jahrzehnten
tage der kindheit sind mühelos länger
als wochen
als monate
im später

als jahre im wachsenden vergessen
des täglichen zugunsten der kristalle
des früh erworbenen wissens

dein blick von eben trifft anderes
ganz ohne richtungswechsel

denn auch die zeit fließt
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Herbert,

in der ersten Strophe bin ich etwas ratlos, weil es sich so anhört, als lebten die Steine nicht länger als die papierenen Schiffe. Du meinst aber doch sicher die Schatten, oder?

Die 5. Strophe finde ich einleuchtend, denn es ist ja wissenschaftlich erwiesen, dass der Mensch durch jeden Lernprozess ein anderer geworden ist, als er es vorher war.

Das wird in der 6. Strophe dann noch einmal erhärtet.

Für mein Empfinden ist die letzte Zeile überflüssig, denn genau das hast Du ja vorher schon sehr ausführlich beschrieben, dass auch die Zeit fließt, also nicht mehr dieselbe ist wie noch vor 5 Minuten.

Vielleicht kannst Du ja einen anderen Abschluss für diesen Text finden?

z.B. [blue]hinfließend mit der Zeit[/blue]

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

erstmal tausend Dank für Deinen Kommentar zu diesem eher philosophisch angehauchtem Gedicht.

Ich meine auch die Steine. Denn der Stein von eben ist nicht der jetzige im Sinne der alten Idee des πάντα ῥεῖ, „Alles fließt“.

Vielleicht wäre

"Denn alles zerfließt in der Zeit"

eine geeignete letzte Zeile.

Was meinst Du?

Liebe Grüße

Herbert
 

Vera-Lena

Mitglied
Ja, lieber Herbert,

"denn alles zerfließt in der Zeit", löst sich quasi auf, wäre in meinen Augen ein guter Abschluss für diesen Text.

Jetzt merke ich auch, warum ich Deine erste Strophe nicht gleich verstanden habe. Ich habe das "vom Wasser gehöhlt usw." viel zu schnell gelesen, ja beinahe überlesen. Das hast Du durchaus gut formuliert und es passt nahtlos in den ganzen Text.

Es macht Spaß, mal wieder etwas Tiefsinniges in der LL anzutreffen.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

Nachdenkliches in der Lyrik ist in der Tat selten.

Ich werde die letzte Zeile ändern. Danke, dass Du den Finger hier auf eine Schwachstelle gelegt hast. Die neue Version gefällt mir jetzt deutlich besser.

Liebe Grüße

Herbert
 

HerbertH

Mitglied
alles fließt

changierende schattenwürfe auf den steinen
von wasser gehöhlt in fluten geschliffen
kaum langlebiger als papierene schiffe

immer schneller jagt die zeitenwende
uhrzeiger um uhrzeiger und eindrücke verschwinden

die brandung spült die spuren
deiner füße erst tief ein - bis du gehst

exponentiell verschwinden die jahre in jahrzehnten
tage der kindheit sind mühelos länger
als wochen
als monate
im später

als jahre im wachsenden vergessen
des täglichen zugunsten der kristalle
des früh erworbenen wissens

dein blick von eben trifft anderes
ganz ohne richtungswechsel

denn alles zerfließt in der zeit
 
Lieber Herbert,
Dein "philosophisch angehauchtes" Gedicht gefällt mir sehr. Allerdings bin ich auch der Meinung, dass es die letzte Zeile als Erklärung nicht benötigt...
Wenn alles fließt, dann doch selbstverständlich die Zeit auch...
Exponentiell würde ich ersetzen. Für mich klingt es nicht lyrisch... sondern wissenschaftlich-philosophisch...
Gruß
Karl
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Karl,

das Dir das Gedicht sehr gefällt, freut mich natürlich :).

Die letzte Zeile habe ich gerade angepasst, das hat sich mit Deinem Kommentar gekreuzt...

Wie würdest Du denn das "exponentielle verschwinden" lyrischer ausdrücken? Für mich ist das die präziseste Beschreibung dessen, was ich ausdrücken wollte.

Liebe Grüße

Herbert
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Herbert,

exponentiell ist eine andere Formulierung für "immer schneller" (eigentlich: ständiges Wachstum) aber immer schneller hattest Du ja schon im Text. Mir fällt da auch keine andere Formulierung ein.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 
Lieber Herbert,
"grenzenlos verschwinden jahre in Jahrzehnten" würde auch nicht gut klingen. Wie wäre es denn schlicht mit "jahre verschwinden (oder zerfließen, versinken) in Jahrzehnte(n)"
Gruß
Karl
 

MarenS

Mitglied
Ich würde es genau so stehen lassen. Manchmal sind Ausdrücke die herauszufallen scheinen genau die, die dort stehen müssen.

Feine Gedankengänge, fein umgesetzt.

die Maren
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Vera-Lena, lieber Karl, liebe Maren,

eigentlich verstehe ich nicht, warum "exponentiell" nicht in die Lyrik passen soll. Es heisst doch vom Wortstamm her "etwas herausstellen" (exponere, vgl. Exponat). Ist das nicht die Aufgabe von Lyrik: Etwas darzustellen, zu betonen, sodass es den Leser aufrüttelt, aus den alltäglichen Gedanken heraus neue Ideen zu denken, neue Zusammenhänge?

Eigentlich ist "exponentiell" nur einfach ein ungewohntes Wort für viele. Und damit hat es genau die Funktion, dass man beim Lesen darüber stolpert, aus dem Gleichgewicht kommt und dann seine Gedanken nach neuem Halt ausstrecken muss.

Ich scheine heute abend leicht in Sermone zu verfallen (vgl. auch Dreizeiler im Lupanum).

Die Quintessenz ist, dass ich mich entschlossen habe, zum "exponentiellen verschwinden" zu stehen und es nicht zu ändern, vielleicht auch nur, weil es wirklich schwer ist, etwas treffenderes zu finden.

Danke auf jeden Fall für Eure Anregungen und Kommentare:
Mich haben sie weitergebracht!

Liebe Grüße

Herbert
 
D

Die Dohle

Gast
... mal so als idee, die sache zu köcheln



###

changierende schattenwürfe auf steinen
von wasser gehöhlt
in fluten geschliffen
kaum langlebiger als papierene schiffe

exponentiell
verschwinden im später
jahre in jahrzehnten
tage der kindheit

sind mühelos länger
als wochen
als monate
als jahre

im wachsenden vergessen
des täglichen
zugunsten der kristalle
des früh erworbenen wissens

dein blick von eben trifft anderes
ganz ohne richtungswechsel

###

... nimm es, oder lass es, es ist deines
die gedanken gefallen mir. etwas, das sicher ist ;-)

LG
Die Dohle
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Dohle,

eine sehr schöne Variante mit leichten Verschiebungen der Zielrichtung.

Der Keim zum Strandgedanken ist allerdings bei Dir nicht drin, der ist ein gewisser Dreh- und Angelpunkt bei mir, weshalb ich daraus ja auch noch ein eigenes Gedicht gemacht habe :)

Danke für die Anregungen und liebe Grüße

Herbert
 
D

Die Dohle

Gast
´nabend HerbertH,
naja, dachte, der strand steckt darin, ohne extra erwähnt zu werden...
derzeit eine marotte von mir: ich übe musik, also töne, die explizit nicht gespielt werden und dennoch präsent sind. schwierige sache.
nun, du hast den strand vermisst, dann ist der versuch misslungen.

... mach, wie du denkst, es ist deines


LG
Die Dohle
 
O

orlando

Gast
Lieber Herbert,
mir gefallen deine Verse. Wie ja auch allen anderen Lesern. :)
Ein paar winzige Streichungen kann ich mir allerdings noch vorstellen, weil ich die betreffenden Wörter überflüssig finde.
Ich nehme an, dass du deinen Versen ein (ganz) gleichmäßiges Metrum verleihen wolltest, weil du das aus dem Gereimten so kennst.
Ich selber habe das früher ebenfalls meist versucht.
Seitdem ich mich aber intensiv mit neuerer Philologie beschäftige, "muss" ich erkennen, das ein solches Vorgehen in freien Texten oft kontraproduktiv ist.
Viele große Lyriker gehen sehr viel spielerischer mit diesen Dingen um als es in den Foren en vogue ist, bzw. wechseln gekonnt zwischen Jamben und Daktylen hin und her oder setzen sie so ein, das sie dem Thema entsprechen (schnelleres oder ruhigeres Tempo).
Die Lautmusikalität muss natürlich gewahrt bleiben.
Ich hoffe sehr, dass du meine Anmerkungen nicht als üble Klugscheißerei eines Neulings verstehst; ich möchte dich lediglich an meinem Erkenntnisprozess teilhaben lassen.

Zu deinem Gedicht:

alles fließt

changierende schattenwürfe auf [strike]den[/strike] steinen
von wasser gehöhlt in fluten geschliffen
kaum langlebiger als papierene schiffe

immer schneller jagt die zeitenwende
uhrzeiger um uhrzeiger [strike]und[/strike] - eindrücke verschwinden

die brandung spült die spuren
deiner füße erst tief ein bis du gehst

exponentiell verschwinden die jahre in [strike]Jahrzehnten[/strike] [blue]dezimen[/blue] (?)
tage der kindheit sind mühelos länger
als wochen
als monate
im später

als jahre im wachsenden vergessen
des täglichen zugunsten der kristalle
[strike]des[/strike] früh erworbenen wissens

dein blick von eben trifft anderes
ganz ohne richtungswechsel

[strike]denn[/strike] alles zerfließt in der zeit
Durch die Dezimen (aus der Musik: zehnter Ton vom Grundton aus) könntest du ein Gegengewicht zu dem bereits vorhandenen Fremdwort setzen und vermeidest zudem eine Wiederholung.

Inhaltlich eine wunderbare Zeitbetrachtung, an der sich so viele große Literaten und Philosophen versucht haben. Ad hoc fällt mir dazu der Zauberberg von Thomas Mann ein, ein Buch, das, neben Goethes "Wahlverwandtschaften" wohl zu den besten deutschen Erzeugnissen auf diesem Gebiet zählt.
Hierin teilt Mann übrigens deine Einschätzung des Zeitverlaufes ganz und gar. :):)

Hui, hoffentlich war ich nun nicht zu geschwätzig ...

LG, orlando
 

HerbertH

Mitglied
alles fließt

changierende schattenwürfe auf steinen
von wasser gehöhlt in fluten geschliffen
kaum langlebiger als papierene schiffe

immer schneller jagt die zeitenwende
uhrzeiger um uhrzeiger -- eindrücke schwinden

brandung spült spuren
deiner füße erst tief ein - bis du gehst

exponentiell verklingen jahre in dezimen
tage der kindheit sind mühelos länger
als wochen
als monate
im später

als jahre

im wachsenden vergessen des täglichen
zugunsten der kristalle
früh erworbenen wissens

dein blick von eben trifft anderes
ganz ohne richtungswechsel

zeit zerfließt
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Orlando,

ich habe Deine Verbesserungsvorschläge in die neue Version einfliessen lassen.

Danke und liebe Grüße

Herbert
 

HerbertH

Mitglied
alles fließt

changierende schattenwürfe auf steinen
von wasser gehöhlt in fluten geschliffen
kaum langlebiger als papierene schiffe

immer schneller jagt die zeitenwende
uhrzeiger um uhrzeiger - eindrücke schwinden

brandung spült spuren
deiner füße erst tief ein - bis du gehst

exponentiell verklingen jahre in dezimen
tage der kindheit sind mühelos länger

als wochen
als monate
im später

als jahre

vergessen des täglichen
wächst
zugunsten der kristalle
früh erworbenen wissens

dein blick von eben trifft anderes
ganz ohne richtungswechsel

zeit zerfließt
 
O

orlando

Gast
Hallo Herbert,
freut mich, dass ich behilflich sein konnte. - So klingt der Text in sich runder.
Dir einen schönen Abend
Heidrun
 



 
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