Alles in Fluss

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John Wein

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GLEICHSCHRITT

Ein spanisches Sprichwort sagt: „Eine der schönsten Dinge der Welt ist es, den zu treffen, mit dem Du über alle Deine verrückten Gedanken sprechen kannst, ohne Dich dabei komisch zu fühlen“.

Mai 2019. Es war das Jahr, vor der Pandemie auf der Via de la Plata, dem 1.000 km langen Pilgerweg, der von Sevilla im Süden Spaniens, entlang der portugiesischen Grenze in den Norden nach Santiago de Compostela führt. Am Ziel meiner 12. Tagesetappe in Aldea del Cano, Extremadura, begegnete ich Winston Green, einem außergewöhnlichen Vogelexperten, Mittglied der Royal Society for the Protection of Birds. Er war gerade von seiner Beobachtungsrunde zurückgekehrt.

„Especially the Vultures“, antwortete er, auf meine Frage, weshalb er gerade hier Aldea sei. Winston sprach sehr prononciert und bildhaft, hatte jenen feinen Londoner Akzent, den man zwischen Westminster und Henley on Thames spricht. Seine eingefallenen Wangen, die hervortretenden Halsstränge und ein leichter Tremor in den Händen; zeigten einen aufgeweckten, älteren Herrn, gutmütig bauschiger Schnurrbart und ebenso gutmütige Augen, dazu das sonnengegerbte Gesicht, insgesamt war es die Synthese aus Albert Einstein und Luis Trenker. „Yes, I’m senior“, erklärte er mir spitzbübig, „I’m eightyone“. Winston widmet einen Großteil seiner Passion den Vögeln in der Extremadura, deshalb reist er immer noch jährlich aus England in das spanische Vogelparadies.

Wir saßen im Hof der Herberge, unmittelbar am Ortsende, zwei durstige, alte Männer auf klapprigen Metallstühlen, der Kühlschrank im Hause hatte uns ein paar Flaschen Estrella spendiert und Winston erklärte mir die außergewöhnliche Lebensweise der Lämmergeier. Schnell hatte sich zwischen uns eine herzliche Verbundenheit entwickelt. „Eine der schönsten Dinge der Welt ist es, den zu treffen, mit dem Du über alle deine verrückten Gedanken sprechen kannst, ohne Dich dabei komisch zu fühlen“. Ja, das war es wohl! Hier in der Einsamkeit der Extremadura empfanden wir jenen übermütigen Gleichklang. Was für ein schöner Abend nach meinem 22 km Marsch durch das sonnenverbrannte Grasland und welch gute Gelegenheit hier noch einmal den Tag gemeinsam vorüberziehen zu lassen, insgesamt ein schöner Tagesabschluss in gefühlvoller Balance.

„Winston, ich bin seit Jahre vorzugsweise allein unterwegs, aber das Alleinsein heißt ja nicht einsam zu sein!

Und er: „Ach ja !?“

„Daheim dagegen, da fühle ich mich manchmal wirklich allein. Allein ist vielleicht der falsche Begriff, aber einsam, ja das ist es! Es ist nicht die Alterseinsamkeit, nein Winston, es ist eine Einsamkeit des Nichtverstehens oder des Missverstanden Werdens. Meine Werte und Moralvorstellungen sind in den letzten Jahren oft völlig im Gegensatz zu heutigen Anschauungen und Meinungen über bestimmte Dinge in unserem Land.“

Winston unterbrach mich: „Ja und das Verrückte dabei ist, dass die meisten Menschen gar keine eigenen Wertvorstellungen entwickelt haben, sondern einfach nur Meinungen und Maßstäbe von anderen Menschen, „Meinungsführern“, übernehmen.“

Ich: „Ja, es ist eine gewisse Gleichgültigkeit, den meisten sind einfach die gesellschaftlichen Entwicklungen und Umstände entweder egal, sie ignorieren sie, sind überstrapaziert in ihrem Alltag oder haben einfach keine Lust sich mit Themen außerhalb ihres Spektrums grundlegend zu befassen. Vieles wird einfach nur hingenommen, registriert, Lüge mit Halbwahrheit und dem Ungefähren vermengt und wenn es oft wiedergekäut ist, wird es mit der Gewöhnung in der persönlichen Wahrnehmung zur eigenen Wahrheit. Grundsätzlich misstrauisch zu sein, zu hinterfragen, was mit geschwätzig schulmeisterlicher Aufsässigkeit täglich so prominent und laut aus Medien und Politik daherkommt, ist aus der Mode gekommen.“

„Ja, man ist gewissermaßen gelangweilt, aber John, ist dir schon aufgefallen, dass dieser Vorgang der weltweiten Trägheit und Langeweile möglicherweise die unbewusste Form von Gehirnwäsche ist, ein Zustand herbeigeführt durch eine totalitäre Verschwörung zwischen Politik und Kapital und dass das weitaus gefährlicher ist, als wir es uns bewusst machen? Jemand, der gelangweilt ist, der schläft, und jemand der schläft, der wird nicht nein sagen. Er wird als Jasager niemandem im Wege stehen und alles mit seiner Gleichgültigkeit legalisieren. Ich treffe diese Leute immer wieder und überall, Menschen die alles hinnehmen und nichts hinterfragen, verstehst du? Ich für mich habe aufgehört mit dem Fernsehen, die Zeitungen abbestellt und meide weitgehend das Internet. Ich habe das alles komplett aus meinem Leben gestrichen, weil ich nämlich der Meinung bin, dass wir schon jetzt in einer orwellschen Art in einem Albtraum leben und das alles, was wir wahrnehmen, dazu beiträgt, uns in Roboter zu verwandeln, die im Hamsterrad einer gleichförmigen Tätigkeit ihren Tagesablauf bewältigen.“

Ich sah, dass seine Gedankentätigkeit auch im Schweigen seinen Fortgang nahm.

“Wo kommst du her“, fragte er mich dann, als hätte ich es ihm nicht schon mehrfach erwähnt: „nein, ich meine in welcher Stadt lebst du? In Berlin?“

Ich: „Nein, Düsseldorf“.

„Düsseldorf, ah, auch so ein interessantes Problem!“

Und ich: „Du kennst doch Düsseldorf überhaupt nicht!“

Und er: „? Kennst du London? Aber du kennst wie ich doch sicher viele Menschen in deiner Stadt, die immer davon reden, abhauen zu wollen, sie würden es aber niemals tun“.

Ich sagte: „Oh ja!“

und er: „Warum hauen die wohl nicht ab!?“

Ich kam mit ein paar banalen Theorien.

Und er: „Nein, nein ich glaube nicht, dass es deswegen ist!“

Und nach einer gedanklichen Pause: „Ich glaube, dass auch Deutschland eine moderne Form von Gefängnis werden wird, vollkommen freiwillig von seinen Bewohnern erschaffen, die auch die Torwachen stellen. Sie werden stolz sein auf ihr Werk, das sie schufen. Sie bauten ihr eigenes Concentration Camp und so existieren sie in einer Art Schizophrenie, in der sie Wachen sind und zugleich Gefangene.“

Ja, und noch eins sei nicht mehr vorhanden, als ob man es ihnen wegoperiert hätte, die Fähigkeit, ihren Kerker zu verlassen oder es wenigstens zu erkennen als ein Gefängnis.

Dann fasste er in seine Tasche und kramte ein Foto hervor. Er hatte es vor Jahren bei der BBC nach einem Interview gemacht. Es zeigte die Statue von George Orwell im Broadcasting House, auf der Rückseite hatte er mit großen Buchstaben etwas vermerkt.

Ich nahm es, betrachtete das Bild und las auf der Rückseite: KRIEG IST FRIEDEN – FREIHEIT IST SKLAVEREI – UNWISSEN IST STÄRKE.

Das war Doppeldenk und der Spruch der auf der Betonfassade des Wahrheitsministeriums in Orwells 1984.

Winston: „John, hau ab‘, bevor es zu spät ist!“

Und ich: „Na ja, seit zwei oder drei Jahren haben Elinor und ich, das mehr als beunruhigende Gefühl, dass wir wirklich gehen sollten, aber mit 78? Winston, da pflanzt du keine Eiche mehr. Wir fühlen uns zwar im Land nicht mehr so wohl wie früher, doch wohin sollten wir? Es hat doch den Anschein, als ob die ganze Welt genau dasselbe vorhat.“

„John, ich halte es für absolut möglich, dass die Zeit der sechziger Jahre vielleicht die allerletzte Möglichkeit zum Ausbruch des Menschen vor seiner Entmenschlichung gewesen ist und dass dies den Anfang vom Ende der Zukunft bedeutete, denn von jetzt an werden überall bloß noch diese Roboter mit ihren Mobilgeräten herumspazieren, gedankenlos und gefühllos und es wird niemand mehr übrigbleiben, der noch weiß, dass es früher einmal so etwas gab, wie menschliche Wesen mit Gefühlen und Gedanken. Geschichte und Erinnerungsvermögen werden ausgemerzt sein und zwar so gründlich, dass sich bald niemand mehr erinnern wird, dass vorher ein anderes Leben existierte auf diesem Planeten“.

Der Himmel über Aldea del Cano präsentierte sich am Abend glatt wie ein Tisch, kein Lüftchen regte sich. Im Westen, über den Kämmen der Sierra de San Pedro schwamm die Sonne bereits in rötlichen Dunstschleiern und vereint mit der Stille und Weite der Dehesa vermittelte es die Stimmung eines Schöpfungstages.

„Weißt du, Winston“, es lag eine gewisse Versöhnlichkeit in meiner Stimme: „Unterwegs und hier in diesem Grasland, empfinde ich eine grenzenlose Demut für das Leben und die Gottesnatur, da ist viel Freiheit und Unbeschwertheit in der Luft. Wenn ich im Himmel über mir die Lämmergeier, diese Riesenvögel, die so mühelos auf ihrer kreisenden Suche dahingleiten sehe, dann fühle ich noch ein wenig die Ursprünglichkeit und die Unschuld der Welt. Hier ist alles leise, da ist nichts Unrühmliches, nichts was für den Augenblick dein Glück in irgendeiner Weise hindern könnte.“

Ich stand auf, ein momentaner Schwindel, rückte den Stuhl zurecht, nahm die leeren Flaschen und stellte sie zu den übrigen auf dem Fenstersims. Unsere Unterhaltung lag in den letzten Zügen.

„Winston, ich glaube es war Fernando Pessoa, der einmal gesagt hat, sich nichts zu unterwerfen, keinem Menschen, keiner Liebe, keiner Idee und auch jene distanzierte Unabhängigkeit zu wahren, die darin bestünde, weder an die Wahrheit zu glauben, falls es sie denn gäbe, noch an den Nutzen, sie zu kennen. Dies, so schien ihm, sei die rechte Befindlichkeit für das geistige, innere Leben von Menschen, die nicht gedankenlos leben könnten.“

„John, was für ein schönes Schlusswort!“ Er erhob sich und legte mir seine Hand auf die Schulter, „komm‘ mein Freund, lass uns gehen, ziehen wir uns aus der realen Welt zurück! Wir werden sie sowieso nicht mehr ändern. Good night my friend, sleep well!“

Am östlichen Himmel zog der Abend einen matten Stern nach dem andern hervor, während hinten im Westen, die Sonne war bereits untergegangen, über den sanft geschwungenen Kammlinien ein goldenes Vlies einen weiteren Sommertag in der Extremadura ankündigte.

„Gute Nacht Winston! Sehen wir uns morgen früh beim Frühstück!“ Diesmal war es keine Frage.

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petrasmiles

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Viel Stoff zum Nachdenken, lieber John.
Die Flucht, ja, ich spüre schon jetzt in den letzten Berufsjahren diesen Drang, diesen Schattenmenschen nicht mehr ausgeliefert zu sein, die Münzen in der Hand zu zählen und sich vorzunehmen, damit auszukommen. (Und wenn es nur Spaghetti mit Olivenöl und Kräutern gibt ...)
Mein Mann hat schon seit langem ein großes Grundstück in Südfrankreich mit u.a. unserem Mobilheim und wir verbringen unsere Urlaube dort - es ist ein anderes Leben, und die Sehnsucht dorthin wird von Jahr zu Jahr größer und die Trauer bei der Abreise ebenso.

Ich habe das nie so stark als eine Abwendung von Generationen von den herrschenden Zuständen empfunden wie nach Deinem Text.
Nicht alles, was Dein Winston sagt, leuchtet mir auf Anhieb ein, aber es rückt so ein bisschen Dinge gerade, die aus der Spur geraten zu sein scheinen, nur, dass es die 'Spur' nicht mehr gibt. Das muss man sacken lassen und begreifen lernen.
Also vom Inhalt her ganz besonders, und in eine schöne Erzählung verpackt.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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