Alles oder Nichts ?

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Endlich! Heute ist es so weit, ich darf meinen ersten Sieg heimfahren. Laut Sensei Iruka's Lehre, sollte ein Mann erst 100 Niederlagen ertragen, ehe er sich im Lichte des Sieges sonnen darf.

Die Atmosphäre in der Arena ist mau, kaum hat der Ansager mich vorgestellt. Das Publikum interessiert sich wohl nicht für mich. Jetzt stellt der Ansager meinen Gegner vor. Es wird geklatscht, gepfiffen, geschrien, aber es geschieht ohne große Aufregung. Die Arena ist, anders als sonst, nicht am Beben, das Publikum nicht elektrisiert, sie erwarten einen einseitigen Kampf. Das ist gut so.

Heute kämpfe ich gegen Vitaly Raskolnikow, der, als der zweitbeste Kämpfer, unserer Gewichtsklasse, gehandelt wird. Seine Bilanz, 30-0, wird nur von den 32-0 eines anderen Russen übertroffen. Vitaly hat nur ein Ziel und in mich sieht er ein Steinchen, dass er auf seinem Weg zum Ruhm, beiseiteschieben muss. „Ich werde ihm zu Boden werfen und wer gegen mich liegt, steht nicht mehr auf. Nur Sieger haben das Recht zu leben, Verlierer gehören auf die Müllkippe!“, waren seine Worte auf der Pressekonferenz.

Dieser Kampf, eine Konstellation, die unter normalen Bedingungen nicht stattfinden würde, findet heute nur statt, weil zwei Voraussetzungen erfüllt wurden. Erste ist, dass Vitaly Raskolnikow tatsächlich jeden anderen Herausforderer, schon zwei Mal besiegt hat. Bis auf mich ist niemand übrig. Zweitens, ich sollte im Falle einer Niederlage, meinen Rücktritt bekannt geben. 0-101 kann nicht mehr gerechtfertigt werden, meinte der Veranstalter.

Der Schiedsrichter ruft uns zu sich in die Mitte. Wie es vor jedem Kampf üblich ist, werden die Regeln kurz umrissen. Vitaly und ich starren uns mit stechenden Blicken gegenseitig in die Augen. Der Schiedsrichter spricht, aber ich höre ihm nicht zu. Stattdessen erinnere ich mich an Sensei Iruka's Worte: Ein Sieg ist das Äquivalent von 100 Niederlagen; 100 Niederlagen sind aber nicht mit einem Sieg gleichzusetzen. Paradox. Der Weg des Nichts, ist der Weg des Befreiten. Frei von jeglicher Ambition. Frei vom Trieb, der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Frei wie ein Falke, für den weder oben noch unten eine Bedeutung haben. Wer gelernt hat, der Niederlage ins Auge zu sehen, hat auch gelernt sich selbst zu sehen. Wer immer noch an dem Sieg, der Errungenschaft, dem Erfolg hängt, hängt nur an einer Illusion seiner selbst. Ich, als der große Künstler; ich, als der erfolgreiche Entrepreneur; ich, als der unbesiegte Kämpfer. Ich … Ich … Ich.

Der Schiedsrichter beendet seine Ansprache. Mein Opponent und ich starren uns weiterhin an. Keiner blinzelt. Keiner lächelt. Unsere Gesichtszüge, starr und ausdruckslos, fast so als wären diese in Marmor gemeißelt worden. Ich glaube in seinen Augen Entschlossenheit, Rücksichtlosigkeit, absolutes Selbstvertrauen zu erkennen. Vitaly ist ein wahrhaft beeindruckender Mensch. In all meinen Kämpfen zuvor, bin ich solchen Augen noch nicht begegnet. Ich lächle und wir reichen uns gegenseitig die Hände. Er erwidert mein Lächeln, kommt dann mit seinem Gesicht ganz dicht an das Meinige und sagt: „Deine Augen sehen leer aus.“ Dann gehen wir beide zurück in unsere Ecken.

Von jetzt an sind es noch zehn Sekunden bis zum Gong. Es fing mit der 40. Niederlage an, dass mein Denken sich von Grund auf veränderte. Bewusst wurde es mir jedoch erst viel später. Dies geschah so etwa nach der 80. Niederlage.
„Warum streben Menschen danach recht zu haben, Sensei? Worin besteht der Wert darin, recht zu haben, Sensei?“, fragte ich damals Sensei Iruka. Die Ohrfeige, die er mir verpasste, erzeugte ein Echo, dass durch die ganze Sporthalle flog. Danach lächelte er mir gutmütig zu. Zwei Gründe werde ich dir nennen, weshalb der Menschen recht haben will. Sie stehen in ihrer Beziehung diametral zueinander. Ersteres ist wie ein Ruf, eine Stimme, die von außen in den Körper eindringen will, während der zweite Grund, eine Stimme aus der Tiefe des Körpers ist, die nach außen gelangen, will.
Der erste Grund, weshalb Menschen recht haben wollen, hat mit der Sprache als Fundament jeder höheren Zivilisation zu tun. Der Wert des recht haben oder besser gesagt, mit einer Aussage Richtig zu liegen, liegt darin, dass man sich damit in eine Gesellschaft einkauft. Nur indem du dieselbe Realität mit denen um dich herum teilst, können gemeinsame Ziele gesetzt werden. Sich gemeinsame Ziele zu setzten, ermöglicht ein gemeinsames Leben. Werte wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit finden in einer einfachen Aussage wie „der Himmel ist blau“, „das Gras ist grün“, „das Feuer ist heiß“ erst ihren Ursprung. Wenn wir keine Übereinstimmung bei den Dingen, die uns erscheinen, finden, dann erst recht nicht, bei denen, die wir erhoffen zu konstruieren. So erschaffen wir mittels Sprache ein offenes System und dieses System bezeichnen wir als Realität. In diesem Fall spricht die Gesellschaft auf uns ein und weil wir davon profitieren, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein, wiederholen wir ihre Worte.
Dann haben wir noch den anderen Grund. Sieh, da wo Harmonie herrscht, ist der Konflikt ein Fremder. Harmonie ist Übereinstimmung. Und für den Fall, dass einer doch behauptet „der Schnee ist heiß“, „das Gras ist rot“ oder „der wolkenlose Himmel am Mittag ist violett“ wird dieser weggesperrt. Konflikte kommen dann zustande, wenn jeder seine ganz persönlichen Ansichten Geltung verleihen will, wenn Perspektiven und Meinungen aufeinandertreffen. Da wo es Raum für Interpretation gibt und es nicht um bloße physische Dinge geht. Was ist Freiheit; wie ist Freiheit zu erlangen; was gefährdet und was fördert die Freiheit? Willst du 101 Antwort darauf finden, dann befrage 100 Menschen dazu.


Sensei Iruka stoppte und es schien, als würde er sich über etwas Gedanken machen. Da war es wieder, sein unschuldiges Lächeln. Dann fragte er mich, ob ich die Ursache für diese Zweiteilung kenne. Ich schüttelte verneinend den Kopf, dann verpasste er mir wieder eine Ohrfeige und ließ mich stehen.

Der Gong ertönt und der Kampf beginnt. Vitaly und ich setzten beide sorgfältig einen Fuß vor dem anderen. Ohne Deckung laufen wir aufeinander zu. Mit jedem Schritt, dem wir uns näherkommen, wird es ruhiger in der Arena. Die Spannung steigt. Bis, wir stehen jetzt in der jeweiligen Reichweite des anderen, es ganz still wird. Der Druck ist enorm. Ich bewege meinen Kopf unauffällig von rechts nach links, seine Augen folgen mir aufmerksam und jedes Mal, wenn ich mein rechtes Bein leicht anhebe, hebt auch er sein linkes Bein an. Ein ausgezeichneter Gegner, umso mehr freue ich mich gegen ihn, meinen ersten Sieg feiern zu dürfen. Anhand seines Gesichts erkenne ich, dass er dieses sorgfältige Schachspiel genauso genießt wie ich, auch wenn das Publikum anderer Meinung ist. Sie fordern uns auf, besonders Vitaly, zu kämpfen. Doch die ganze Runde geschieht nichts, bis auf ein paar subtilen Finten, die wir uns gegenseitig zuwerfen. Der Gong ertönt und wir gehen beide in unsere Ecke.

Ich bin entspannt, meine Gedanken sind klar und mein Geist fokussiert. Ehe die zweite Runde beginnt, ermahnt uns der Schiedsrichter, indem er uns daran erinnert, dass Fäuste fliegen müssen, damit die Punkterichter etwas zu bewerten haben. Die „Buh“-Rufe aus dem Publikum unterstreichen seine Ansicht. Unbekümmert kratze ich mir am Kopf. Genauso macht Vitaly einen recht unbeeindruckten Eindruck auf mich. Der Gong ertönt und ich lasse einen Fliegen; die Explosivität meiner Bewegung überrascht mich selbst, als meine Beine den Boden verlassen, ich mich um 360 Grad, um meine eigene Achse drehe und mein rechts Bein strecke ich dann aus, als ich mich in der Luft befinde und mit dem Rücken zu meinem Gegner bin, welcher den Angriff nur um Haaresbreite ausweicht. Mein dicker Zeh hatte tatsächlich seine Nase gestreichelt. Niemand hatte es kommen sehen, nicht mein Gegner, nicht der Schiedsrichter und nicht das Publikum. Jetzt bebt die Arena. Die Angst in Vitalys Augen entfacht wie eine Flamme und ich sehe sie von links nach rechts flackern; ein Flackern, dass von meinem stürmischen Angriff verursacht wurde.

Jetzt greift mich Vitaly an. Fäuste, Tritte, er versucht mich zu umklammern und auf dem Boden zu werfen. Gegen Vitaly Raskolnikow sollte man bloß nicht auf dem Boden liegen. Sein Wrestling ist das beste der Welt und wer einmal gegen ihm auf dem Boden liegt, steht nicht mehr auf. Ein unumstößliches Gesetz, dass 30 Gegner vor mir, am eigenen Leib erfahren haben. Es folgt eine Kombination von Fäusten: links, rechts, rechts dann wieder links. Eine kurze Verzögerung, dann von unten. Ein Kinnhaken. Ich weiche aus. Seine Geschwindigkeit ist angsteinflößend, seine Kraft schon fast allmächtig. Dann, im Hitze des Gefechts, trifft er mich mit der flachen Hand auf der Wange. Ich strauchle und gehe zwei Schritte zurück und vor meinen Augen öffnet sich ein eisernes monströses Tor.

Ich höre Vögel zwitschern, Pferde galoppieren und das blaue Meer rauschen. Ich begreife. In diesem Augenblick, der wohl nicht länger als eine Sekunde dauert, wird mir die Schwere des Begriffs begreifen verständlich. Ich stehe mitten in der Wüste, umgeben vom goldbraunen Sand; die trockene Luft, die ich einatme, gibt mir ein Gefühl, als würde sie meine Lunge verbrennen; ich knie mich hin und greife nach einer Handvoll Sand.
Wenn ein Mensch sagt, dass er etwas verstanden hat, begriffen hat, ist diese Aussage dann nicht auf das Auffassungsvermögen seines Verstandes begrenzt, sowie ich nicht nach mehr Sand greifen kann, als mir meine Hand erlaubt? Aber wenn ich all den Sand, den ich in der Hand halte, jemanden zeige und sage: Das hier ist die ganze Wüste. Würde er mich nicht für verrückt erklären? Dabei tun wir genau das, Tag ein Tag aus. Wir klammern uns so sehr an dem, was wir begriffen haben, an unsere Meinung, unsere Perspektive, all dass, von dem wir so sehr überzeugt sind, dass das wir sind. Aber dieses Wir, dieses Ich, diese Identität ist ein Hindernis, dass uns erst davon abhält die Fülle der Wüste zu erkennen. Also wozu das Klammern? Wir klammern, weil wir das Überleben wollen. Damit meine ich, über das Leben hinaus, hinein in die Ewigkeit, leben wollen. Die Vergänglichkeit, die wir alle, entweder in der Form von Veränderung oder den Tod erfahren, gilt es zu überwinden. Warum? Weil wir dem Tod das Leben gegenüberstellen. So begriffe ich es jetzt, dass es nie darum ging, 100 Niederlagen zu ertragen, um gewinnen zu dürfen, sondern den Sieg in jeder Niederlage zu erkennen. Es geht darum loszulassen und mich von der Zweiteilung, der Dichotomie von Leben und Tod, Gut und Böse und Sieg und Niederlage, zu befreien. So öffne ich meine Hand und lasse den Sand fallen, nach dem ich gegriffen hatte, denn ich habe begriffen. Ich höre Vögel zwitschern, Pferde galoppieren und das blaue Meer rauschen; zum ersten Mal sehe ich die Wüste in ihrer Fülle und sie ist wunderschön.

Als ich wieder ganz bei mir bin, liege ich auf dem Boden und Vitaly Raskolnikow auf mir. Seine mächtigen Hände umschlingen meine Handgelenke. Ich bin im berühmten Griff der Kobra gefangen. Ich sollte Panik verspüren, ich sollte Aufgeben, denn wer einmal in seinem Griff gefangen war, kam da nicht mehr heraus. Aber es fühlt sich alles so leicht, simpel und verständlich an. Mit einer ruckartigen Bewegung löse ich mich und stoße Vitaly mit den Beinen weg. Ich stehe und das Publikum explodiert. Ich sollte in Ekstase geraten und den Schwung des Publikums, dass gerade eindeutig auf meiner Seite ist, mitnehmen. Ich sollte Vitaly angreifen, der davon überfordert zu sein scheint, denn er erlebt es zum erste Mal, dass einer eigenmächtig gegen ihm wieder aufgestanden ist. Aber dem ist nicht so. Ich laufe an Vitaly vorbei und klopfe ihm auf die Schulter. Ich lächle und verlasse das Oktagon, während ich die rechte Faust in der Luft halte. Ich bin zufrieden. Ein guter Künstler verlässt die Bühne dann, wenn es am schönsten ist. Wer weder an den Sieg noch die Niederlage glaubt, braucht seinen Gegner nicht zu bezwingen, um der Gewinner zu sein.
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Christopher Wallace,

die kursive Passage mit Sensei Iruka würde ich entfernen, sie ist überflüssig und lenkt vom Wrestling ab.

Wenn er erwähnt werden soll, würde ich nur den Satz






Der Schiedsrichter spricht, aber ich höre ihm nicht zu. Stattdessen erinnere ich mich an Sensei Iruka's Worte: Ein Sieg ist das Äquivalent von 100 Niederlagen; 100 Niederlagen sind aber nicht mit einem Sieg gleichzusetzen.

stehen lassen plus kurzer Erklärung, wer Sensei Iruka ist (Ausbilder? Mentor?).

Iruka's Worte ohne Apostroph.

Ansonsten Groß- und Kleinschreibung überprüfen, dort sind noch Fehler vorhanden.

Gruß DS
 



 
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