Alles unter Strom

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Heute, liebe Leser, wollen wir uns einmal mit der Elektrizität beschäftigen. Schon im zarten Alter von fünf Jahren kam ich in erste Berührung mit ihr. Es geschah an einem Sonntag. Mein Vater führte mich stolz auf seinem eigenen Grund und Boden spazieren. Ich sollte einmal der Hoferbe werden. (Er hatte keinen außer mir.) Vielleicht ließ ich es auf unserem Spaziergang an Enthusiasmus fehlen … Mein Vater forderte mich plötzlich auf, den Weidezaun neben mir zu berühren. Arglos, wie nur ein Kind von fünf Jahren sein kann, streckte ich die Hand aus – um sie gleich aufschreiend zurückzuziehen. Nun wusste ich, wie gemein Strom sich anfühlt. Mein Vater lachte und mein Vertrauen in seine Autorität wie in Technik überhaupt war nachhaltig gestört.

Ein Vierteljahrhundert später zog ich in eine gerade sanierte Hamburger Altbauwohnung. Man hatte mir versichert, auch die Elektrik sei vollständig erneuert. Ich verließ mich darauf. Nur seltsam, bald traten sehr häufig Kurzschlüsse auf. Dann lag die Wohnung im Dunkeln. Es geschah immer, wenn ich meine Nachttischlampe anknipste. Ich legte die Hauptsicherung um und alles funktionierte wieder bis zum nächsten Abend. Eines Tages flog nicht nur die Sicherung heraus, gleichzeitig schoss eine Flamme mit lautem Knall aus einer Steckdose an der Schlafzimmerwand. Ich zog schnell in ein anderes Zimmer um und ließ bald einen Elektriker kommen. Er fand Schmauchspuren unter dem Putz und nur noch Reste einer verkohlten alten Leitung.

Einmal erlebte ich im Büro, wie sich in der Teeküche die Zuleitung zum Wasserkocher selbst zerstörte: eine Kettenreaktion von sehr lauten Explosionen mit grellweißem Licht und ein Feuer, das sich vom Kocher in Richtung Steckdose weiterfraß. Kaltblütig zog ich den Stecker. Der Spuk hörte sofort auf. Jetzt endlich fühlte ich mich der Elektrizität gewachsen.

Inzwischen vertraue ich dieser Kraftquelle grenzenlos, ich vertraue dem Strom sogar meine Geheimnisse an. Ich benutze ihn als Datenträger. Meine Internetverbindung verläuft innerhalb der Wohnung über den Stromkreislauf. Ein Wunder der Technik! Weniger wunderbar ist, dass sich in der Nähe der Telekom-Steckdose keine weitere für Strom befindet. Der Techniker legte mir daher flugs drei Kabelschnüre vom Flur in die Küche, wo er den Adapter installierte. Die Kabel liegen frei und sehr verwundbar zwischen Tür und Rahmen. Das Internet ist heute unser Tor zur Welt und mein Tor zum Internet ist eben die Küchentür. Ich darf sie wegen der Kabel unter keinen Umständen mehr schließen. Und vor jedem Lüften muss die Tür vorher gegen Zufallen gesichert werden. So hat jeder Fortschritt seinen Preis, ich sehe es ja ein und …

O Gott ---


(Zur Beruhigung der Leserschaft: Es ist nichts passiert und der Verfasser längst schon wieder dreimal umgezogen.)
 

wirena

Mitglied
…ja, wenn mann/frau es nicht selbst erlebt, glaubt man es kaum – ich hatte gestern Abend Probleme mit meiner Mailadresse, senden/empfangen war nicht mehr möglich – heute war ich den ganzen Morgen am Telefon mit 2 Techniker – Resultat: musste Passwort ändern und alles funktioniert nun wieder –

Doch viel eindrücklicher folgendes Erlebnis: Meine Mutter im Spital, mit Morphium sediert und nicht mehr ansprechbar, lag im Sterben und ich hielt ihre Hand und sagte, dass sie ruhig gehen könne, da alles geklärt sei – Sterben sei wie eine Geburt – ich hatte mit der Spitalleitung durchgesetzt, dass ich eine von ihren gemalten Kerzen im Zimmer brennen lassen durfte – plötzlich richtete sie sich auf, begann zu leuchten und ich verspürte einen «Stromschlag» wie den von einem, von dir beschriebenen Weidenzaun – sorgsam liess ich ihre Hand los, wollte sie ja nicht zurückhalten…
 
Danke, wirena, fürs Mitteilen dieses besonderen Erlebnisses. Es wird mir, denke ich, noch lange im Gedächtnis bleiben. Persönlich habe ich ein vielleicht vergleichbares Leuchten, ausgehend von einem Menschen, einmal in einem ganz anderen Zusammenhang beobachtet und nie vergessen. Aber das würde jetzt zu weit führen ...
 

wirena

Mitglied
...Arno, mach doch aus diesem "Menschenleuchten-Erlebnis" eine Kurzgeschichte - dies wäre sicher von allgemeinen Interesse - nur so als Vorschlag -, ich könnte es aber auch gut verstehen, nachvollziehen, wenn diese Erfahrung zu persönlich ist, und und du sie schützenswerterweise für dich behalten möchtest -

LG wirena
 
Danke für den Tipp, wirena. Allerdings habe ich diese leuchtende Story schon gestaltet als ein kleines Detail im Zusammenhang einer Erzählung. Mehr gibt der beobachtete Effekt nicht her.

LG Arno
 

Matula

Mitglied
Mir wird angst und bang, wenn ich von selbstzerstörerischen Wasserkochern und gewagten Telekom-Lösungen lese, die ich aus eigener Erfahrung kenne. BTW, auch Waschmaschinen können im Inneren schmorren und einen Brand auslösen.
Gestern Stromausfall in Teilen des Bezirks für fast eine Stunde. Das Tor zur Welt zugefallen, die Zeit steht, nur ein kleiner Wecker tickt noch. Merkwürdige Erfahrung, Deine kleine Geschichte ist inspirierend.

Schöne Grüße,
Matula
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

wo man alles zu aufstehen muss - und sich Kompetenz erarbeiten kann. Das hat sich doch sicher toll angefühlt - dieses sich selbst als geistesgegenwärtig zu erleben! Ich fand nur den EInstieg ein bisschen 'onkelhaft', vielleicht, weil ich mit einer direkten Anprache des Lesers nichts anfangen kann; auf der anderen Seite ist der Text ja so gehalten, dass er ein 'Schmankerl' aus den Untiefen der Erlebnisse eines Autors wiedergibt, passt also schon.
Schon blöd, was Eltern alles anrichten können. Das wäre heute undenkbar.

Liebe Grüße
Petra
 
Mir wird angst und bang
Ach, Matula, und ich wollte doch nur scherzen ...

Vergessen wir auch nicht die gern spontan in Brand geratenden Akkus. Mir noch im Gedächtnis ein Fall aus der kleinen Stadt in Niedersachsen, in der ich lange zu Hause war: Betagter Hotelgast nimmt E-Bike mit aufs Zimmer. Akku gerät nachts in Brand und am anderen Morgen ist das Hotel eine rauchende Ruine. Schon nach wenigen Jahren ist es rekonstruiert und kann wieder Gäste aufnehmen.

Danke für deine Beiträge zum Thema und die günstige Bewertung.

Schöne Abendgrüße
Arno
 
Zuletzt bearbeitet:
Das hat sich doch sicher toll angefühlt - dieses sich selbst als geistesgegenwärtig zu erleben!
Aber gewiss, Petra, ich zehre immer noch davon. Es gibt so wenige Erfolgserlebnisse dieser Art für mich.

Ich fand nur den EInstieg ein bisschen 'onkelhaft'
Ja, das kann man so sagen. Die Erklärung: Text wurde ursprünglich für ein leicht "tantenhaftes" Publikationsorgan geschrieben. Ich hatte jetzt schon Bedenken, die Stelle so zu lassen, aber dann hat so etwas wie Pietät sich gemeldet.

Schöne Abendgrüße
Arno
 



 
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