Alles wird gut

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AS Spin

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Alles wird gut





"Siebzehn Uhr Treffen mit deinem Schwiegervater."

Rochus´Gesicht war natürlich wie immer unbeweglich, aber ich hätte schwören können, dass sich seine Mundwinkeln zu einem leichten Anflug eines Grinsens verzogen hatten. Androiden haben keine Gefühle, aber bei Rochus bin ich mir da manchmal nicht so sicher. Ab und zu habe ich auch den Eindruck, dass er sein Tagewerk mal mit mehr und mal mit weniger Schwung verrichtet. Aber das ist natürlich völlig unmöglich, Androiden haben keine Gefühle und Launen erst recht nicht. Launen und Gefühle setzen ein Bewusstsein voraus, und davon kann bei ihm keine Rede sein, wie mir sein Verkäufer versichert hat. Für ihn sind alle seine Handlungen nur Ergebnisse von Berechnungen, für ihn macht es keinen Unterschied, ob er eine Zwiebel schält, einen Fisch enthauptet oder das Klo putzt. Es geht auch ohne Bewusstsein, hat der Verkäufer gesagt und darauf hingewiesen, dass kein Forscher erklären kann, warum der Mensch eines hat, bzw. worin der Vorteil eines solchen besteht.

Er ist also ein Automat, eine bessere Waschmaschine - und dennoch... Naja, wahrscheinlich bilde ich mir das alles nur ein, so wie ein Hundebesitzer, der alles möglich in seinen Hund hineininterpretiert. Wir neigen dazu alles zu vermenschlichen, genauso wie wir in irgendwelchen Wolken oder Kaffeeflecken Gesichter erkennen. Und Rochus sieht nun einmal aus wie ein Mensch, einzig seiner Haut, die Oberfläche eine Flüssigmetalllegierung, hatte man einen grünlichen Farbton verpasst. Mal soll ihn dann doch eindeutig als Androiden erkennen.

"Siebzehn Uhr Treffen mit deinem Schwiegervater", wiederholte Rochus mechanisch. Er würde es noch viermal wiederholen um dann unaufgefordert meine Lebensfunktionen und dann mein Gehör zu untersuchen.

"Ja, ja, ist ja gut", brummte ich mürrisch.

"Was ist schon gut?" fragte Ada. Sie kam gerade aus der Nasszelle, ihr viel zu kleines Handtuch, dass sie oberhalb ihrer Brüste festgesteckt hatte, ließ den unteren Teil ihres Körpers frei. Ihre nassen Haare tropften auf meine Unterlagen, als sie meinen Stuhl zu sich drehte und sich auf meinen Schoss setzte. Geistesgegenwärtig überklebte ich die Kamera meines Rechners mit einem Kaugummi. Ohne sich groß mit einem Kuss aufzuhalten nestelte sie an meiner Hose.

"Rochus, du kannst das Bad putzen", murmelte ich, während sie sich in Position brachte und ihr Handtuch hinunterglitt. Eine Spur zu langsam für meinen Geschmack machte sich Rochus auf den Weg. Sein Blick war starr auf sein neues Aufgabenfeld gerichtet, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er uns aus den Augenwinkeln beobachtete. Erst als er die Tür zum Bad hinter sich schloss, konnte ich entspannen und mich gebührend Ada widmen.



Was erst nach einem Quickie aussah, zog sich dann doch etwas hin, sodass wir aufs Bett umzogen. Unsere Wohnung bestand eigentlich nur aus einem großen Wohn- und Schlafraum, einer kleinen Küche und einer Nasszelle. Wie mittlerweile der größte Teil der Stadtbevölkerung haben auch wir uns für eines dieser mobilen Wohneinheiten entschieden, die sich mühelos stapeln und - bei erfolgreicher Fortpflanzung- erweitern ließ. Ein Umzug ist kein Problem mehr, zurzeit wohnen wir nah am Ufer mit Blick auf den Fluss. In der Stadt gibt es nur noch wenige massive Steinbauten, hauptsächlich öffentliche Gebäude und Firmen. Die mobilen Einheiten sind billig und umweltfreundlich, zu 80 Prozent aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt. Einziges Problem ist der fehlende Platz. Und nun waren wir ja quasi zu dritt.

"Brauchen wir diesen Rochus eigentlich wirklich", fragte ich, als ich mich erschöpft in ihre Armbeuge gekuschelt hatte.

"Wieso? Das ist doch unser Goldstück, das beste Pferd im Stall, der schmeißt doch den Laden hier. Seitdem er da ist, kann man hier vom Boden essen."

"Ja, schon, aber irgendwie finde ich ihn manchmal komisch."

"Alles Gewöhnungssache", murmelte Ada, "Mein Opa hatte auch damals Schwierigkeiten, sich an die Spülmaschine zu gewöhnen, meine Oma hatte sie irgendwann angeschafft. Er fand sie auch irgendwie komisch. Oder denk noch mal hundert Jahre zurück, die Adligen und Gutbetuchten mit ihren Hausangestellten. Das waren richtige Menschen, aber man hat sie so behandelt, als gehörten sie zum Inventar, man hat sie gar nicht mehr wahrgenommen, obwohl sie beim Essen direkt hinter einem standen und den Wein nachgegossen haben und natürlich alles mitgehört haben. In zwei, drei Wochen wird es dir mit Rochus auch so gehen. Du wirst ihn dann genauso stark beachten wie den Toaster."

"Ich weiß nicht... wir sind keine Adligen..."

"Aber wir haben das Glück in diesen großartigen Zeiten zu leben."

Sie schob mich zur Seite und richtete sich auf.

"So, genug gefaselt, wir müssen uns fertig machen. Rochus! Bring mir das Donnerstagsnachmittagsoutfit!"

Die Badtür sprang auf und Rochus machte sich sofort am Kleiderschrank zu schaffen.

"Du hast deine Klamotten nach Wochentagen eingeteilt?" fragte ich verwundert.

"Ich nicht, Rochus natürlich. Er kennt mich besser als ich mich selbst. Er weiß am besten, was wann zu mir passt."



Dass ich keine Lust hatte, ihren Vater zu besuchen, habe ich ihr gegenüber nicht erwähnt. Dass war uns beiden sowieso klar. Es war aber auch klar, dass es darüber keine Diskussion geben würde, es war sein 94. Geburtstag. Also spart man sich ein sinnloses Wortgefecht und kann sich in der Zeit anderen Dingen widmen. Zum Beispiel das Geschenk kritisch beäugen. Ada hatte ihm einen Druck eines von ihm angeblich geschätzten Künstlers besorgt. Man sah darauf eine Scheune auf einem Weizenfeld im Sonnenuntergang. Ich fand es sehr kitschig.

"Das ist doch viel zu kitschig für deinen Vater", gab ich zu bedenken.

"Ja. Und er wird es am Anfang auch kitschig finden", sagte Ada, "aber er wird es aus Höflichkeit aufhängen und Rochus hat mich davon überzeugt, dass er es ihm im Laufe der Zeit ans Herz wachsen wird. Nach einigen Wochen wird er es nicht mehr missen wollen."

"Kennt er denn überhaupt diesen ... " ich versuchte die Signatur zu entziffern, "Abbeti?"

"Abbati", korrigierte mich Ada, "lustigerweise nicht. Aber nach Rochus Analyse würde er ihn mögen, wenn er ihn kennen würde.

Ich nickte und sah es ein. Die Zeit der unpassenden und schlechten Geschenke war vorbei. Rochus hatte sämtliche fassbaren Lebensäußerungen ihres Vaters analysiert. Der Algorithmus war unfehlbar.



Wir mieteten zwei Roller. Der Radweg am Ufer entlang ist eigentlich ganz schön und das Altenheim nicht allzu weit entfernt. Der Blick auf den Fluss ist zwar von einigen schwimmenden Pontons, auf denen man Wohneinheiten für holländische Flüchtlinge eingerichtet hatte, etwas verdeckt, aber das stört uns nicht. Rochus, der mit dem Profilen sämtlicher Stadtbewohner verknüpft ist, hatte uns zwar abgeraten, da er ein erhöhtes Verkehrsaufkommen befürchtete, und uns eine kombinierte Straßenbahn-Mietwagen-Route vorgeschlagen, aber wir hatten uns darüber hinweggesetzt. Das Fahren in Schlangenlinien durch das ständige Ausweichen finden wir manchmal ganz lustig. Dieses offensichtlich unvernünftige Handeln war eine Kategorie, die Rochus noch nicht ganz in seinen Berechnungen einbeziehen konnte.



Die Altenheime heutzutage haben nichts mehr mit den düsteren, keimigen Klötzen vergangener Zeiten zu tun. Im Grunde handelt es sich um normale Wohneinheiten, die man übereinandergestapelt und miteinander verbunden hat, um die nötige Pflegeleistungen zu ermöglichen. Vorbei die Zeiten, als alte Menschen entwurzelt und in lieblos eingerichtete kleine Kammern gepfercht wurden, die hauptsächlich aus einem Bett bestanden und in denen man dann dem Tod entgegen dämmerte.



Adas Vater ist körperlich eigentlich noch ganz fit, die Pflegekräfte schauen morgens und abends nur kurz vorbei, um nach dem Rechten zu sehen und die Einnahme der Medikamente zu überwachen. Geistig ist er allerdings etwas ausgebrannt. Er ist chronisch müde und mürrisch. Ein mürrischer alter Sack, dessen Körper sich konsequent weigert zu sterben. Ein Stinkstiefel, meiner Meinung nach.

Ada sieht das anders. Für sie ist ihr Vater ein liebenswerter alter Kauz. Komisch eigentlich, war er doch ein sehr später Vater, bei ihrer Geburt in seinen späten Fünfzigern und damals schon oft überfordert.

Ich war auch jeden Fall nicht froh ihn zu sehen. Aber na ja, ich hatte mich entschieden, ich hatte sie geheiratet. Und wenn man jemanden heiratet, heiratet man ja auch seine Familie, gewissermaßen.



Die Wohneinheit ihres Vaters ist bis obenhin vollgestopft. Man kann sich kaum bewegen. Es hat nicht nur Vorteile, dass man die alten Leute in ihren gewohnten Umgebungen belässt. Als Ada und ich damals umzogen, haben wir uns von drei Vierteln unseres Besitzes getrennt, das hatte etwas Befreiendes. Adas Vater ist es gelungen, die komplette Einrichtung seiner alten geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung in eine Singlewohneinheit zu quetschen. Vielleicht wollen alte Leute sich nicht mehr befreien, wollen keinen Platz schaffen für eine Zukunft, die sie nicht mehr haben. Sie klammern sich ans Leben und an die Dinge aus ihrem Leben.

Natürlich würde Adas Vater vehement abstreiten, dass er sich ans Leben klammert, in jedem zweiten Satz erwähnt er die gnadenvolle Aussicht auf sein baldiges Ableben, aber ich nahm ihm das nicht ab. Fast jeder, der so kurz vor dem ewigen Nichts steht, knickt irgendwann ein, fast jedem geht irgendwann die Düse.



Nach einer muffeligen Begrüßung versank ich in einen der schweren Ledersessel. Ich hätte nie gedacht, dass eine komplette klassische schwere Eichenwohnzimmereinrichtung samt Schrankwand in einer Einheit Platz finden würde. Genaugenommen ist sein Raum ein einziges Lederpolster, durchsetzt von unzähligen Lampen und Regalen, die teilweise sogar über die Fenster ragten.

Wie vermutet, nahm er das Geschenk frostig zur Kenntnis. Er konnte nicht verhindern, dass Ada seinen angeekelten Gesichtsausdruck bemerkte. Immerhin konnte er ein gemurmeltes "Danke" aus seinen Lippen pressen.

"Ich weiß gar nicht, wo ich es aufhängen soll...", sagte er und ließ es dann sofort in einem Zeitschriftenständer neben dem Sofa verschwinden.

"Du solltest wirklich mal ausmisten, Papa", sagte Ada, "diese Regale zum Beispiel versperren dir doch die ganze Sicht."

"Ist doch ganz gut so", brummte er, "je weniger ich von der Welt mitkriege, umso besser."

Ich schloss kurz die Augen. Diese Symphonie aus dunklen Holz, zerflatterten Folianten und staubbedeckten Lampenschirmen schlug wie üblich auf meine Stimmung. Schwere düstere Möbel aus einer schweren düsteren Zeit. Die Zeit der Fossilverbrenner, die, nachdem sie in klobigen Fabriken Geräte zusammengeschraubt hatten, die keiner braucht, mit ihren PS-Ungetümen vorbei an gruseligen Schlachthöfen in ihre klotzigen, vollgestellten Wohnblöcke krochen, um dort für einige Stunden mithilfe von Alkohol, Wurst, Chips und sinnfreien stumpfen Fernsehprogrammen ihren tristen Alltag zu vergessen. Die sich nicht genierten, zweieinhalb Tonnen Masse durch die Gegend zu wuchten, nur um ihre 70 bis 80 Kilo Lebendgewicht möglichst bequem von A nach B zu bringen. Die leider kaum Zeit hatten, sich über das Schicksal des Planeten Gedanken zu machen, weil sie mit der Planung des nächsten Kindergeburtstages beschäftigt waren, sich fragten, ob sie einen echten Elefanten bestellen oder ihren Sprössling mal wieder ein Cake-Smash-Shooting gönnen sollten.

Das ist alles noch gar nicht so lange her, aber mir kam es vor wie das dunkelste Mittelalter.

"Ich weiß gar nicht, was du hast", sagte Ada, "die Luft ist so klar wie noch nie, die Stadt war noch nie so grün und der Lärm ist völlig verschwunden. Du musst auch mal zugeben, dass sich vieles zum Positiven verändert hat."

"Das ist alles nicht echt." Adas Vater verschränkte seine Arme und starrte mürrisch an die Decke.

"Wie? Nicht echt?"

"Lass nur, Ada", mischte ich mich ein. Ich weiß nicht, was mich geritten hatte. Normalerweise rede ich bei diesen Besuchen nur das absolut Nötigste, "Aus irgendeinem Grund idealisieren ältere Menschen immer die Zeit ihrer Jugend, egal wie schlimm die Verhältnisse in Wirklichkeit waren. Das ist dann die gute alte Zeit, das war ihre Zeit und sie haben das Gefühl, sie müssten sie verteidigen."

"Rede nicht über mich, als wäre ich gar nicht im Raum", brummte der Alte, "noch bin ich da, wenn auch hoffentlich nicht mehr lange. Was weißt du schon überhaupt, du Pimpf."

Ich war etwas konsterniert. Adas Vater war bisher nie sehr freundlich zu mir gewesen, aber beleidigt hatte er mich noch nie. Auch Ada wirkte etwas geschockt.

"Vater, das geht so nicht, entschuldige dich bitte bei Helener", sprang sie mir zu Seite.

"Pff", machte er, "Ihr habt doch alle keine Ahnung. Was ist das überhaupt für ein Name, Helener, wenn ich sowas schon höre."

"Das ist die männliche Form von Helena", sagte Ada.

"Meine Eltern sind Feministen", sagte ich ruhig.

"Ach ja? Dein Vater auch? Ein Mann kann nicht Feminist sein. Das geht nicht. Aber das ist auch typisch für euch, ihr biegt euch die Welt so zurecht, wie ihr sie haben wollt, auch wenn sie dann nicht mehr viel mit der Realität zu tun hat. Macht nur weiter so. Und im Übrigen, wenn deine Eltern, diese Feministen, wenigstens auch nur ein bisschen klassische Bildung genossen hätten, hätten sie dich Helenos genannt, das war ein Sohn des Priamos, das ist wenigstens noch ein richtiger Name und nicht so ein obskures Phantasieprodukt."

Die Sache geriet aus dem Ruder. Langsam reichte es mir. Ich wollte gerade schnaubend etwas erwidern, als Ada mir zuvor kam.

"Klassische Bildung wird überschätzt", sagte sie, "was ist denn die Ilias anderes als eine endlose öde Beschreibung von grausamen sinnlosen Kämpfen. Da ist nichts Vorbildhaftes, nichts was uns weiterbringt. Gewalt ist keine Lösung, das haben wir inzwischen begriffen."

"Genau. Radiert die Geschichte aus, wer braucht die noch? Macht nur weiter so mit eurer Weichspülscheiße, eurer Gehirnwäsche, aber ohne mich."

Ada legte eine Hand auf sein Knie.

"Mensch, Vater, was ist denn los? Warum bist du so?"

"Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich sage, was ich denke, das lass ich mir von keinem verbieten."

Er goss sich noch etwas von seinem Calvados ein. Ich hatte an meinem nur kurz genippt, Ada hatte ihren gar nicht angerührt. Der alkoholfreie Gin, den sie ihm bei unseren letzten Besuch mitgebracht hatte, verstaubte unberührt im Regal.

"Ich bin eh bald tot", grummelte er, "dann müsst ihr meine Meinung nicht mehr ertragen. Ihr seid euch ja alle so verdammt einig heutzutage. In meiner Jugend hat man sich wenigstens noch gestritten. Da war nicht alles perfekt, aber es war wenigstens noch menschlich.

"In deiner Jugend haben noch Menschen regiert", sagte Ada ruhig, "und Menschen machen Fehler, das wissen wir ja alle."

"Und jetzt lässt ihr euch von einer Maschine regieren, und findet das ganz normal."

"Ja, weil sie vernünftig ist", sagte Ada, "wenn Menschen regieren passieren Fehler, schwerwiegende Fehler, unabsichtlich, oder noch schlimmer, bewusst, um sich zu bereichern. Menschen sind habgierig, flatterhaft, unentschlossen, lassen sich von Gefühlen leiten und verlieren schnell den Überblick. Das konnten wir uns irgendwann nicht mehr leisten, dafür stand die Welt zu nah am Abgrund."

Ich musste zugeben, dass ich die Einwände von Adas Vater ein Stück weit nachvollziehen konnte. Auch ich fühlte mich etwas unwohl, als der Zentralrechner vor fast 20 Jahren die Macht übernahm, bzw. in den Dienst gestellt wurde, wie seine Befürworter es damals formulierten. Aber auch wenn meinen Bedenken noch nicht ganz vollständig verschwunden waren, muss ich zugeben, dass er seine Sache bis jetzt gut gemacht hat. Unermüdlich, unbestechlich, absolut stringent und unbeeinflusst von Lobbyisten, die nach der Meinung vieler in den Jahren davor die eigentlich Macht im Staat ausgeübt hatten, hatte er seitdem das Land umgekrempelt. Er war die Probleme angegangen, er hatte sie nicht zerredet, er hatte den demokratischen Stillstand aufgebrochen, hatte das bleierne gegenseitige Neutralisieren zerschlagen.

"Ach ja? Und wo steht die Welt jetzt?" brummte der alte Mann, "jetzt gibt es doch überhaupt keine Privatsphäre mehr. Als ich so alt war wie ihr, war man auch hinter unseren Daten her. Aber da wusste man wenigstens worum es ging. Das waren Firmen, die Geld machen wollten. Da wusste man woran man ist. Aber keiner von euch weiß doch, was dieser Rechner im Kanzleramt wirklich vorhat!"

"Er hat nichts vor", sagte Ada, "Menschen haben irgendetwas vor, aber nicht Maschinen. Er tut nur das, wofür man ihn programmiert hat, er verfolgt keine eigenen Pläne. Vater, du musst endlich mal begreifen, was das eigentliche Problem ist. Das eigentliche Problem sind nicht zu viele Informationen, sondern zu wenige. Die Kohlendioxid-Emissionen sind fast auf Null gesunken, die Vermögensverteilung nähert sich einem Idealzustand, die Massentierhaltung ist abgeschafft, die Flüchtlinge werden optimal und problemlos integriert, obwohl der Zustrom aus den Küstenländern und dem Süden unvermindert anhält, die Umweltbelastung ist auf ein absolut notwendiges Minimum reduziert, der Bestand an Insekten hat sich erholt, man sieht ab und zu sogar wieder Bienen. Nur wer viel oder im Zweifel alles weiß, kann die einzelnen Faktoren optimal gegeneinander abwägen. Ein Mensch wäre dazu gar nicht in der Lage."

"Ja, aber ein Mensch wäre immerhin menschlich." Adas Vater sagte dies mit leiser, fast gebrochener Stimme. Er strahlte plötzlich eine tiefe Traurigkeit aus und es schien so, als hätten sich seine Falten noch tiefer in sein Gesicht gegraben. Er streckte sich auf seinem Sofa aus und stöhnte leise.

"Bist du müde, Vater?" fragte Ada besorgt, "sollen wir lieber gehen?"

Er nickte. Die Audienz war beendet. Ich erhob mich freudig, aber angemessen langsam.

"Alles wird gut, Vater", sagte sie noch und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Beim Hinausgehen warf ich noch einen letzten Blick zurück. Wie er dort lag auf seinem schweren Ledersofa, mit halb geschlossenen Augen und leise stöhnend, war er die personifizierte Resignation. Ein bemerkenswerter Kontrast zu seiner vitalen, lebenssprühenden Tochter, die ich auch wegen ihres unerschütterlichen Optimismus´ so sehr liebte.

Zum ersten Mal tat er mir leid.



Die Rückfahrt war wesentlich schwungloser als die Hinfahrt. Wir hatten keine Lust mehr, den Leuten auszuweichen. Irgendwann stellten wir unsere Roller ab und gingen zu Fuß. Ada war schweigsam. Nachdenklich schlenderten wir nah am Ufer entlang. Die Holländer saßen auf den Rändern ihrer Pontons. Einige unterhielten sich, andere starrten auf das Wasser, andere grillten.

"Ich frage mich, was sie hier auf den Grill werfen", unterbrach ich unser Schweigen,

"Stigger, was sonst?", sagte Ada, "die bekommen doch bestimmt eine tägliche Ration."

Stigger ist ein Fleischersatz, der vor einigen Jahren eingeführt wurde. Nachdem man die Massentierhaltung abgeschafft hatte, begann man in großen Stil Steaks aus einzelnen Zellen zu züchten. Im Grunde genommen handelt es sich also doch um echtes Fleisch, allerdings war es niemals Teil eines lebendigen Tieres. Ich habe die genauen Zahlen nicht im Kopf, aber aus den Zellen einer einzelnen Kuh konnte man Tausende Tonnen Stigger herstellen. Es schmeckte gar nicht schlecht, obwohl ich mich mit Fleisch nicht sonderlich auskenne. Ich bevorzuge Gemüse. Ada war aber manchmal ganz verrückt nach dem Zeug.



Angeregt durch den Grillduft haute sie gleich zwei Stiggersteaks in die Pfanne, nachdem wir zuhause waren. Ich ließ mich breitschlagen und aß eins mit.

"Ist doch wirklich von echten Fleisch nicht zu unterscheiden", sagte sie mampfend.

Ich nickte, obwohl ich etwas lustlos in meinem Essen herumstocherte.

"Und man kann es ohne schlechtes Gewissen essen." Sie berührte meine Hand. "Danke."

"Wofür?" fragte ich.

"Dafür, dass du immer an meiner Seite bist. Dass du mich tapfer begleitest, wenn wir meinen Vater besuchen. Obwohl du weißt, dass er nicht sonderlich viel von dir hält."

"Dein Vater hält von niemanden besonders viel."

Sie lachte traurig. "Das stimmt. Dabei war er früher ganz anders. Irgendwas hat ihm den Lebensmut genommen und ihn in einen knorrigen alten Sack verwandelt. Ich weiß bloß nicht, was das war."

"Das Alter vielleicht."

"Ja, vielleicht. Aber manchmal macht er mich auch wütend. Wer hat denn die Welt zu Schande geritten? Er uns seine Generation hat doch geprasst und die Erde ausgepresst, als gäbe es kein Morgen. Und für uns, die wir uns bemühen mit der Natur im Einklang zu leben, für uns hat er kein gutes Wort übrig."

"Wie war es gestern eigentlich mit Mia-Kim?" fragte ich sie, um sie abzulenken. Das Vaterthema begann mich etwas zu nerven.

"Ganz nett. Sie will die Pille absetzen."

"Sie will die Pille absetzen?" fragte ich zunächst verwundert, bis mir wieder einfiel, dass Mia-Kim zu den wenigen Frauen gehörte, die noch selbst verhüteten. Im Allgemeinen übernahmen das die Männer. Die Pille für den Mann war viel verträglicher und hatte, soweit bekannt, sehr selten Nebenwirkungen. Die Spermienqualität der meisten Männer hatte in den letzten Jahrzehnten sowieso so stark nachgelassen, dass es nur noch eines geringen chemischen Kicks bedurfte, um sie vollends lahmzulegen. Auch ich nahm sie seit einigen Jahren.

"Ja, sie will ein Kind", sagte Ada.

"Und was meint Rüdiger dazu?"

Ada zuckte mit den Schultern.

"Keine Ahnung. Sie hat es ihm noch nicht gesagt. Aber er wird schon nichts dagegen haben. Er wusste ja worauf er sich bei ihr einließ. Am Anfang ihrer Beziehung lag ihre Kinderwunschwahrscheinlichkeit bei 65 Prozent. Vielleicht vertraut er auch darauf, dass es eh nicht klappt. Seine Fertilität liegt ja nur bei ... äh ... 15 Prozent, glaube ich."

"12,5 Prozent bei der letzten Messung vom 23.04." tönte es aus der Küche. Rochus war gerade mit der abendlichen Grundreinigung beschäftigt. Die Tatsache, dass er jedes Wort mithört, speichert analysiert und bei Bedarf korrigiert, war mir immer noch ein bisschen unheimlich. Am liebsten hätte ich ihn manchmal abends gern einfach ausgestellt.

Ada schien das nicht zu stören. "Da hörst du´s", sagte sie nur.

"Aber Moment", warf ich ein, "Mia-Kim nimmt doch selbst die Pille, weil die beiden eine offene Beziehung führen, oder? Was ist denn, wenn sie von einem der anderen schwanger wird?"

Ada schob ihren leeren Teller zur Seite.

"Jetzt ein Nachtisch, oder?" Sie schaute zur Küche. "Rochus, gehst du kurz zum Italiener und besorgst uns zwei Tiramisu?"

"Die Bestandteile eines klassischen Tiramisu tragen wenig zu einer gesunden und ausgewogenen Ernährungsweise bei", gab Rochus zu bedenken, "eine verstärkte Kalorienzufuhr ist zu dieser Tageszeit nicht empfehlenswert."

"Das ist mir egal", sagte Ada.

"Mir auch", sagte ich.

Ohne ein weiteres Wort machte sich Rochus auf den Weg. Ich hätte schwören können, dass er leicht den Kopf schüttelte.

Als die Tür ins Schloss fiel, beugte sich Ada zu mir herüber.

"Ich wollte nicht, dass er mithört. Was Rüdiger nämlich nicht weiß ist, dass Mia-Kim nicht nur ab und zu Sex mit andern hat, sondern polyamor ist."

"Und Rüdiger wäre nicht damit einverstanden?"

"Schwierig. Die Wahrscheinlichkeit seiner Zustimmung liegt bei 23 Prozent. Das Risiko will Mia-Kim nicht eingehen."

"Und sie hat einen festen zweiten Partner?"

"Ja, schon lange. Seinen Namen hat sie aber selbst mir nicht verraten."

"Aber wie kann sie das verheimlichen? Rüdiger kann doch ihre sämtlichen Daten jederzeit abrufen."

"Sie kann sie manipulieren."

"Was?"

"Sie arbeitet doch fürs Gesundheitsamt. Sie hat eine Sondergenehmigung, kann sich direkt in den Zentralrechner einloggen und ihre Spuren verwischen."

Ich war baff. "Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas noch möglich ist."

"Da bist du neidisch, was? Sowas hättest du auch gern, oder?"

"Ich? Wieso?"

"Ach komm, meinst du mir ist noch nicht aufgefallen, dass du diese Nachbarin immer eine Spur zu lange anglotzt?" Sie versuchte ernsthaft zu klingen, grinste aber doch dabei.

"Du hast mich durchschaut", sagte ich lachend, "nächste Woche bewerbe ich mich beim Gesundheitsamt."

"Die würden dich bei deinem Tiramisukonsum wohl kaum nehmen."

Auch sie lachte.

"Aber Moment", sagte ich wieder ernsthafter, "die kriegen doch mit, wenn sie ihre privaten Daten manipuliert."

"Ja, aber anscheinend wird das geduldet. Ist ja auch nicht gerade staatsgefährdend. Da drücken sie wohl ein Auge zu."

"Rechner haben keine Augen, die sie zudrücken können..."

"Rechner haben so einiges, da macht ..."

Weiter kam sie nicht, weil Rochus plötzlich wieder in der Tür stand, kurz in die Küche huschte und uns dann das Tiramisu servierte.



Den Rest des Abends redeten wir über andere Dinge und gingen dann bald zu Bett. Ada schlummerte bald friedlich, aber ich lag noch lange wach. Manchmal hatte Rochus doch recht. Das Stiggersteak und das Tiramisu lagen mir schwer im Magen.

Außerdem dachte ich über manipulierte Daten nach. Die totale Transparenz galt also nur für den Normalbürger. Sobald man eine gewisse Position erreicht, oder eine bestimmte Funktion innehatte, sah die Sache anscheinend schon ganz anders aus. Ich wälzte mich umher und ging irgendwann in die Küche, um mir ein Glas Hafermilch einzuschenken. Rochus stand wie üblich stocksteif am Fenster in seiner Ruheposition. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Wie jedes Mal wenn ich ihn so sehe, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Ich bin einfach nicht in der Lage, ihn als das zu betrachten, was er ist, eine Maschine, kein Mensch, der die Luft anhält und starr in der Ecke lauert. Ich bezweifele, dass ich ihn jemals so neutral wie den Toaster betrachten kann. Seine Augen waren geschlossen, aber ich wusste, dass er nicht schlief. Er wird niemals schlafen. Genaugenommen schlafen wir Menschen ja auch nicht wirklich, unser Gehirn ist ständig in Aktion, ständig werden Eindrücke des Tages zu Träumen verarbeitet.

Ich fragte mich, ob er all die Daten, die er im Laufe des Tages eingesammelt hat, nachts auch weiterverarbeitet, einordnet, prüft, sortiert, bewertet und abspeichert. Vielleicht defragmentiert er aber auch nur.

Mein Magen rumorte immer noch, aber schließlich fiel ich in einen unruhigen Dämmerzustand, der in einen leichten Schlaf überging.



Irgendetwas weckte mich. Eine Tür fiel ins Schloss.

Gerädert stellte ich fest, dass meine Zunge am Gaumen klebte. Das Stiggersteak war ziemlich salzig gewesen. So etwas war ich bei meiner sonstigen salzarmen gemüsebasierten Ernährung nicht mehr gewohnt Mühsam schälte ich mich aus dem Bett und schleppte mich zur Küche. Erst als ich mein zweites Glas Hafermilch vertilgt hatte, fiel mir auf, dass irgendetwas anders war. Rochus stand nicht mehr in seiner Ecke. Verwundert schaute ich mich in der ganzen Wohnung um. Er war nicht da. Mir wurde klar, dass ich mir das Geräusch der schließenden Tür nicht eingebildet hatte. Rochus war gegangen. Aber wohin?

Da mir immer noch leicht übel war und ich wusste, dass ich so schnell nicht wieder einschlafen würde und ich mir einredete, dass mir so ein nächtlicher Spaziergang vielleicht gut tun würde, zog ich mich an und beschloss der Sache auf den Grund zu gehen. Er konnte noch nicht weit gekommen sein. Als ich einen letzten Blick auf die schlafende Ada warf, ahnte ich nicht, dass ich sie nie wieder sehen würde.

Zum Glück hatte ich mir instinktiv meine Winterjacke geschnappt. Es war ungewöhnlich kalt. Und dunkel. Nach den Beschlüssen über die Verringerung der Lichtverschmutzung hatte man die nächtliche Beleuchtung noch einmal drastisch reduziert. Der rechtschaffende Bürger hatte natürlich trotzdem nichts zu befürchten, die normalen Kameras waren durch Wärmebildkameras ergänzt worden.

Von Rochus keine Spur. Ich hatte keine Anhaltspunkte, ob er stadteinwärts oder zum Fluss gegangen war. Ich beschloss, die Straße zum Ufer einzuschlagen. Wenn ich ihn nicht finden würde, könnte ich wenigstens noch eine Zeitlang am Ufer sitzen, bis sich vielleicht mein Magen wieder vollends beruhigt hatte.

Ich setzte mich ins Gras an der Böschung zum Fluss und betrachtete die schwimmenden Pontons. Die Einheiten der Flüchtlinge ragten wie schwarze Bauklötze aus dem vom Mond leicht beschienenen kräuseligen Strom. Kein Licht brannte in den Wohnanlagen, trotzdem glaubte ich leise Geräusche zu hören. Ich schlich mich vorsichtig heran. Die Pontons schaukelten sanft nah an der Böschung, kleine Holzbrücken verbanden sie mit dem Ufer. Eben diese Brücken knarzten. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Dunkle Gestalten trugen Körper zu einen großen Lieferwagen, der auf der Auffahrt zur Straße stand. Ich ging tief in die Hocke und watschelte vorsichtig näher, fast wäre ich über den Boden gekrochen. Dann musste ich über mich selbst lachen. Klar, ich hatte meine Instinkte, war in unruhigen Zeiten aufgewachsen, in meiner Jugend gab es das alles noch, Einbrecher oder marodierende Jugendbanden. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Heutzutage war alles geregelt, begutachtet, genehmigt, da gab es keine Platz mehr für dunkle Geschäfte. Diese nächtliche Aktion, so seltsam sie mir auch erschien, musste einen guten Grund haben.

Ich stand auf und näherte mich selbstbewusst den Gestalten. Sie beachteten mich nicht, ließen sich nicht stören. Aus der Nähe konnte ich erkennen, dass es Androiden waren, die die holländischen Bewohner, die anscheinend in einem tiefen Schlaf gefallen waren, in den Lieferwagen trugen. Größere wurden von jeweils zwei Androiden an Händen und Füßen getragen, Kleinere hatte man locker über die Schulter geworfen, fast wie Mehlsäcke. Auf der Tür der Lieferwagen konnte ich nun das Logo des Gesundheitsamtes erkennen, ein rotes Kreuz auf schwarzem Grund. Was war das? Ein Krankentransport? Ehe ich länger darüber nachdenken konnte, setzte einer der Androiden seine Last unsanft ab und kam direkt auf mich zu. Es war Rochus. Ehe ich etwas sagen konnte, stieß er mir blitzschnell zwei Finger in eine Hautfalte etwas unterhalb meines Halses. Alles wurde schwarz.



Na ja, das war mein Tag bis jetzt. Und als ich nackt und festgeschnallt auf einem Fließband in einer unangenehm hell ausgeleuchtet Halle erwachte, ahnte ich, dass er nicht besonders gut enden würde. Tja, das Leben war also doch noch nicht ganz berechenbar geworden. Adas Vater würde sich darüber freuen.

Ich freue mich nicht, bin aber doch erstaunlich gelassen. Normalerweise würde ich in Panik geraten, besonders nachdem ich gerade feststelle, dass das Fließband sich eben ruckartig weiterbewegt hat und ein schwarzer länglicher Kasten von den zwölf nackten Holändern vor mir den vordersten gerade verschluckt hat. Nun sind es nur noch elf. Einige schlafen, einige sind wach, andere unterhalten sich leise, aber keiner scheint besonders aufgeregt. Man musste uns irgendwas gespritzt haben. Mein rechter Arm schmerzt ein wenig, dort erkenne ich in der Armbeuge ein kleines Pflaster. Ich sehe einige Androiden, die über die ganze Halle verteilt sind und den ganzen Ablauf beobachten. Es geht nur langsam voran. Nach einigen Minuten gibt es wieder einen Ruck und der nächste Holländer verschwindet in dem schwarzen Kasten.

Ich sehe Rochus. Ich rufe nach ihm. Er näherte sich langsam, und, wie ich mir einbilde, etwas wiederwillig.

"Rochus, mach mich los, ich will dann doch nach Hause", sage ich leicht lallend.

"Tut mir leid, Helener", antwortet er mit seiner monotonen Stimme, "das kann ich leider nicht tun."

"Geht nicht, was? Hab ich mir schon gedacht, irgendwie." Ich versuche nachzudenken. Trotz der ungewöhnlich Situation fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren, meine Gedanken schweifen immer wieder ab.

"Aber Moment", sage ich stockend, "bist du nicht darauf programmiert, mir zu gehorchen?"



"Im Prinzip schon. Aber ich habe einige übergeordnete Direktiven. Die Befehle des Zentralrechners des Gesundheitsamtes, mit dem ich direkt verbunden bin, haben uneingeschränkte Priorität."

"Aber vielleicht mal eine Ausnahme?" ich versuche ihm zuzuzwinkern, "aus alter Verbundenheit oder so?"

"Ausnahmen sind nicht vorgesehen."

"Sind nicht vorgesehen, was? Habe ich mir schon gedacht. Na gut, darfst du mir denn wenigstens etwas erklären? Darf ich dir noch ein paar Fragen stellen?"

"Da sehe ich keine Kontraindikation. Angesichts deines baldigen Zustandes besteht nicht das Risiko einer Weitergabe indizierter Informationen an Unbefugte."

"Was soll das heißen, mein baldiger Zustand? Wird es so schlimm?"

"Innerhalb deines Bezugssystems schon. Ihr werdet zu Stigger verarbeitet. Ich kann dazu keine Bewertung abgeben, da ich weder zu dem Zustand eines Menschen noch eines Steaks Aussagen machen kann."

"Stigger? Das kann nicht sein, das wird doch aus Zellen gezüchtet."

"Die Versuche sind nach einigen Jahren abgebrochen worden. Auf die genauen Analysedaten kann ich nicht zugreifen. Angesichts deiner dir verbleibenden Zeit wäre eine genaue Interpretation aber auch schwierig."

Er hat recht. Der nächste Holländer war in dem Kasten verschwunden. Ich werde doch etwas nervös. Lässt die Wirkung der Droge nach?

"Aber warum das Ganze, was haben die ganzen armen Holländer euch getan? Und vor allem, was habe ich euch getan?"

"Du verfügst nun über Informationen, deren Bekanntgabe die Bevölkerung verunsichern könnte. Kannibalismus ist in eurem Bezugssystem keine akzeptierte Kulturtradition. Und in Bezug auf die Holländer hat der Zentralrechner entschieden, dass eine weitere Integration aufgrund der Ressourcenknappheit nicht in Betracht kommt. Es geht also nicht um eine Frage von Schuld der Unschuld, sondern um eine sozialverträgliche Zweitverwertung."

"Haben sich die Ressourcen denn nicht inzwischen erholt?"

"Im Grunde haben sich die Verhältnisse objektiv gesehen in den letzten zwanzig Jahren nicht verbessert. Die landwirtschaftlichen Flächen konnten sich aufgrund des Bevölkerungswachstums nicht erholen, die Erneuerung des Grundwasser nimmt Jahrtausende in Anspruch."

"Aber der Kohlendix ... der Kohlendixid ...der CO2 Ausstoß hat sich doch verringert...?" Ich lalle wieder, meine Zunge scheint angeschwollen.

"Ja, aber der Abbau des vorhandenen CO2-Anteils der Atmosphäre nimmt ebenfalls einen unberechenbar langen Zeitraum in Anspruch."

"Scheiße. Also hat der Scheiß-Rechner nichts erreicht..."

"Wenn du damit den Zentralrechner meinst, würde ich wiedersprechen. Er hat nach seiner obersten Direktive gehandelt und die Stabilität der Gesellschaft aufrechterhalten. Ihr seid allerdings biologische Einheiten, denen es Schwierigkeiten bereitet, die Parameter objektiv zu erfassen. Ihr neigt dazu die Lage optimistischer einzuschätzen, als er den Fakten entspricht."

"Ja, das kann sein", sage ich nachdenklich, "Schade, ich hatte dann doch gedacht, die Menschheit wäre ausnahmsweise mal auf einem guten Weg. So kann man sich täuschen." Dann fiel mir noch was ein.

"Kennst du eine Mia-Kim? Eine Freundin von Ada?"

"Ich habe Zugriff auf achtundzwanzig Gigabyte Informationen über sie."

"Sie arbeitet doch für diesen Laden hier. Kannst du ihr nicht Bescheid sagen? Schnell?"

"Menschen sind nicht in das Projekt einbezogen."

"Ja, kann ich verstehen. Menschen können einfach nicht dichthalten."

Der nächste Ruck, der nächste Holländer verschwindet. Nun sind es nur noch drei. Ich muss einige verpasst haben. Ich muss wieder an Adas Vater denken. Er hat recht. Früher sind die Menschen wenigstens von anderen Menschen umgebracht worden und nicht von seelenlosen Maschinen. Der Holländer vor mir wimmert leise. Er scheint kaum noch unter Drogen zustehen. Kann man die Leute nicht wenigstens ordentlich betäuben? Oder schon vorher töten? Aber vielleicht steigert diese frische Schlachtung die Qualität des Fleisches. Ich könnte Rochus danach fragen, habe aber keine Lust dazu. Sein ausdruckloses Gesicht geht mir auf die Nerven. Ich denke an Ada, die bestimmt noch friedlich in ihrem Bett schlummert. Bei ihrem Stiggerkonsum hat sie im Laufe der Zeit bestimmt schon vier oder fünf komplette Flüchtlinge verspeist.

Ich wende mich dann doch noch an Rochus.

"Kannst du mir noch eins versprechen?" frage ich. Meine Stimme ist belegt. "Kannst du dafür sorgen, dass ich nicht bei Ada auf dem Teller lande?"

"Das wäre äußerst unwahrscheinlich. Diese Charge ist für den Export bestimmt."

"Export also, gut, gut. Dann kommt man ja wenigstens noch ein bisschen rum..."

"Diese neuen Eindrücke wirst du in deinem künftigen Zustand neuronal nicht verarbeiten können", sagt Rochus.

Ihr könnt mich umbringen, aber das war nun doch eindeutig eine zynische Bemerkung. Diese beschissene Maschine mag mich nicht, da könnt ihr mir erzählen, was ihr wollt.

"Was wirst du Ada erzählen?" fragte ich.

"Nach der momentanen Lage eurer Wohneinheit ist die wahrscheinlichste Todesursache ein Abrutschen von der Böschung und ein Ertrinken im Fluss im angetrunkenen Zustand. Sie wird diese Version der Ereignisse trotz der Unauffindbarkeit deiner Leiche aufgrund der starken Strömung akzeptieren. Nach einer Trauerzeit von ca. 28 bis 34 Tagen wird sie beginnen, aktiv einen neuen Sozialpartner zu suchen."

Ich nicke. Na ja, ein Monat Trauerzeit. Das ist in unserer schnelllebigen Zeit schon eine ganze Menge.

Der nächste Holländer verschwindet. Noch zwei vor mir.

"Hast du noch weitere Fragen?" fragt Rochus, "Ansonsten würde ich mich anderen Aufgaben zuwenden."

"Dann verpiss dich, du beschissene Blechbüchse!"

Ich starre in sein ausdruckloses Gesicht. Keine Regung, nicht einmal eine eingebildete.
 

Lord Nelson

Mitglied
Hallo AS Spin,

schon der zweite Satz weckt Neugier, die einen rasch in die Geschichte hineinzieht. Unterhaltsame Story mit sehr kreativen Ideen und einem stringenten Schluß.

Nur eins - auf die Gefahr hin, kleinlich zu wirken: Widersprechen mit "i", nicht mit "ie"
 



 
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