Als der Nikolaus Maria verschleppte

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Betcy

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Als der Nikolaus Maria verschleppte (Erzählgeschichte zu Weihnachten)

Das Christkind kam bei uns früher immer nachts. In den frühen Morgenstunden des ersten Weihnachtstages schlichen wir uns in die gute Stube, um die sehnlich erwünschten Geschenke zu begutachten. Die fielen damals deutlich bescheidener aus, als es heute vielfach üblich ist. Trotzdem freuten wir uns über den Bollerwagen, das Holzpferd oder das Dreirad.

Viele Sachen gab es auch wiederholt geschenkt. Der längst ramponierte Bollerwagen stand irgendwann runderneuert und mit neuer Farbe versehen wieder unter dem Tannenbaum. Er gehörte jetzt aber meinem kleinen Bruder. Für mich gab es ein kleines Zweirad, das im Nachhinein betrachtet doch sehr dem Wochen zuvor verschwundenen Dreirad ähnelte. Auch konnte man Sachen zum Reparieren an das Christkind schicken. Die wurden dann Anfang Dezember vom Nikolaus mit in den Himmel genommen.

So legte meine Schwester Hannelore ihre Puppe, die an einem ausgekugelten Arm litt, am Nikolausabend auf die Fensterbank. Die Puppe hatte sie Maria getauft, und damit das auch für alle sichtbar war, hatte Hannelore der Puppe mit einem Kugelschreiber ein großes M auf den Rücken graviert. Maria war am nächsten Tag tatsächlich nicht mehr da. Aber zur großen Enttäuschung lag sie am Weihnachtstag nicht unter dem Tannenbaum.

Die musste dem Nikolaus bei der Fahrt durch den Eleonorenwald wohl vom Schlitten gefallen sein. Denn sie wurde im Frühjahr, nachdem der letzte Schnee geschmolzen war, von einem Waldarbeiter gefunden. Dieser nahm sie mit in seinen Heimatort Werlte. Als er sich nach Feierabend in der Bahnhofskneipe zum Bier mit seinen Kumpels traf, setzte er die verschmutzte Puppe mit dem ausgekugelten Arm auf die Theke.

In der Gaststätte verkehrten damals auch viele amerikanische Soldaten aus der nahen Kaserne in Sögel. Ein junger Soldat aus New York dachte an seine kleine Schwester, für die er noch ein Mitbringsel suchte. Für eine Runde Bier schwatzte er dem Waldarbeiter die Puppe ab und nahm sie wenige Tage später mit nach Amerika.

Die Puppe wurde repariert und bekam neue Kleidung. Seine kleine Schwester freute sich sehr über das kleine Geschenk und spielte viele Jahre fast jeden Tag damit. Doch das Mädchen wurde älter und irgendwann fand die Puppe mit anderen ausrangierten Spielsachen im Keller ihren Platz.

Die Familie zog einige Jahre später in eine andere Stadt. Der Keller wurde ausgeräumt und so landete die Puppe schließlich auf dem Sperrmüll. Auf der obligatorischen Suche nach nützlichen Gegenständen entdeckte einer der vielen New Yorker Obdachlosen die Puppe und nahm sie mit. Vielleicht konnte man sie noch zu Geld (oder Schnaps) machen. Also platzierte er sie neben seiner Bank im Central Park.

Dort fiel sie einem armen Familienvater ins Auge. Dieser war noch am Vormittag des Heiligen Abends auf der Suche nach einem kleinen Weihnachtsgeschenk für eines seiner sieben Kinder. Man wurde sich schnell einig. Für einen Dollar kaufte er die Puppe. Diese hatte jetzt gleich mehrere neue Mamas. Sie wurde sehr umsorgt, mehrmals am Tag gewaschen, aus- angekleidet und ins Bett gebracht.

Ohne regelmäßige Arbeit hatte die Familie oft nicht einmal genügend Geld, um etwas zu essen zu kaufen. Eines Tages wusste der verzweifelte Familienvater keinen anderen Ausweg mehr. Er brachte die Puppe seiner Kinder zu einem Pfandleiher, um dafür etwas Geld für Brot zu bekommen. Aus purem Mitleid nahm der Pfandleiher die inzwischen doch sehr ramponierte Puppe entgegen.

Doch bei näherer Betrachtung fand er sie dann doch nicht so schlecht. In seiner Werkstatt reparierte er die Puppe liebevoll. Nachdem alle Arme und Beine und auch der Kopf wieder festsaßen, malte er sie an und beklebte den Kopf mit sehr schönen blonden Locken. Die Puppe sah aus wie neu. Sie erhielt im Schaufenster einen Ehrenplatz.

Viele Jahre waren inzwischen vergangen. Meine Schwester war längst erwachsen, hatte geheiratet und mittlerweile zwei erwachsene Kinder, Thomas und Sandra. Thomas verbrachte nach seinem Abitur ein halbes Jahr in Amerika, um seine Englischkenntnisse zu verbessern.

Kurz vor seiner Heimreise, es war wenige Tage vor Weihnachten, schlenderte er durch die verschneiten Straßen New Yorks. Er war noch auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für seine Mutter. Da fiel ihm im kleinen Schaufenster eines alten Ladengeschäftes eine Puppe ins Auge. Seine Mama, die schon immer Puppen gesammelt hatte, würde sich sicher darüber freuen. Also kaufte er sie, ließ sie sich schön einpacken und nahm sie am nächsten Tag mit nach Hause. Dort legte er sie am Heiligabend unter den Tannenbaum.

Am späten Nachmittag setzte sich die Familie meiner Schwester zum gemeinsamen Racletteessen an den reich gedeckten Küchentisch. Nach dem ausgiebigen Weihnachtsessen war die Bescherung angesagt. Reihum durfte man seine Geschenke auspacken. Man musste dazu allerdings zuerst eine Sechs würfeln, was meiner Schwester lange nicht gelingen wollte. Als es endlich doch klappte, schnappte sie sich natürlich das Paket von Thomas. Sie fand die Puppe sehr schön, platzierte sie auf einem Stuhl neben dem Eckregal, das bereits mit mehreren Puppen dekoriert war und gesellte sich wieder zu den anderen. Es wurde Rotwein getrunken und Sandra versuchte der neuen Geige die Töne eines bekannten Weihnachtsliedes zu entlocken. Insgesamt war es ein sehr gemütlicher Abend.

Zufrieden legte sich Hannelore zu später Stunde ins Bett. Aber sie konnte nicht einschlafen, sondern wälzte sich unruhig hin und her. Immer wieder tauchte in ihren Gedanken das Gesicht dieser Puppe auf. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Noch etwas schlaftrunken stand sie auf, ging in die Stube, schnappte sich die Puppe und zog ihr die Kleider aus.

Und dann sah sie es. Die Puppe hatte auf dem Rücken ein großes M. Meine Schwester nahm die Puppe liebevoll in den Arm und begann zu weinen.
 
Zuletzt bearbeitet:

onivido

Mitglied
Hallo Betcy, ich bin zwar eigentlich schon ein bisschen zu alt , um Maerchen zu lesen, aber ich habe es dennoch getan und bereue es nicht. Die Geschichte hat mir wirklich gut gefallen.
Wuensche einen schoenen Sonntag///Onivido
 

Spirulina

Mitglied
Hey Betcy,

deine kleine Geschichte ist so märchenhaft, dass sie schon fast wahr sein könnte. Ehrlich berührt
habe ich jede kleine Station Marias genossen.

LG Spirulina
 
G

Gelöschtes Mitglied 22787

Gast
Eine wirklich sehr, sehr schöne Geschichte, die mit fünf Sternen immer noch eindeutig unterbewertet ist.

Im Folgenden ein paar kleine Korrekturvorschläge.
Hier fehlt ein Komma: Die fielen damals deutlich bescheidener aus, als es heute vielfach üblich ist.
Hier ist kein Komma nötig: Für mich gab es ein kleines Zweirad, das im Nachhinein betrachtet doch sehr dem Wochen zuvor verschwundenen Dreirad ähnelte.
Hier ist ein „zu“ zu viel: Ohne regelmäßige Arbeit hatte die Familie oft nicht einmal genügend Geld, um zu etwas zu essen zu kaufen.
Hier fehlt noch ein „e“: Am späten Nachmittag setzte sich die Familie meiner Schwester zum gemeinsamen Racletteessen an den reich gedeckten Küchentisch.

Liebe Grüße
DD
 

schreibs

Mitglied
Oh man, so gut würde ich auch gerne mal erzählen können. Was mich beeindruckt hat, ist der Umstand, dass mit wenigen Worten im Rahmen der kurzen Sinnabschnitte solch intensive Vorstellungen erzeugt wurden. Eine hervorragende Erzählung, die für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen geeignet ist.
 



 
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