Als vielleicht der Krieg an meine Tür geklopft hat

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Neulich am späteren Nachmittag klingelte es an meiner Tür.
Draußen standen zwei Männer.
Mit ihren Rufnamen stellten sie sich vor.
Einer hieß Dimitri; den Namen des anderen habe ich schon wieder vergessen.
Unsere Begegnung blieb kurz. Die beiden Männer hatten bloß eine einzige Frage an mich:
Ob hier jemand wohne, der russisch spricht – oder ukrainisch vielleicht?
Irritiert verneinte ich die Frage.
Mir dämmerte aber sogleich, wie man auf die Vermutung kommen kann. Verstehend lächelnd deutete ich auf unser Türschild mit diesem Namen, der wohl ein bisschen so klingt, als hätten wir Wurzeln ebenda, in Russland oder in der Ukraine. Die Familie meines Mannes hat aber, soweit man weiß, keinerlei Verbindung in diese Richtung.
Nachdem ich ihre Frage also verneint hatte, waren die Männer auch schon wieder auf dem Rückzug.
Dimitri und sein Begleiter verabschiedeten sich recht schnell, sodass ich gar nicht dazu kam, nachzufragen, worum es eigentlich ging.
Bei meinen Nachbarn klopften die beiden jedenfalls nicht an die Tür; deren Namen klingen nicht ansatzweise slawisch. Sie hatten schon dezidiert zu uns gewollt, so war das.
Seither rätsle ich um die Sache herum.

Für einen winzigen Moment hatte ich ja die völlig verrückte Idee, es wäre den beiden Männern um ein russisch-ukrainisches Versöhnungsprojekt gegangen, wofür sie eventuell engagierte Menschen gesucht hätten – aber gewiss, das wäre gar zu weit weg von der Realität, ist mir auch sogleich klargeworden.
Dann kann mir rasch ein anderer Gedanke, der angesichts der Realitäten plausibler klingt.
Ich meine, es wäre möglich, vor meiner Tür hätten zwei Kopfgeldjäger gestanden, die kampfunwillige Deserteure an die heiß umkämpfte russisch/ukrainische Kriegsfront schleppen möchten.
Weiß man doch, es mangelt in diesem Krieg vor allem an menschlichem Soldatenmaterial, das man in der Schlacht verheizen kann.
Besonders der ukrainischen Seite mangelt es in dieser Hinsicht.
Nicht zuletzt deshalb hat der ukrainische Präsident erst vor wenigen Tagen das Mindestalter für die militärische Rekrutierung um zwei Jahre heruntergesetzt. Heißt: Jetzt dürfen auch schon 25jährige zum Kriegskämpfen eingezogen und abkommandiert werden.
Auch missfällt es heute an mehreren Stellen, dass sich wehrfähige Männer dem Krieg entziehen, lieber im Ausland leben als in der Heimat sterben wollen. Auch das hat man jetzt schon mehrfach gehört, während dieser Krieg vor sich hin tobt: Eine solche Haltung gilt heute nicht etwa als weise und klug, sondern wird nun als unehrenhaft und feige abgetan. So ändern sich die Zeiten oft auch zum Schlechten.
Wohlan denn, kann gut sein, dass die beiden Männer vor meiner Tür in ebenjener Mission unterwegs waren, bei der mit harter Hand über anderer Leute Leben und Tod entschieden wird.
Kann sein, dass am Dienstag um halb fünf der Krieg an meine Tür geklopft hat.

Er hat kein Opfer gefunden, der Krieg. Nicht in dieser Wohnung.
In dieser Wohnung wohnhaft sind: Ich selbst, mein Mann und unser Sohn.
Ich als Frau müsste mich ja vermutlich eher nicht fürchten, in das Schlimmste hineingezwungen zu werden, was Menschen sich so ausdenken können, und auch mein Mann würde ob seines fortgeschrittenen Alters wohl nicht so schnell eingezogen werden, aber der Sohn, der Sohn…
Unser Sohn ist jetzt in seinen Zwanzigern und Student. Ein junger, sportlicher, kräftiger Mann.
So wie die jungen Männer oft in ihren Zwanzigern sind, die im Krieg auf wieder andere Menschen scharf schießen und tödliches Feuer werfen.
Formal betrachtet wohnt hier ein Mann, der seine Jugend, sein Geschick und seine Kraft sehr gut aufs strategische Töten verwenden könnte.
Hätte ich ihn nicht zufällig in Österreich geboren, sondern in einem anderen Land, wäre er wohl jetzt gerade zu einem solchen Töten verpflichtet.
Würde ich deshalb als Mutter anders fühlen?
Ich meine nicht.
Doch nichts als Angst und Abscheu kann man empfinden, wo sich der Krieg in den Körper deines Kinders zu bohren droht; im schlimmsten Fall mit Kugeln, Feuern und Schrapnellen durch die Haut hindurch, die du beschützen willst wie deine eigene.
Als Mutter willst du doch nicht, dass die Augen deines Kindes geblendet werden von den schrecklichen Anblicken, die ein Kriegsgemetzel als blutige Fleischcollage anrichtet, und auch willst du nicht, dass deines Kindes Hand sich verantwortlich zeichnet, ein anderes Leben auszulöschen, das ja ebenfalls jemandes Kind gewesen ist.
So oder so würde ich meinen Sohn nicht ziehen lassen wollen in ein Kampfgetümmel, in dem man immer auch draufgehen oder verwundet, verdorben werden kann.
Ganz egal, welche Seite ihn auffordert und zu zwingen versucht, ich wäre dagegen.
Ich würde es mit Reinhard Mey halten, wenn er festentschlossen singt: Nein, meine Söhne geb ich nicht! Kein Ziel und keine Ehre, keine Pflicht sind's wert, dafür zu töten und zu sterben!
Und wie im Lied beschrieben würde ich eher fliehen mit meinem Sohn als dass man ihn zu einem Kriegsknecht macht. Eher mit ihm in die Fremde ziehen, in Armut und wie Diebe in der Nacht…

Ich stelle mir vor, wenn dann sogar dort, in der solcherart aufgesuchten Fremde, der Krieg erst recht wieder an die Tür klopfte, so wäre das wohl eine höchst beunruhigende, bedrohliche Sache.
Ich meine, so eine Sache ist bei mir am Dienstagabend passiert.
Vor dem Bedrohlichen hat uns bloß der reine Zufall gerettet. Ein Stück Papier, das unserer Familie eine zurzeit weniger kriegsverfängliche Staatsbürgerschaft ausweist.
Andere haben dieses zufällige Glück vermutlich nicht. Sie müssen in dieser Zeit ihre Kinder verstecken und um ihr Leben zittern.
Ich zittere mit ihnen und bin froh über jeden, der nicht im Krieg verfangen und verheizt wird.

Systematisch gehen Dimitri und sein Begleiter von Haus zu Haus und schauen, wo ein Name verdächtig klingt. Russisch. Ukrainisch. Wo sich ein junger Mensch vorm Töten und Sterben verstecken könnte.
Das freundliche Gesicht eines Dimitri mag darüber hinwegtäuschen, jedoch seine harmlos klingende Frage hat es in sich. Rückblickend bin ich fast sicher, was diese seine Frage wirklich bedeutet hat.
Was anderes könnten sie gewollt haben in Zeiten wie diesen?
Ich hätte nachfragen sollen, gleichwohl… Hätten die Kopfgeldjäger mir die Wahrheit gesagt?
Vermutlich nicht.
Vermutlich hätten sie mir gar noch was von Versöhnungsprojekten erzählt, während sie drauf spitzten, ob hinter mir nicht der Kopf eines kampftauglichen Sohnes, Bruders, Mannes im Flur auftaucht…

Nach dem Russischen oder Ukrainischen haben sie mich gefragt, wohlwissend, wie ähnlich die beiden Sprachen am Ende klingen, wie verwandt und wesensverwandt sie sind.
Ich weiß noch, im Moment, als Dimitri mich nach dem Russischen gefragt hatte, hatte ich kurz überlegt, ob ich zum Spaß den einzigen Satz, den ich auf Russisch kann, aufsagen sollte - ließ es dann aber sein.
Es wäre eine Liedzeile aus der Oper „Fürst Igor“ von Borodin gewesen: „Uletay na kryl'yakh vetra“, das bedeutet so viel wie: „Fliege auf den Flügeln des Windes“.
Ich hätte es auch singen können, ist eine wunderschöne Melodie.
Aber war vermutlich besser, dass ich an dieser Stelle meinen Mund gehalten habe. Für Späße sind die Zeiten ja auch nicht geeignet.
Wer weiß, vielleicht hätte mich das Trällern von russischem Liedgut nur noch weiter verdächtig gemacht, in welche Richtung auch immer.
Man muss aufpassen, was man singt und was man sagt heutzutage, die Lieder fliegen längst nicht mehr frei auf den Flügeln des Windes und instinktiv war ich vorsichtig, als neulich zwei Männer vor meiner Tür standen und seltsame Fragen stellten.

„Wir haben nur dies eine kurze Leben –
Ich schwör's und sag′s euch g′rade ins Gesicht:
Sie werden es für euren Wahn nicht geben!
Nein, meine Söhne geb′ ich nicht!“
…singt indes Reinhard Mey am Ende seiner ikonischen Anti-Kriegs-Ballade, diesem anderen Lied, und singt mir aus dem Herzen.
Allerdings, wo gestern noch die meisten meiner Mitmenschen mitgesungen oder seufzend zugestimmt haben, scheint es heute weitgehend vergessen, wie kostbar kurz ein jedes Leben doch eigentlich ist und was für ein Verbrechen, solches Leben einem Krieg als Fraß vorzuwerfen.
Heute werden die zeitlosen Erkenntnisse wieder von modisch gecken Pflichten und Idealen überlagert und sie gelten nichts mehr.
Dieses und jenes mit der Waffe verteidigen: DAS gilt jetzt als ehrenhaft und tapfer und ausdrücklich erwünscht.
Ein kleines kurzes Leben, eine heilgebliebene, nicht zerschossene, verbrannte, geschundene Haut ist demgegenüber weit weniger wert.
Der generelle Wahnsinn des Krieges wird schon wieder zur speziellen Notwendigkeit verklärt.
Wer versucht, sich dem Krieg zu entziehen, wie auch immer, wird aufgespürt und verurteilt, im schlimmsten Falle abgeführt.
Das ist die Botschaft unserer Zeit.
Wohin du auch ziehen magst, er findet dich, der Krieg. Er eilt dir nach und ist sowieso auch fast schon wieder überall.
Vielleicht hörst auch du ihn demnächst an deine Türe klopfen.
 
Die Notizen geben gut die Gedankengänge wieder, die durch eine scheinbar harmlose und letztlich nicht aufzuklärende Alltagsbegegnung ausgelöst werden.
 
Hallo Dichter Erdling,

ich habe mich beim Lesen gefragt, ob die Männer wirklich geklingelt haben. Da der Text unter „Tagebuch" steht, könnte es so gewesen sein.

Deinen darauf folgenden Gedankengängen kann ich nur zustimmen.

LG SilberneDelfine
 
Aloha Arno Abendschön und Servus SilberneDelfine!


Über eure Bewertungen und Kommentare habe ich mich sehr gefreut.

Und ja, ist wirklich so passiert. Neulich klingelte es an meiner Tür…


Es grüßt euch freundschaftlich,


Erdling
 

petrasmiles

Mitglied
Allerdings, wo gestern noch die meisten meiner Mitmenschen mitgesungen oder seufzend zugestimmt haben, scheint es heute weitgehend vergessen, wie kostbar kurz ein jedes Leben doch eigentlich ist und was für ein Verbrechen, solches Leben einem Krieg als Fraß vorzuwerfen.
Heute werden die zeitlosen Erkenntnisse wieder von modisch gecken Pflichten und Idealen überlagert und sie gelten nichts mehr.
Dieses und jenes mit der Waffe verteidigen: DAS gilt jetzt als ehrenhaft und tapfer und ausdrücklich erwünscht.
Ein kleines kurzes Leben, eine heilgebliebene, nicht zerschossene, verbrannte, geschundene Haut ist demgegenüber weit weniger wert.
Der generelle Wahnsinn des Krieges wird schon wieder zur speziellen Notwendigkeit verklärt.
Ein erschreckender und gleichzeitig schöner Text und ein furchtbarer Abgrund, in den wir blicken ... ich wollte schon schreiben 'wir alle', aber eben nicht 'wir alle' ... "Wann wird man je verstehen? ... Wann? ... Wird man je ... verstehn ..."
 
Was wohl würde man jemandem um die Ohren hauen, der heute auf der Bühne solche Lieder anstimmt?
Statt Applaus würde vermutlich anderes nachhallen: Zynismus, Verachtung, Vorwürfe. Weltfremd, naiv, lächerlich… würde man sagen.
Ich fürchte, es wäre so, hab ich mir zumindest mit Blick auf deinen Link gedacht, liebe Petra.

Dennoch einen wohligen Frühlingsabend wünscht dir

Erdling
 



 
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