Als würde sie schlafen

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Anders Tell

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Als würde sie schlafen

Peter war übrig geblieben. Sie könne nicht noch einen aufnehmen, hatte die Oma festgestellt. “Noch einer” war ihr eigentlicher Name für ihren zweiten Enkel, denn ihr Bedarf an solchen war mit dem ersten, Peters älteren Bruder, bereits gedeckt. Er könne zwar bei ihr zu Mittag essen, aber einen Schlafplatz habe sie nicht, nachdem sie auch den weiteren noch einen, Peters jüngeren Bruder unterbringen musste. Die probate Lösung in solchen Fällen war Tante Hanne, die allen Gestrandeten vorübergehend Zuflucht gewährte. Tante Hanne war Witwe mit schmaler Rente und Omas ältere Schwester. Peter hatte sich nie merken können, an welcher Position Hanne in der ständig von der Oma wiederholten Aufzählung ihrer Geschwister vorkam. “Unser Fernand, unser Fritz, unser Gus, unsere Setta ..” - irgendwann kam auch unsere Hanne dran, aber dann hatte Peter meistens schon abgeschaltet. Dass Hanne älter sein musste, ergab sich aber aus der Tatsache, dass Oma die jüngste der vierzehn Geschwister war.
Die Großtante hatte Peter bisher in seinen elf Lebensjahren nur selten gesehen, obwohl sie nur zwei Straßen entfernt wohnte. Er vermutete, dass sich Hanne im Haushalt ihrer Schwester genauso unwohl fühlte wie er selbst. Diese angenommene Übereinstimmung und der Umstand, dass Tante Hanne die einzige Person war, die bisher seinem Großvater Paroli geboten und diesen damit zum Schweigen bringen konnte, nahm ihn etwas für die Tante ein. Eine andere Möglichkeit wurde nicht angeboten und so würde er sich arrangieren müssen, ganz gleich wie diese Tante sein würde. Mutter und Oma schickten ihn jetzt los, die Tante aufzusuchen und sich für die erste Nacht anzumelden. Mit sehr gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg.
Vor dem Eckhaus, in dem die Großeltern lebten, lag die viel befahrene Hauptverkehrsstraße. Ältere Fussgänger warteten hier oft fünf bis zehn Minuten auf dem Bürgersteig, bis eine Lücke der endlos passierenden Fahrzeuge die Überquerung ermöglichte. Peter ahnte, dass seine Mutter ihn aus dem Erkerfenster beobachten würde und versuchte zunächst, die Strecke direkt und schnell zu überwinden, weil sie ihn dann erst auf der anderen Straßenseite sehen würde. Diesen Plan musste er wegen der Verkehrsdichte bald aufgeben und so kreuzte er die kleine Stichstraße zur Linken, um so zum Zebrastreifen zu gelangen. Hier war es klug, darauf zu warten, dass ein Älterer den Überweg betrat und sich anzuschließen, denn es war nicht gesichert, dass die eiligen Fahrer für ein kleineres Wesen unbedingt bremsen würden. Auf der anderen Seite der Kreuzung lag der Kiosk oder wie die Leute hier sagten: Die Bude. Dorthin wurde er oft gesandt, um Bier, Zigaretten oder andere Dinge des Bedarfs zu holen, die beim Tageseinkauf vergessen worden waren. Für diesen Botendienst fielen meist ein paar Groschen für Süßigkeiten ab.
Er passierte die Zeile gleichförmiger Häuser, vor denen sich jeweils eine kniehohe Mauer befand. Früher war er begeistert über die breiten Platten auf den Mäuerchen gelaufen, um beim nächsten Eingang wieder hinunter zu springen, bis das letzte Haus erreicht war. Inzwischen fand er diese Tour mit seiner neuen Würde als Elfjähriger unvereinbar. So schaute er eher uninteressiert auf die winzigen Grünflächen hinter den Mäuerchen, die von perfekt getrimmten Ligusterhecken eingefasst, nur etwas Rasen zur Schau stellten. Blumen oder Blütensträucher waren in diesen wohlgeordneten Vorgärten wohl nicht geduldet. Mit dem Ende der Häuserzeile erreichte er auch die Seitenstraße, auf welcher sich Tante Hannes Wohnung befand. Auf dem Eckhaus war noch ein mit weißer Farbe gepinselter Hinweis auf den nächsten Luftschutzkeller LSR mit einem Pfeil nach links zu erkennen. Das vierte oder das fünfte Haus. Er war sich nicht sicher. Er kontrollierte die Klingelschilder, bis er den kuriosen Nachnamen Kinderdick fand.
Bevor er auf den Klingelknopf drückte, überfiel ihn ein Schrecken, an den er die ganze Zeit nicht gedacht hatte. Tante Hanne hatte einen großen Schäferhund, der mit dunkler Stimme anschlagen würde, sobald das Klingeln zu hören war. Obwohl er wusste, dass die alte Hündin gutwillig und wohlerzogen war, konnte er die Furcht nicht unterdrücken, die ihn jedes mal erfasste, wenn das kehlige Bellen nach außen drang. Auf sein Schellen hin erfolgte sogleich das Gebell und beim Summen des Türöffners stemmte sich Peter egen die mächtige Kassettentür und presste mit dem ganzen Oberkörper gegen den aus Bakelit und Messing gedrehten Türgriff. Von innen erschwerte ein mechanischer Türschließer die Aktion und es gelang ihm, die Tür gerade so weit zu öffnen, dass er hindurch schlüpfen konnte. Rechts neben dem Eingang über der Tür zum Keller war ein Schild angebracht, das die Bewohner aufforderte, diese und die Eingangstür nachts verschlossen zu halten. Peter fragte sich, welche Eindringlinge damit vor der Tür gehalten werden sollten. Vielleicht die Hausierer, die gemeinsam mit den Bettlern auf anderen Schildern sogar verboten wurden.
Die Tante empfing ihn eher gleichmütig. Wahrscheinlich hatte sie nur wissen wollen, welchen Sprößling ihrer Nichte sie beherbergen würde. Sie lief vor ihm her durch den kleinen Flur und die Küche und begab sich auf den Balkon. Die Hündin hatte sich schon uninteressiert auf ihren Liegeplatz in der Küche getrollt. Peter folgte der Großtante auf den großflächig verglasten Balkon. Hier nahm die Tante ihre Tätigkeit wieder auf, die sie wegen seines Klingelns hatte unterbrechen müssen. In einer Emailleschüssel lag etwas Merkwürdiges, das sie mit einem Fleischmesser in kleine Teile zerschnitt. Auf seinen fragenden Blick hin erklärte sie, dass es sich um Pansen handelte, den sie für den Hund gekocht hatte. Peter wusste nicht, worum es sich bei Pansen handelte, aber der Geruch wirkte ebenso wenig einladend wie der Anblick der Masse, die wie ein lang gebrauchtes Fensterleder aussah. Um den Geruch etwas abziehen zu lassen, war eins der Fenster geöffnet. Peter wich schnell zu diesem Fenster aus, um frische Luft zu bekommen und einen Blick hindurch zu werfen. Links sah er die Rückseite der Häuserzeile mit den langweiligen Vorgärten und in dem Geviert zeigte sich eine durchgehende Rasenfläche. Niemand bewegte sich auf diesem Grün. Einzig Wäscheleinen und Teppichstangen zeugten davon, dass sich zumindest gelegentlich dort jemand aufhalten würde. Pflanzen und Blumen waren nicht zu finden. Auch nicht auf dem spärlich möblierten Balkon, den man mit etwas Phantasie leicht zu einem Wintergarten hätte gestalten können.
“Dann schläfst Du heute hier.”
Peter nickte. Mehr gab es erst einmal nicht zu sagen und so begab er sich zurück zum Haus seiner Großeltern. Den Geruch von gekochtem Pansen gemischt mit der Duftnote, die ein großer Hund unweigerlich einer Wohnung hinzufügt, hatte er immer noch in der Nase. Er ahnte nicht, dass er dieses Bouquet für immer als Tante-Hanne-Geruch speichern würde.
Der Abschied von der Mutter fiel kurz aus. Peter war immer noch verstimmt, weil sie ihm nicht gestattet hatte, alleine zuhause zu bleiben und ihn stattdessen bei einer Tante parkte, die er kaum kannte. Als er noch viel jünger gewesen war, gab es irgendeinen Anlass, zu welchem sie mit mehreren Anderen bei Tante Hanne eingeladen waren. Da hatte Onkel Johann noch gelebt. Peter erinnerte sich nur, dass der Onkel viel kleiner als die Tante gewesen war und wenig gesprochen hatte. Johann und Johanna; das kam ihm etwas märchenhaft vor - fast wie Jorinde und Joringel. Wenn es eine schicksalhafte Geschichte dazu gab, hätte er sie gerne gehört. Mutter hatte ihm erzählt, dass Onkel Johann Kokillengießer gewesen war, diesen Beruf aber aufgrund einer körperlichen Versehrtheit hatte aufgeben müssen. In seiner Vorstellung baute sich das Bild auf, wie der eher schmächtige Onkel riesenhafte Kokillen wie mächtige Glocken in Sand gegossen hatte und irgendwann einfach der Last nicht mehr gewachsen war. Zuletzt hatte er als Pförtner in der Plüschfabrik gearbeitet, in der der Opa Färbermeister war. Immer in Begleitung des legendären Iwans. Das war ein schwarzer Schäferhund gewesen, von dem es Wunderliches zu berichten gab. Einmal war nachts in die Fabrik eingebrochen worden und es wurden Stoffe und Bargeld entwendet. Am nächsten Morgen hatte Johann den Hund an den Spuren Witterung aufnehmen lassen. Dann nahm er ihn wie gewohnt mit in die Pförtnerloge. Als die Belegschaft so nach und nach durch das Werktor hereinkam, sprang Iwan plötzlich auf und gerade durch das geschlossene Fenster. Er stieß einen Werksangehörigen um. Mit offenem Fang und heftigem Knurren verharrte der schwarze Rüde bedrohlich über dem Mann, bis Onkel Johann denselben aus seiner misslichen Lage befreite. Alle waren überzeugt, dass Iwan einen der nächtlichen Räuber gestellt hatte.
Diese Episode allein hätte für Peter ausgereicht, um Iwan den Rang von Rin Rin Tin zu verleihen. Noch mehr beeindruckte ihn wiederum die Geschichte, in welcher Iwan bei einem Rundgang durch den Stadtwald eine Kinderleiche gefunden hatte. Der sonst sehr folgsame Hund ließ sich vom Onkel von der Stelle nicht fortbringen, bis dieser dort die ersten Überreste aufgedeckt hatte.Peter empfand dieses Ereignis eher schauerlich und sie war für ihn untrennbar mit einen anderen Erzählung der Mutter verbunden, in der eine Frau Abend für Abend durch den Stadtwald irrte und ihr Kind rief. Wenigstens, so dachte er, kam die arme Frau jetzt zur Ruhe. Seine Mutter konnte kaum ahnen, dass solche von ihr der Sensation wegen erzählten Begebenheiten bei Peter ein eigenes Gespinst entwickelten. Das Los der stets rufenden Mutter hatte ihn so bedrückt, dass er in seiner Fantasie die Erlösung zusammenbaute.
Die morbide Lust der Älteren am Grauen erstaunte Peter immer wieder. Während sie bei Themen der Geschlechtlichkeit zischelten und tuschelten oder hinter seinem Rücken die Erzähler schmutziger Witze zum Schweigen aufforderten, reichte der kleinste Anlass und sie schilderten grausame Ereignisse in allen ihnen bekannten Einzelheiten. So hatte er einmal gefragt, was es mit dem “Hackebeilchen Lied” auf sich habe, welches ein Nachbarsjunge ihm voller Freude an seinem Erschrecken vorgesungen hatte. Mutter und Großeltern überboten sich gegenseitig mit Informationen über den Mörder Fritz Haarmann. Dieser habe eine Metzgerei betrieben und wenn Kundinnen alleine Im Laden standen, eine Falltür betätigt, so dass die Frauen in den darunter befindlichen Keller fielen. Später habe er sie dort geschlachtet und das Fleisch in den Verkauf gebracht. Naja, man wisse ja ohnehin nicht, was man im Krieg alles für Fleisch gegessen habe, Dachhase und hahaha.Peter konnte danach nur mit großer Furcht an leerstehenden Läden vorübergehen. Immer glaubte er, dies könne die Metzgerei Haarmann gewesen sein. Natürlich war sie jetzt geschlossen und der Schlächter in Haft, aber niemand wollte in diesen Räumen je wieder ein Geschäft aufmachen. Als er Jahre später über den Fall las und erfuhr, dass Haarmann sein Unwesen dreihundert Kilometer von seinem Wohnort und dreißig Jahre vor seiner Geburt getrieben hatte und es den ominösen Metzgerladen nie gegeben hatte, fragte er sich, warum sie mit so geringer Kenntnis der Tatsachen in Angst und Schrecken versetzen mussten.
Am frühen Abend ging er also wieder zur Großtante. Diese hatte es sich in der guten Stube gemütlich gemacht. Einen Fernseher hatte Tante Hanne nicht. Stattdessen gab es ein Radio mit Stoffbespannung an der Frontseite und dem faszinierenden magischen Auge. Das kannte Peter schon vom ähnlichen Gerät seiner Eltern. Bei der Suche nach einem Sender mussten zwei entgegengesetzte Lichtbalken sich treffen oder sich überlappen - dann war der Sendeplatz ideal eingestellt. Auf dem Radio stand eine kleine aufwändig gearbeitete Schatulle aus Holz. Als Peter fragte, was das sei, musterte Tante Hanne ihn mit einem Blick, den er von den anderen Erwachsenen bereits kannte und den er den
“Wiesnasblick” getauft hatte, weil die Oma zum Beispiel immer mit dem Ausspruch begleitete, dass er eben eine Wiesnas wäre. Also jemand, der immer alles genau wissen wollte. Dennoch gab die Tante Auskunft, dass die Schatulle ein Schmuckkästchen wäre, das Gesellenstück ihres Bruders Peter, der Modellschreiner war. Peter kannte diesen Bruder nicht und Hanne sagte, dass er ihn auch nicht kennen könnte, weil er gefallen sei. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter den toten Sohn im Wohnzimmer aufgebahrt hatte. Die Urgroßmutter hatte noch zwei Söhne an den Krieg verloren, wovon aber nur dieser bestattet werden konnte, weil die beiden anderen nicht gefunden worden waren. Hanne sagte dazu verschollen. Auf dem Radio befand sich noch ein Bilderrahmen. Das Foto zeigte eine junge Frau, die Tante Hanne sehr ähnlich war. Aber Peter entschied, dass er für heute wiesnasig genug gewesen war und fragte nicht danach.
Die Stirnwand gegenüber dem Fenster wurde beherrscht von einer großen Wanduhr wie nan sie sonst in Büros oder Fabriken fand. Der Opa hatte ihm einmal erklärt, dass dies ein Regulator sei.Peter liebte so pompöse Wörter für scheinbar alltägliche Dinge. Aus dem Radio schwang die Stimme eines Sängers, der davon fantasierte, dass es etwas Wunderbares sein müsste, von jemandem anderen geliebt zu werden. Diese Art Musik hörte die Tante fast immer. Jetzt aber begaben sie sich in die Küche und Hanne bereitete das Abendbrot.Peter versprach sich Wunderdinge von den Kochkünsten der Tante, denn immerhin hatte sie nach Auskunft der Oma in der “Wilhelmshöhe” als Kaltmamsell gearbeitet. Die Wilhelmshöhe war ein Gasthof im Nobelviertel Kaiserberg, welches er nie von innen gesehen hatte und wahrscheinlich auch nie sehen würde. Er stellte sich aber vor, dass seine Großtante für die erlauchten Gäste Nachttischkreationen gezaubert hätte, die eine Fürstentafel hätten vor Neid erblassen lassen. Das Ergebnis ihrer Bemühungen am Herd fiel jedoch spartanischer aus. DIe Tante hatte eine Buttermilchsuppe mit Haferflocken gekocht und Peter, der warme Süßspeisen hasste, würgte sie mit Anstand hinunter.
“Da hässe nen gud Kushus gefunge,” schwärmte Tante Hanne auf Platt.
Er wollte sie nicht enttäuschen und nickte anerkennend, während er mittels des Hagebuttentees versuchte, den Geschmack warmer Milch aus seinem Mund zu vertreiben. Weitere Gesprächsthemen fanden sich nicht und so gingen sie bald zu Bett.
Der Morgen erwartete Peter mit einer weiteren Spezialität der Großtante. Schwarzbrot mit Quark und Apfelkraut. Damit er in der Schule nicht verhungern würde, hatte die Tante ihm noch zwei Scheiben dieser Köstlichkeit zurechtgemacht und eingepackt.Peter stellte sich vor, dass er unmöglich ein solches Pausenbrot in der Schule zum Vorschein bringen könnte. Er bedankte sich aber pflichtschuldig. Hanne hatte es bestimmt gut gemeint und wollte ihn eben mit dem Besten versorgen. Mit Blick auf den Regulator informierte er die Tante, dass er jetzt zum Bus müsse. Sie erklärte ihm aber, dass die Uhr vor ginge und er sich nicht zu hetzen brauchte. So eine Uhr fand Peter für sich ideal, weil er immer mit der Zeit knapp wurde. Die freundliche Uhr schaffte etwas Freiraum. Vielleicht würde er sich später auch einen Regulator mit Vorlauf zulegen.
Nach der Schule fand Peter sich zum Mittagessen bei der Oma ein. Seine Brüder und eine Schwester seiner Mutter waren schon dort. Der Opa kam wenig später von der Fabrik zur Mittagspause. Auch wenn die Oma nur wenige verschiedene Gerichte auf den Tisch brachte, mochte Peter das Meiste davon. Wenn er vorher wusste, was er geben würde, freute er sich manchmal sogar darauf. Heute gab es warmen Speckkartoffelsalat mit Frikadellen. Sehr lecker. Der Opa bekam natürlich zwei Frikadellen, alle anderen nur eine. Oma wieselte durch die Wohnküche und sah zu, dass alle versorgt waren. Tante Doris, die mittlere der Schwestern seiner Mutter, heiterte die Essenszeit mit Geschichten von ihrer Arbeit auf. Beim Spülen und Abtrocknen mussten die Kinder helfen. Dann setzte sich die Oma zu einer gemütlichen Tasse Kaffee und Opa ging wieder arbeiten.
Am Abend ging er mit der Großtante und Herta, der Schäferhündin, zum nahegelegenen Stadtwald. In ihrem beigefarbenen Popelinemantel und gekonnt frisierten Dutt hatte die Tante für Peter etwas sehr Würdiges. Die Hundeleine hing locker um ihren Kragen. Herta hatte das Training einer Polizeihundeführererin durchlaufen und folgte ohne Kommando. Fast magisch schienen Hund und Frau in gedanklicher Verbindung zu stehen. Er fühlte sich etwas an die Freifrau erinnert, die er auf Schloss Beck kennen gelernt hatte. Dazu passte für ihn auch, dass die Tante sich so gepflegt ausdrücken konnte. Einen Tag zuvor hatte sie auf die Frage der Bäckerin nach ihrem Alter gesagt, dass sie “schon zweimal die Sieben schreiben” würde. Er schaute gerne in ihr sanftes, gültiges Gesicht. Nur einmal hatte sie ihn scharf ermahnt, sich nicht über andere Leute aufzuhalten und ältere Menschen nicht als alt zu bezeichnen. “Da motze Dich jong hängen loate, da werse nich old” sagte sie. Allein, dass sie ins Platt verfiel, zeigte ihm ihren Unmut über sein Verhalten.
Nach dem Abendessen gingen sie zeitig zu Bett. Peter lag schon auf einer Seite des Doppelbettes, als Hanne aus dem Bad im Nachthemd hereinkam. Sie hatte die Frisur gelöst und die langen grauen Haare umrahmten ihr Gesicht. Einmal war sie auch ein junges Mädchen gewesen, dachte Peter auch in Hinblick auf die soeben erworbene Lektion. Das Licht wurde gelöscht. Wie sie sich im Dunkeln weiter unterhielten, entstand eine Vertrautheit, die Peter zu persönlichen Fragen ermutigte.
“Das Mädchen auf dem Foto im Wohnzimmer bist dass Du in jüngeren Jahren,” fragte er.
“Nein, das ist meine Irma,” antwortete sie.
Peter durchfuhr ein heftiger Schrecken und er bereute seinen Vorstoß sofort. Er kannte Irmas Geschichte, Hannes einziger Tochter. Bei einem Luftangriff war der Hauptbahnhof schwer getroffen worden. Irma arbeitete dort als Fahrstellenleiterin und war unter den Opfern gewesen.
“Denkst Du noch oft an sie?”
“Manchmal träume ich, sie kame zur Tür herein - Mama, Mama! Aber das kommt nicht mehr.”
Hanne sprach mit verhaltener Traurigkeit. Aber sie schien nicht mit ihrem Schicksal verbittert zu sein. Vielleicht war es diese Haltung, die Peter beeindruckte. Mit Schrecken erinnerte er sich, dass seine Mutter ihm noch mehr zur Geschichte ihrer Cousine erzählt hatte und dass die Tante davon nichts wusste. Er fühlte sich wie auf dünnem Eis. Er durfte jetzt mit keiner Silbe erkennen lassen, was er erfahren hatte.
Nach dem Luftschlag wurden alle Angehörigen verständigt, bei denen feststand, dass sich einer der Ihren unter den Opfern befand. Sie sollten ihre Kinder, Eltern oder Geschwister identifizieren. Onkel Johann war zum Bahnhof gefahren und hatte unter den unzähligen Leichenteilen den linken Arm seiner Tochter gefunden. Am Ringfinger steckte noch der Verlobungsring, den sie kürzlich bekommen hatte. Man hätte Textilkartons bereitgestellt, in denen die Körperteile gelegt werden sollten. Starr vor Kummer und Schmerz beschriftete Johann den Karton mit den Daten seiner geliebten Tochter. Zurück bei Johanna genügte ein Blick von ihm und seine Frau hatte die Gewissheit, dass ihr Kind tot war. Sie wollte sie sehen. Johann behauptete, dass es nicht möglich wäre, weil alle Toten bereits abtransportiert worden wären.
“Sah sie sehr schlimm aus,” fragte Hanne tonlos und tränenerstickt.
“Überhaupt nicht, sie lag dort, als würde sie schlafen.”
 

Anders Tell

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Meine erste Bewertung. Ich bin wie erlöst. Ich glaubte schon, dass niemand meine Texte mag und dass wäre schrecklich gewesen. Gerade dieser hier liegt mir am Herzen.
 



 
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