Alter Narr

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LexLehman

Mitglied
Die Jahre der großen Taten sind für Walther längst vorbei. Der Lebensabend ist entschleunigt, Pflichten reduzieren sich auf ein Minimum. Als Rentner lebt er in den Tag hinein und versucht so gut es geht gesund zu bleiben.
Die Beine sind müde, in die Jahre gekommen. Aber der Kopf ist noch frisch und jung. Geruhsam sitzt Walther in seinem Ledersessel und liest. Bücher regen seine Fantasie an und schaffen klare Bilder vor seinen trüben Augen. Alle paar Seiten klappt er das Buch kurz zu und denkt nach. Die Brille lässt er dabei an der dunkelroten Kordel auf seiner Brust hängen. Er wischt sich die Augen, sinniert über Vergangenes und starrt dabei aus dem Fenster. Das nasse, braune Laub tanzt mit dem Wind um die Bäume.
In seinen 87 Jahren hat er viel erlebt. Sogar mehr als die meisten anderen seines Alters im Wohnheim.
Er denkt häufig an die goldenen Zeiten, die schönen Jahre. An seine schon lange verstorbene Ehefrau Daisy, die ihm nicht nur ein wunderschönes Leben, sondern auch drei Kinder und sieben Enkel beschert hat. Es vergeht kein Tag, an dem Walther nicht vor dem gerahmten Foto auf dem Sekretär stehen bleibt und seiner Frau zulächelt.
Die vielen schönen Jahre, die sie gemeinsam hatten, werden allerdings durch die Erinnerung an eine beschwerlichere Zeit getrübt. Am Anfang, als sie sich kennenlernten, wusste niemand, ob sie sich je wieder sehen würden. Mit 20 Jahren wurde Walther eingezogen und musste im Krieg gegen die Deutschen kämpfen. Sein Einsatz dauerte drei Jahre, dann war der Krieg vorbei. Das letzte halbe Jahr verbrachte er verletzt in einem Krankenhaus in Südengland, bevor er nach Hause konnte. Dort lernte er George kennen, einen Piloten der Royal Air-Force. Die beiden entwickelten eine tiefe Freundschaft, die noch viele Jahre nach dem Krieg andauerte.
Doch irgendwann stritten sich die beiden wegen eines Investments. Walther sagte zu George, dass er ihn nie wieder sehen wollte und den Tag bereut, an dem er ihn kennengelernt hatte.

So vergingen 27 Jahre.

„‘N guten Piloten hätten sie niemals gekriegt.“ Flucht Walther und gießt sich ein kleines Gläschen Kräuterlikör ein.
Wie jedes Jahr am 28. Juli erhebt er das Glas auf George und trinkt auf sein Wohl. Das tut er auch an Daisys Geburtstag und zu seinem eigenen.
„Kümmerst dich bestimmt noch immer um deine Hühnerfarm, alter Zausig!“ Schimpft er und leert das Glas.
Natürlich würde er zu gerne wissen, was George heute treibt und wie es ihm geht. Zwar hat er ihm nie verziehen, aber den genauen Grund des Streits weiß er auch nicht mehr.
Aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks zieht er eine alte Keksdose aus Blech.
„Jesus! Verdammtes Kreuz!“ Flucht er, als er sich wieder aufrichtet.
Zurück ins Wohnzimmer geschlürft lässt er sich in den Sessel fallen und atmet durch.
Die Kiste ist randvoll mit Fotos und Ansichtskarten. In die Jahre gekommenes Zeug, brüchig, vergilbt. Walther geht die Fotos einzeln durch, nimmt jedes in die Hand und schwelgt in Nostalgie.
Es sind Farbfotos seiner Kinder und Enkel bis hin zu schwarz-weiß Fotos aus alten Tagen. Er atmet den Staub aus längst vergangenen Zeiten, riecht den Geruch vergessen geglaubter Momente. Ein Foto schaut er besonders intensiv an. Es zeigt George und ihn, damals, auf einer Parkbank vor dem Netley Hospital. Die Graustufen des Bildes erzeugen eine eigenartige Reminiszenz, als ob es damals keine Farben gegeben hätte. Der längliche Knick skizziert den Bruch der alten Freundschaft auf eine besonders charakteristische Art.
Walther legt es auf die Seite und sucht weitere Bilder mit George heraus. Das monotone Ticken der alten Wanduhr treibt ihn an wie einst Trommelschläge einen Galeerensklaven. Nach Stunden des Betrachtens und Sortierens hält er vierzehn alte Momentaufnahmen in den Händen. Zu jedem Bild fallen ihm Geschichten ein und er erinnert sich, als wären sie erst gestern geschehen.
Er setzt sich an die alte Schreibmaschine, prüft die Schreibwalze und bewegt vorsichtig den Farbbandhebel. Die alte Lady hat mindestens so viele Jahre auf dem Buckel wie die Fotos. Walther nimmt einen Bogen Papier aus der Schublade und beginnt zu schreiben. Der Brief endet mit den Worten „du alter Narr, es tut mir leid. -W.“
Sorgsam liest er den Brief noch einmal durch, schaut sich die Fotos dazu an und verpackt alles in einem großen braunen Umschlag. Mit dem Füller schreibt er die Adresse auf das Couvert, die er in seinem alten kleinen Adressbuch gefunden hat. Ob sie noch aktuell ist wird sich zeigen.
Wochen vergehen. Walther denkt schon kaum noch an den Brief aber verflucht ihn, wenn er es tut.
An einem Samstagmittag klingelt es plötzlich. Es muss jemand aus der Familie sein, denn sonst bekommt er im Wohnheim von niemandem Besuch. Er öffnet die Tür und erblickt eine junge Frau.
Der Herbstwind hat ihr die Haare zerfurcht. Sie schaut ihn mit einem ernsten Lächeln an.
„Sind Sie Walther Wilson?“
Überrascht starrt er sie an, aber erkennt die feinen Gesichtszüge.
„Und sie müssen eine Armstrong sein.“ Sagte er mit fester Stimme.
„Das war ich, heute bin ich eine Brown, Silvia Brown.“
Sein Blick wird ernster und er mustert sie von Kopf bis Fuß.
„Nun; Was hat der alte Narr zu sagen?“
Sie greift in ihre Handtasche und holt das verknitterte, braune Couvert raus, welches Walther vor zig Wochen verschickt hat.
Es wurde nie geöffnet.
„Ich weiß nicht, was er zu sagen hätte, aber ich soll Ihnen das hier geben.“ Sie holt einen weißen Briefumschlag heraus und gibt ihm beide. Walther setzt seine Brille auf und nimmt die Briefe in Augenschein.
„Für den Fall, dass Sie sich jemals melden, sollten Sie diesen Brief bekommen. Das hat er vor Jahren schon so verfügt.“
„Verfügt?“ Fragt er ungläubig.
„Er liegt im North Devon Hospiz. Fortgeschrittene Demenz. Wirklich schlimm.“
Walther kann seinen Blick nicht von den zwei Umschlägen lösen, aber als er es tut, läuft die junge Dame schon über den Hof zu ihrem Wagen. Er blickt ihr hinterher bis sie wegfährt, dann schließt er die Tür und geht zu seinem Sekretär.
Als erstes öffnet er den Brief, den er selbst verschickt hat. Der Inhalt ist unangetastet und wurde außer von Walther selbst von niemandem gesehen. Er öffnet die mittlere Glastür und bedient sich am Kräuterlikör, während er die Fotos erneut begutachtet.
In zwei Zügen leert er das kleine Gläschen und öffnet mit nervösen Händen den weißen Umschlag.
27 lange Jahre hat er nichts mehr von George gehört. Walther hatte sich all die Jahre gefragt, ob er nachgeben und den Kontakt wieder herstellen sollte. Doch er tat es nicht, obwohl er schon lange nicht mehr wirklich böse auf ihn war. Er liest den Brief seines einst besten Freundes wieder und wieder.

Am nächsten Tag, neun Uhr in der Früh, wickelt Walther seinen Schal um den Hals. Er streift sich den warmen Mantel über und setzt seine Schiebermütze auf. Die ledernen Handschuhe machen den Schutz gegen die herbstliche Witterung komplett.
Er steigt in das Taxi, das er noch am Vorabend bestellt hat. Es fährt los in Richtung North Devon und hinterlässt eine nasse Spur auf dem kalten Laub.


„George Armstrong bitte. Wo finde ich ihn?“, fragt Walther an der Pforte. Die junge Schwester beginnt wortlos den Computer zu befragen.
„Mr Armstrong liegt in Zimmer B-19.“
„Und wo verflucht ist das??“
„Haus B, Zimmer 19.“, sagt sie entrüstet und zeigt durch die große Fensterfront auf das Nebengebäude.

Als Walther das Zimmer betreten will, kommt gerade ein Pfleger hinaus und schmeißt einen Strauß welker Blumen in den Müll neben der Tür.
Sie grüßen sich. Walther holt unauffällig den Strauß aus dem Müll und richtet ihn notdürftig her. Dann geht er hinein.

In dem fast schon opulenten Zimmer steht ein großes metallenes Bett, Blickrichtung aus dem Fenster, in den Park.
Darin liegt eine fahle Gestalt, eingefallen, hautüberzogene Knochen. Es riecht nach Sterillium und muffiger Bettwäsche. Ein EKG zeigt stummgeschaltet den Rhythmus seiner letzten Reise, die wohl bald irgendwann enden wird.
Walther setzt sich langsam auf den Hocker, der neben dem Bett steht und nimmt die Hand der Gestalt. Die alten Blumen legt er auf den Nachttisch. Ob es George ist, kann er nicht genau sagen, denn von seinem einstmals besten Freund ist nur ein zugedeckter Haufen Reisig geblieben.
„Damals, kurz nach dieser Sache da… Du hast diesen Brief geschrieben. Warum hast du ihn mir nie gegeben?“ Er drückt seine Hand und George reagiert. Er dreht langsam den Kopf und schaut Walther an.
„27 verfluchte Jahre… Das hätte nicht sein müssen. Ein Drittel! Wir haben ein Drittel unseres Lebens vergeudet…“
George beginnt mit seinen trockenen Lippen zu schmatzen.
„Wer… sind… Sie?“, presst er unter Anstrengung hinaus.
Walther holt das gefaltete Couvert aus seiner Mantel-Innentasche und hält George die alten Fotos vor die Brust. George betrachtet das erste Foto intensiv, ohne es zu greifen.
„Erinnere dich, alter Narr!“, fordert Walther und zeigt ein anderes Foto. George starrt, als würde er durch die Bilder hindurchsehen.
„Weißt du nicht, wer ich bin? Walther! Walther Wilson! Damals, Netley Hospital ‘44, die hatten dich abgeschossen.“ Er lacht.
„Haben dich vom Himmel geholt, die Mistschweine. Bist wie ein Engel vom Himmel gefallen…“. Sein Lachen wird trüb und nachdenklich.
„Naja, bald bist du ja wieder oben.“ Er nimmt die Fotos und legt sie sorgfältig in George’s Hand.
Walther steht auf und geht zum Fußende des Bettes. George’s Blick folgt ihm.
„Du sollst nur wissen, dass du mal einen besten Freund hattest. Im Krieg habt ihr euch kennengelernt, und im Krieg seid ihr auseinander gegangen. Dafür entschuldige ich mich.“


Mit traurig-ernster Miene schaut er George an. George schaut nur paralysiert zurück, so als würde er durch Walther durchschauen.
„Leb wohl, alter Freund. Man sieht sich.“
Er klopft ihm zwei Mal aufs Fußende und geht Richtung Ausgang.
Sein Herz ist schwer, seine Augen nass.

„Alter Narr!“-hört er, kurz bevor er den Raum verlässt.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber LexLehmann,

eine rührende Geschichte - schön geschrieben.

Ich frage mich nur, warum wir nicht erfahren, was in dem zweiten Kuvert war.
Das wäre nur überflüssig, wenn es bei dem Besuch ein Erkennen gäbe, aber das ist ja gerade nur angedeutet.

Dann habe ich nur noch eine Anmerkung zur Räumlichkeit. Er lebt in einem Altenheim - aber er geht zurück ins 'Wohnzimmer'. Hat er also eine Wohnung innerhalb des Heim, ist er also nicht arm - das sind so Sachen, die als Subtext die Geschichte flankieren.

Liebe Grüße
Petra
 

LexLehman

Mitglied
Hi Petra
Vielen Dank für das Feedback!
Ich dachte mir, jede gute Nachricht, die Walther dazu bewegt seinen Freund doch noch aufzusuchen, ist gut genug für die eigene Vorstellung. :)
Das Altenheim bzw die Wohnung darin habe ich so beschrieben, wie ich es bei meiner Großmutter gesehen hab. Das waren ca 40qm mit zwei Zimmern, aber viel Wohlstand gab es bei ihr nicht. Wie das natürlich heutzutage ist, kann ich nicht sagen...

Liebe Grüße und einen angenehmen Tag! :)
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo :)

ehrlich gesagt, ich habe mir beim Lesen nicht gemerkt, wer denn nun für die lange Funkstille verantwortlich war bzw. habe ich das so verstanden, dass es der andere war ... ich hab es nicht überprüft; dem Leser ist die Geschichte nicht so vertraut wie Dir ... und am Anfang weiß man ja nicht, wo die Reise hingeht.

Nein, ich stimme Dir nicht zu, dass man das der Vorstellungskraft des Lesers überlassen kann, sondern das gehört (für mich) zum dramatischen Tableau und damit in die Verantwortung des Autors.
Vielleicht sehen das ja unsere Mitleser anders :)

Liebe Grüße
Petra
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Klasse Geschichte!

Ich finde es gut, dass sich der Leser selbst etwas zusammenreimen kann/soll, was in dem Brief steht. Den hat George ja verfasst, bevor seine Demenz eingesetzt hat.

Vermutlich hat er sich entschuldigt und um einen Besuch rechtzeitig vor seinem Tod gebeten ... oder so ähnlich.

Gerne empfohlen!

Gruß DS
 

LexLehman

Mitglied
Klasse Geschichte!

Ich finde es gut, dass sich der Leser selbst etwas zusammenreimen kann/soll, was in dem Brief steht. Den hat George ja verfasst, bevor seine Demenz eingesetzt hat.

Vermutlich hat er sich entschuldigt und um einen Besuch rechtzeitig vor seinem Tod gebeten ... oder so ähnlich.

Gerne empfohlen!

Gruß DS
Vielen Dank dafür! :)
 



 
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