Altlast

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rubber sole

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Am Ende der Straße steht ein Haus am Park. Ein solider Bau. Vermutlich aus den Dreißigerjahren. Das Anwesen wirkt verlassen. Nicht ungepflegt. So der erste Eindruck des Wohnungsauflösers. Er geht von einem guten Geschäft aus. Die Auftraggeber wirkten generös. Ein Künstlerehepaar aus Berlin. Die Immobilie soll auf dem Markt angeboten werden. An der Inneneinrichtung sind sie nicht interessiert. Zu piefig das Ganze. Darüber könne er nach Gutdünken verfügen. Und überhaupt. Zu dem Verstorbenen kein persönlicher Kontakt. Großonkel ohne weitere Familienanbindung.

Und der Entrümpeler macht sich an die Arbeit. Zuerst sondieren. Er entdeckt nichts Hochkarätiges an Mobiliar. Durchschnittliche Flohmarktware. Oder Ebay. Eine knappe Woche Arbeit. Dann ist alles besenrein. Nach Abnahme gibt es das Honorar. Er ist zufrieden. Ganz zum Schluss noch ein Fund. Unerwartet. Einige verstaubte Kartons. Inhalt: die kompletten Jahrgänge der Groschenhefte Der Landser. 1957 – 2013. Solange gab es diesen Schund? Egal. Käufer werden sich auch dafür finden. Ewiggestrige sterben nicht aus. Er blättert oberflächlich durch die Hefte. Fürchterliches Machwerk. Heroisierung der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Kampfesmut. Blut. Treue. Kameradschaft. Falscher Pathos tropft aus den Heften. Manche kriegen anscheinend nie genug davon.

Dann noch ein Hefter. So einer mit farbigem Pappdeckel. Von Leitz. Inhalt akkurat sortiert. Kontoauszüge von 1958 bis heute. Überweisungen für Buchtantiemen. Generiert aus Dauerüberweisung. Für Schundhefte? Nicht vorstellbar in dieser Größenordnung. Er notiert Namen des Auftraggebers. Referenzname nicht identisch mit dem des Verstorbenen. Trotzdem. Das geht an die Familie.

Auf dem Weg zum Transporter ein Gespräch. Mit einem Nachbarn. Schade um den alten Herren. War immer nett. Auch großzügig mit Spenden. Regelmäßig an soziale Einrichtungen der Gemeinde. Vorher der Wohlstand käme? Weiß hier niemand. Man munkelt von früheren Ostgeschäften. Kaviar? Pelze? Ikonenmalerei? Egal. Die Spenden werden nun wohl ausbleiben. Später recherchiert der Auflöser. Googelt den Referenznamen der Überweisungen. Eine Überraschung. Ein Pseudonym für einen Romanautoren. Bestsellerautor. Noch heute viel gelesen. Vermutlich von Ewiggestrigen. Ideologie ähnlich wie in Der Landser. Und dann der Clou. Der Autor war unter Klarnamen bekannter Schriftsteller im Dritten Reich. Mitglied der NS-Reichsschriftumskammer unter Joseph Goebbels.
 

lietzensee

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Hallo Rubber Sole,
bei diesem Text finde ich die Spannungskurve etwas flach. Grob gesagt, würde ich Absatz 2 und Absatz 3 tauschen. Dann erfährt der Leser zuerst von den hohen Überweisungen und kann rätseln. Danach bekommt er mit den Landserheften aus dem zweiten Absatz einen ersten Wink.

Der Autor war unter Klarnamen bekannter Schriftsteller im Dritten Reich. Mitglied der NS-Reichsschriftumskammer unter Joseph Goebbels.
Als Ende finde ich das schlecht an die vorherige Handlung angebunden. Mit den mysteriösen Überweisungen im Leizordner hat es jedenfalls nicht zu tun. Um diesen Clou zu finden, musste der Entrümpler nur den von Anfang an bekannten Klarnamen googeln.

Es ist eher ein schwammiges Gefühl, aber auch die Psychologie des Entrümplers könnte man auch noch feiner ausarbeiten. Treibt ihn nur allgemeine Neugier zu seiner Recherche?

Geschrieben finde ich den Text gut. Er liest sich flüssig und man kann dem Erzählten mühelos folgen. Ich mag auch das Abgehackte. Das gibt ihm Charakter. Zwei Kleinigkeiten:

Er blättert oberflächlich durch die Hefte. Fürchterliches Machwerk. Heroisierung der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Kampfesmut. Blut. Treue. Kameradschaft. Falscher Pathos tropft aus den Heften. Manche kriegen anscheinend nie genug davon.
Das klingt recht allgemein. Ich finde, hier könnte man pointierter schreiben. Vielleicht kurz ein Titelbild beschreiben, oder ein Zitat, das den falschen Pathos offensichtlich macht.


Eine Überraschung.
Und dann der Clou.
Ich denke, das kann man weg lassen. Als Leser will man selber erkennen, dass eine Wendung im Plot eine Überraschung oder ein Clou ist.


Viele Grüße
lietzensee
 
Zuletzt bearbeitet:

rubber sole

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Hallo lietzensee,

auch in kurzen Texten können sich 'dramaturgische' Stolperfallen für den Verfasser verbergen. So hätte diese Geschichte tatsächlich auch anders aufgebaut sein können, in manchen Details vertieft werden. Die Figur des Entrümplers für mich eher nicht, sie ist mir jedoch etwas 'verrutscht'; dieser sollte ein rein objektives Vehikel sein. Nun kommen Werturteile von ihm, die die Leser sich eigentlich ungestützt aus eigenem Antrieb hätten bilden sollen. Danke für dein Interesse an meiner Geschichte.

Gruß von rubber sole.
 

wiesner

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Nö, ich habe an der struktuellen und thematischen Vorwärtsbewegung des Textes nichts auszusetzen, alles liest sich stimmig und auf gleichbleibendem Niveau. Ein Abflachen der Spannungskurve erkenne ich nicht. Dann und wann hätten Sätze etwas länger ausfallen können, nun gut, das scheint mir aber nicht besonders dringlich.
Danke, rubber sole, für diesen Text, mit dem Du erneut Deine Prosakunst unter Beweis stellen konntest.

Gruß
Béla
 

lietzensee

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Hallo rubber sole,
das ist ein interessanter Text und ich beschäftige mich gerne damit.

dieser sollte ein rein objektives Vehikel sein. Nun kommen Werturteile von ihm
Ich denke ich verstehe, was du meinst. Aber du erzählst direkt aus der Innenperspektive des Entrümplers. Wir sehen die Welt durch seine Augen. Ein "rein objektives Vehikel" wird er darum kaum sein können. Bzw, wenn er es wäre, dann hättest du einen Zombi als Protagonisten. Ich denke, es steckt schon irgendwie in dem Text drin, dass es für ihn ein Job von vielen ist, ein kurzes Innehalten im Alltagsgeschäft. Das kann ja auch eine interessante Perspektive sein. Man müsste sie nur einen Tick klarer machen.

Natürlich ist das alles nur meine Einschätzung. Picke dir raus, was hilfreich scheint. Du hast ja schon Feedback bekommen, dass wiesner die Dinge anders sieht.

Apropos anders sehen, für mich hat der Text durchaus alles, was eine Kurzgeschichte ausmacht.

Viele Grüße
lietzensee
 

rubber sole

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@wiesner:

hallo Béla,
diese Geschichte folgt dem Stil anderer Geschichten - in kurzen Sätzen verfasst und mit der Absicht, das Erzählte nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Ob dies für alle Leser immer plausibel ist, erfahre ich ja erst hinterher. Freut mich, dass dir meine Geschichten gefallen; mehr kann ein Autor nicht erwarten. Danke für Prosakunst.
Gruß von rubber sole
 



 
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