Altringelstein

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Tief im Walde hinterm Altenstein nach Wilhelmsthal zu, schreibt Ludwig Bechstein, der spätromantische Meininger Bibliothekar, 1853 in seinem Deutschen Sagenbuch, tief im Walde hinterm Altenstein nach Wilhelmsthal zu lagen vordessen zwei Burgen, genannt Alt- und Neuringelstein, von denen sieht man nur noch ihre Stätten, aber Sagen hört man viele von ihnen, wie überhaupt dieser ganze Gau überreich an Sagen ist. Raubritter hausten dort, nächst der sogenannten Weinstraße, die noch heute diesen Namen führt und der alte Weg war, der vom Thüringer Walde niederwärts nach Franken und Buchonien sich lenkte. Diese Raubritter also sind es, die mich mein Märchen erzählen lassen. Ein nüchternes, sachliches, gänzlich unromantisches Märchen. Kein Kunstmärchen, mein lieber Amadeus Hoffmann, nur so ein Märchen für ein Glas Rotwein auf der Terrasse eines Restaurants, das Zum Seeblick heißt und am Altenberger See liegt. Am Abend nach einem Wandertag. Es ist der Wein, von dem erzählt werden muß. Es sind die Fragmente der überlieferten Sagen, die das Märchen konstituieren. Die Geschichte ist fantastisch. Sie hat die Dimension der letzten Dinge. - An die Arbeit.
[ 7]Da, wo sich einst der Altringelstein erhob, läuft eine alte Straße zwischen zwei mittelgroßen Felsblöcken hindurch, und an einen Baum geschlagen, weist ein Schild nur den Wanderer auf die Vergangenheit hin: Rongalstein. Im elften Jahrhundert ein Sperrfort für die alte Heeresstraße, im dreizehnten Jahrhundert als Raubritterburg zerstört. Dort liegt er noch in den unterirdischen Höhlenwölbungen aufgeschichtet. Da die Ritter der Weinstraße so nahe wohnten, so bestand auch die Mehrzahl ihres Raubgutes aus Wein, und sie haben, so viel sie tranken, denselben doch nicht alle trinken können. - Der blinde Mann Ludwig Wucke hat 1864 die Sagen der mittleren Werra erzählt, nachdem er, öfters ohne
Führer und Gefährt, sein Gebiet durchzog und bei Greisen, Hirten, Waldhütern und Kräuterweibern Gesellschaft suchte. Was er wußte, wußte er aus den Schenken. Und also war es einmal, daß ein unterirdischer Gang zum Altringelstein führte, der die Ritter vor dem Zugriff des Gesetzes schützte, sie unsichtbar machte, wenn sie verfolgt wurden. Dieser unterirdische Gang kam ihnen zupaß, als sie einer ihrer Raubzüge nach Salzungen führte. Dort war eine Bürgerstochter zu Hause, deren Namen im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet. Sie mag Sabrina geheißen haben. Dem damaligen Ritter von Ringelstein war sie des öfteren ins Auge gefallen, wenn er stolz und hoch zu Roß durch das Städtchen ritt. Da sann er auf ihre Entführung. Das Werk war eines Sonntags ohne Umstände rasch vollbracht. Im Dunkel des Gesteins verschwanden sie. Wie wäre es anders zu denken - dem Mädchen gefiel es nicht in der Räuberherberge. Doch sie stellte sich so, als gefiele es ihr. Was blieb ihr übrig. Sie mußte den Ritter täuschen. Denn sie plante ihre Flucht. Und durfte doch nicht den geringsten Verdacht aufkommen lassen.
[ 7]Ohne Argwohn nahm sie der Hauptmann eines Tages auf ihre Bitte hin mit auf einen Ritt über den Streifling. Vergessen war die List am Tag ihrer Entführung: als sie aus Salzungen fortgebracht worden war, als nach Stunden auf dem gleichen Stück Weg sich die Hufe der Pferde jeden Fährtenleser täuschend in den festen Sand drückten, denn man hatte die Eisen verkehrt aufgeschlagen, den Ort der Schandtat zum Ziel des Ritts ummünzend. So blieb die torlose Burg frei von Verdacht. Doch inzwischen war ein Jahr ins Land gegangen und keinem der Ritter kam der Gedanke, daß da ein Mädchen zu einer großen List fähig sei. Doch gab sie plötzlich ihrem Pferde die Sporen und querte einen Brunnengraben. Der Bach fließt heute noch und heißt seit jener Zeit Brautborn. Sabrina, wie wir das Mädchen nennen wollten, wandte ihr Roß hinab nach Salzungen, reitend auf Tod und Leben. Die Räuber jagten ihr nach, allen voran der Anführer.
[ 7]Er jagte seinem Ende entgegen. Denn er erreichte sie erst, als sie eben in den Hof ihres Elternhauses sprengen wollte. Wütend und gedemütigt verlor er die Kontrolle über sich. Mit einem kräftigen Schwertstreich gedachte er sie zu töten. Der Mann, den ein Weib genarrt hatte. Er, ein Räuberhauptmann! Die Klinge seines Schwerts fuhr in das Gebälk der Haustür und zersprang. Nun war er wehrlos. Da ward er ergriffen und hingerichtet.
[ 7]Von diesem Augenblick an lastete ein Fluch auf den Mauern des Ringelsteins. Was auch heißt: Von dieser Stunde an hauste eine schöne gespenstische Jungfrau auf dem Altringelstein. Da nur die Erscheinung blieb. Das wirkliche Leben war weitergegangen. Die Eltern hatten ihr Kind zurückgewonnen, ihr Kind, das sich so gut aufs Springen verstand, daß es niemals wieder vergaß, wie ein Mensch seinen Peinigern zu entkommen vermag. Der Vater, Peter, der ein wenig ausschaute wie ein verwegener Haiduk, und die Mutter, seine Gemahlin Annett, waren froh, daß sich alles so ergeben hatte. Ihre Liebe zueinander, die am Anfang nicht frei vom Gift der Gefährdung blieb, wuchs - und Sabrina bekam ein Brüderchen. Christopher sollte einst die Last eines Christus auf seinen Schultern tragen. Aber der armselige Geist einer weißen Jungfrau würde für immer in den steinigen Kammern der Raubritterburg umgehn. Auch dann noch, als sich der Haiduk längst ausweglos den Fängen weitaus gemeinerer Halunken, als es die alten Räuber waren, ausgesetzt sah, Halunken der modernen Zeit, die ihn versklaven konnten mit der Macht ihres bürgerlichen Geldes, daß er sein Lebtag Beton auf großen Karren durch das Land fahren mußte, mit dem es zur Wüste gemacht werden sollte, auch dann noch, als seine Gemahlin Annett in einer Fabrik für einen Hungerlohn den Reichtum einer lächerlichen Zukunft anzuhäufen sich anschickte. Der Geist der armseligen weißen Jungfrau ging um, und es würde Jahrtausende dauern, bis eine listige Sabrina und ein hilfreicher Christophorus kämen mit der Macht der alten Märchen, um die Welt wieder zusammenzufügen in ihrer guten Gestalt. So lange würde sich auf dem Ringelstein alle sieben Jahre eine schöne Jungfrau mit einem Schlüsselbund zeigen, eine Jungfrau, die auf Erlösung harrt. - Und siehe, als eines Tages, an dem es anfangs regnen wollte, ein paar Schüler auf ihrer Wanderung auf entlegenen Pfaden an diesem Ort vorbeikamen, hatte sie wieder ihr Tuch über den Waldboden gebreitet, darauf sie Flachsknotten klengte. Und der alte Eichel aus Waldfisch, von dem schon Wucke berichtete, erschien ihnen als Lehrer und erzählte seine trunkene Geschichte.
[ 7]Und in den unterirdischen Höhlenwölbungen lag der Wein aufgeschichtet wie ehedem. - Die Dauben der Fässer sind längst verfault, und die eisernen Reife hat der Rost zernagt, aber der Weinstein hat das edle Naß mit einer Kristallhaut rings umkleidet. Doch einst, wenn die zweite große Sündflut über der Menschen sündiges Geschlecht hereingebrochen sein wird und der Herr kommen wird in den Schrecken des Jüngsten Gerichts, zu richten die Lebendigen und die Toten, da werden diese Höhlen sich auftun und die Fässer sich öffnen, und der Herr in seiner Herrlichkeit wird sein großes Versöhnungsmahl halten und die Frommen und Gerechten mit diesem Wein tränken zum Zeichen des ewigen Lebens. - Oder war es keine Kristallhaut, wie Bechstein es berichtet, sondern war es eine steinerne Haut, wie sie der blinde Wanderer Wucke sah?
[ 7]Vorerst kam die Zeit einer anderen großen Schlacht. Die Zeit der Geisterschlacht. Darüber wußte auch der alte Dichter der Ruhl Bescheid, Ludwig Storch, der die Merkwürdigkeiten von Thüringen in Sondershausen zu Gehör brachte. Denn hinterm Altenstein auch, nach Waldfisch zu, kommt man zu den Kroatengräbern. Oder müßte es nicht doch Krötengräbern heißen? - Der Dreißigjährige Krieg hatte seine Nacht über Deutschland gehängt. Die Kaiserlichen und die Schweden massakrierten einander. In einem dieser Jahre also lagerten kaiserliche Völker in den Wäldern südlich des Altringelsteins. Die hat man die Kroaten geheißen. Sie hatten ihr Lager aufgeschlagen und sich verschanzt. Die Schanzen sind noch heutigen Tags zu sehen. Doch als die Schweden in die Gegend kamen, griffen die Kroaten an und lieferten ihnen eine gehörige Schlacht. Eine Schlacht, in der viele Menschen dort blieben. Sie liegen also begraben. Aber seit jenen grausamen Metzeleien ist es nicht mehr nur die gespenstische Jungfrau, die alle sieben Jahre zum Vorschein kommt. An dem Tag, an dem die Schlacht vorgefallen ist, wenn es am Abend elf schlägt, da wachen die Soldaten, die dort beerdigt liegen, wieder auf, und die Tamboure fangen an zu trommeln, und die Trompeter nehmen die Trompeten und fangen an zu blasen, und die Reiter setzen
sich auf ihre Reitergäule, und die Musketiere nehmen ihre Flinten und ihre Spieße oder was sie dazumal hatten. Und da stellen sie sich in Schlachtordnung einander gegenüber und marschieren aufeinander los und schießen und hauen und techen übereinander, bis es eins schlägt; da versinken sie alle miteinander wieder im Erdboden, die Reitergäule und die Reiter, die Musketiere und die Tamboure und die Trompeter. Und hernach liegen sie wieder ruhig und friedlich nächst einander im Erdboden, bis nach sieben Jahren auf den Tag genau die Nacht wieder elf schlägt. - Und das wird so lange so weiter dauern, bis sich die verwünschten Keller des Ringelsteins auftun und Päpstliche und Lutherische gemeinsam das Abendmahl mit Ringelsteiner Wein genießen.
[ 7]Eines Tages, es waren inzwischen dreimal hundert Jahre vergangen, gelangten Kinder zum Altringelstein. Sie waren weit gegangen, und die Walpurgisnacht wurde von einem großen Vollmond und einem unbekannten roten Planeten erhellt, als sie ankamen. Da sahen sie wunderschöne weiße Lilien auf den Waldwiesen blühen, seltsame Tulipanen und Tausende von sonnengelben Schlüsselblumen. Sie ahnten, daß seien die Wunderblumen, die sie zum Schatz führen würden. Sie wußten, daß sie die Mahnung nicht überhören durften: Vergiß das Beste nicht. Sie wollten es wahrlich nicht vergessen. Unzählige kleine Kröten hatten ihren Weg gequert. Aber was war das Beste? Als sich die gespenstische Jungfrau zeigte, die hier seit uralten Tagen nun ihre Wohnung hatte, als sie ihren
Teppich ausbreitete, als sich die Erde auftat, leicht angerührt mit den Schlüsselblumen in den Händen der Kinder, wußten sie es nicht.
[ 7]So auch war es dem Mädchen aus Steinbach widerfahren, das einst den Schatz des Klosters an der Wallfahrt, bei der Wüstung Glasbach, gesehn hatte, als es beim Heumachen eingeschlafen war und dann plötzlich erwachte, an jenem Tag, da sie den Magister Jan Hus aus Böhmen auf dem Scheiterhaufen verbrannten: kostbare Teller, Schüsseln und Kannen von Silber und Gold, bewacht von einer Nonne, die einen Schlüsselbund trug. Da aber das Mädchen einen Schreckensschrei ausstieß, verschwand die Herrlichkeit. Einmal hatte sie den jungen Wein der Liebe getrunken, an einem heiligen Abend, und seither verschmähte sie das Glück und die Erlösung durch den, der ihre Seele liebte.
[ 7]Und nun passen Sie auf, sagte der alte Eichel von Waldfisch, jetzt kommts! Wenn unser gnädigster Landesherr dort oben auf dem alten Schlosse einmal offene Tafel hielte und ein volles Glas auf die Gesundheit der alten Ringelsteiner tränke, so wären sie samt und sonders erlöst. Dann käme das schöne Fräulein, überreichte dem Herrn die Schlüssel zu all den Schätzen und zu dem kostbaren Wein, und alles wäre sein. - Er hatte die alten faltigen Augen einer Schildkröte und lief um den fremden See.

(6.7.1997)
 



 
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