a.lipschitz
Mitglied
Am Abgrund
In dem kleinen Aufenthaltsraum der Notrufzentrale im Colonia Benito Juárez ist gerade der zweite von insgesamt drei Deckenventilatoren ausgefallen. Rafael, der 24-jährige Rettungssanitäter, registriert es mit mexikanischem Gleichmut und der vagen Aussicht auf den bevorstehenden Feierabend. Die 10-Stunden-Schicht verlief bislang ohne besondere Vorkommnisse; nur zwei Verkehrsunfälle am frühen Morgen, aber mindestens zwei Dutzend Fälle von Hitzeopfern, meist alte Leute aus den ärmeren Vierteln, in Wohnungen ohne Klimaanlagen und ohne Ventilatoren; ein paar Infusionen, einige, bei denen es nichts half, transportierten sie ins Hospital Niños Heroes.
Seine Armbanduhr zeigt 15:42 Uhr. Um vier übernimmt die Spätschicht und es wäre für heute geschafft, wenn jetzt nichts mehr kommt. Aber er sitzt schon seit 10 Minuten hier und das ist länger als alle anderen Pausen am heutigen Tag. Noch weitere 18 Minuten ohne einen Zwischenfall wären fast ein Wunder bei über 35 Grad Hitze und der wieder einmal bedrückend dichten Smogglocke dort draußen über Mexico City. Wann war der Himmel zuletzt blau und die Luft klar? Dazu diese außergewöhnliche Hitzewelle. Seit über einer Woche schon lagen die Temperaturen über 30 Grad und sie stiegen von Tag zu Tag weiter an. Die Stadt liegt krank und sie macht krank. Sie pulsiert in der Schwüle wie ein Fieber, das beständig ansteigt. Sie schlägt wie ein einziges großes todbringendes Herz, einem finalen Kollaps entgegen.
Er greift nach einer Wasserflasche, die fast leer ist, und hört in weiter Ferne ein Telefon schrillen. Er weiß, es ist für ihn und Tonio, denn alle anderen sind unterwegs. Eine Stimme ruft über den Flur und weil er nicht schnell genug erscheint, steht Conchita schon in der Tür und braucht 3 oder besser 4 Leute. Der Feierabend hat sich erledigt und jetzt, da er die Gewissheit hat, ist es ihm leichter zumute, als mit der trügerischen Hoffnung, die gerade noch hartnäckig seinen Verstand vergiften wollte.
Conchita fragt nach dem Verbleib von Tonio, der gerade aus dem Waschraum kommt, und verkündet ihnen, dass man einen Code 3-15 erhalten habe. Tonio, der 45-jährige Vater dreier Kinder, lässt sich nicht anmerken, ob er erschreckt über die Meldung oder verärgert über seinen sich um unbestimmte Zeit verlängernden Dienst ist. Code 3-15 bedeutet einen Springer. Und das an einem Tag wie heute und noch dazu in Unterbesetzung.
Tonio erkundigt sich, wo er ist.
"Avenue Manuel Payno. Er steht auf dem Gebäude der La Jornada-Zeitung", sagt Conchita.
"Die sind bekannt für schlechte Nachrichten."
Mit dem kleinen, schon fast vollständig ergrauten Rettungsassistenten arbeitet Rafael zusammen, seit er beim Cruz Roja angefangen hat und er schätzt seine Professionalität ebenso wie seinen trockenen Humor.
Patricia als diensthabende Notfallpsychologin komplettiert das Team bei diesem Einsatz und keine zwei Minuten später rücken sie aus. Tonio hinter dem Steuer muss um nicht mehr als ein paar Ecken mit heulenden Sirenen und schon biegen sie in die breite Avenue Manuel Payno ein.
Wie fast immer bei einem Code 3-15 ist die Feuerwehr bereits vor Ort. Zwei Verkehrspolizisten sitzen in ihrem klimatisierten Fahrzeug und sehen auch keine Veranlassung auszusteigen, denn auf der Avenue fließt der Verkehr noch unbehindert weiter. Nur wenige Zuschauer stehen in vermeintlich sicherer Entfernung. Wer stehen bleibt, tut das nicht lange, denn in der Schwüle zu verharren ist unangenehmer als die Aussicht, Zeuge des Todes oder eines Happy End zu werden.
Rafael schaut nach oben. 9 Stockwerke über dem flimmernden Asphalt steht der Springer, direkt am Rand des Flachdaches. Nicht weit hinter ihm ist eine weitere Person zu erkennen. Zwei Einsatzkräfte der Feuerwehr und ein geistlicher Seelsorger sind schon oben. Es wird beschlossen, dass sie alle drei hinauf gehen und sehen, was auszurichten ist -falls überhaupt etwas.
Im Inneren des Gebäudes ist es dank der Klimaanlage angenehm kühl. Schweigend nehmen sie den Fahrstuhl bis in den 9. Stock. Sie müssen einen langen Flur entlang und dann noch über eine letzte Treppe, die direkt auf das Dach hinauf führt.
Er steht immer noch an der Kante. Seine Identität konnte bislang nicht geklärt werden und eigentlich weiß niemand, auf wen oder was sie sich hier einlassen.
Die Person hinter ihm, die Rafael schon von der Straße aus gesehen hat, ist der Geistliche. Die beiden Feuerwehrleute halten sich einige Meter zurück, je einer auf jeder Seite, bereit einzugreifen, wenn es nötig sein sollte.
Rafael bemerkt, dass der Springer sehr ruhig und gefasst wirkt. Er reagiert mit einem Lächeln auf Patricia, die sich ihm vorstellt und erklärt, dass sie mit ihm sprechen möchte.
Auch Tonio bleibt mit Rafael etwas im Hintergrund. Der Seelsorger scheint resigniert. Er überlässt Patricia bereitwillig das Gespräch mit dem am Abgrund, der ihr direkt in die Augen sieht und auf ihre Frage nach seinem Motiv antwortet:
"Sie wollen das nicht hören. Ganz bestimmt nicht."
Aber sie versucht es wieder und es geht ein paar Mal hin und her. Rafael bekommt nicht viel davon mit, zum einen, weil er zu weit entfernt ist, zum anderen, weil er den Springer so nahe am Abgrund stehen sieht und sich vorstellt, er selbst stünde dort. Doch würde er nicht lange stehen. Es wäre die bloße Angst vor dem Fall, die ihn abstürzen lassen würde. Er würde nur hinunter schauen und fallen. Es gibt keinen Halt, kein Geländer, und damit wäre sein Sturz besiegelt.
Sie muss gerade etwas gesagt haben, dass ihn aus der Reserve lockt, denn obwohl er eigentlich nicht über seine Gründe sprechen will, dreht er sich jetzt zu den hinter ihm Stehenden um, als wolle er seine Worte nicht mehr nur an Patricia allein richten:
"Ich werde Ihnen meinen Grund nennen, wenn Sie es unbedingt wünschen, und ich hoffe, Sie werden mich verstehen, denn danach werde ich springen."
Rafael hasst Dächer im Allgemeinen und dieses besondere beginnt er nun lautlos zu verfluchen. Der schwarze Teerbelag reicht nur noch ein paar Meter und dahinter der Abgrund und die Tiefe. Kein Geländer, kein Vorsprung, der Boden unter den Füßen hört einfach auf. Es ist der Abgrund, der ihn anzuziehen scheint, wenn er nur dicht genug davor steht. Sein Körper scheint zu wissen, dass er ohnehin fallen wird, also macht es keinen Sinn, sich länger dagegen zu wehren, so sehr auch der Verstand gegen diese Vorstellung rebelliert. Und der Abgrund scheint näher zu kommen, obwohl er sicher ist, dass seine Beine sich nicht von der Stelle bewegen.
Er kann hier oben ohnehin nichts weiter tun, Patricia und der Priester sind als seelischer Beistand genug, Tonio kommt nur zum Einsatz, wenn sich jemand verletzt, und die beiden Feuerwehrmänner sehen so aus, als ob sie jede Situation allein in den Griff bekommen würden. Er reißt seinen Blick mit Gewalt von der Kante des Daches los, die ihn zu hypnotisieren scheint, und sucht Blickkontakt zu Tonio. Der hat verstanden und deutet ihm an, dass er runter soll. Rafael wird unten gebraucht. Falls was passiert, kann unten mehr passieren als hier, die Passanten, die Gaffer, wenn es knallt, dann knallt es unten.
Der Selbstmörder beginnt wieder zu sprechen, aber Rafael ist schon durch die Tür und stolpert die Stufen hinab. Er hält kurz vor dem Treppenabsatz inne, während Patricia versuchen wird, dem dort oben einen Ausweg und eine Perspektive zu zeigen, jetzt da sie weiß, was sein Problem ist.
Und genau in diesem Moment hört er die Schreie, zwar gedämpft, aber unverkennbar unten von der Straße.
Das war´s. Aus und vorbei. Feierabend.
Der Schweiß läuft ihm jetzt nicht nur über die Stirn, sondern auch an Bauch und Rücken hinunter. Hinter seinen Schläfen pocht es. Er will jetzt nur noch nach unten, einfach ans Ende der Treppe hinabsteigen, in den Fahrstuhl und nichts wie runter. Unten den Job machen, aufräumen, zudecken, aufwischen, auf neue Anweisungen warten. Tonio sehen, der auch gleich kommen wird. Der Job, der unten auf ihn wartet, ist nicht angenehm, aber nicht schlimmer, als der Versuch, oben auf dem Dach eine Hoffnung zu verbreiten, an die man selbst nicht glaubt. Es ist passiert, das Schlimmste ist passiert, man muss sich nicht länger davor fürchten. Einfach wieder runter, er würde nicht den Fahrstuhl benutzen, sondern die Treppe. Die letzten Stufen in einem Sprung nehmen, so wie als Junge, wenn die Schule aus war und er wieder für einen Nachmittag übermütig wurde. Das wäre ein gutes Gefühl.
Etwas verwirrt ihn. Die Schreie sind so urplötzlich abgerissen, als hätte man einem Radio den Strom abgedreht. Als hätte etwas Unbegreifliches oder völlig Unerwartetes den Schrecken, einen Menschen in den Tod springen zu sehen, in eine sprachlose Leere verwandelt. Rafael will hinunter, aber er muss jetzt auch nach Tonio und nach Patricia sehen. Er ist immer noch im Einsatz, auch wenn der Verwirrte es nun für sich beendet hat. Widerwillig und mit schweren Beinen hastet er die Treppe wieder hinauf und betritt das Dach. Für einen Moment weiß er nicht, wo er sich befindet. Etwas ist falsch, das Dach ist falsch und ebenso der bleierne dunstige Himmel, der den Namen Himmel nicht verdient. Alles ist falsch hier, er hat die falsche Tür genommen, obwohl es doch nur eine gab. Denn auf dem Dach ist niemand mehr. Er steht ganz allein in der angestauten Hitze unter der Smogglocke von Mexico City und weiß nicht, was er tun soll. Sein Denken sucht nach einer Erklärung, für das, was er sieht oder vielmehr nicht sieht, und findet keine.
Er lässt sich auf die Knie hinunter und kriecht auf allen Vieren über die klebrige Teerpappe bis etwa 5 Meter vor den Rand des Daches. Dann legt er sich flach auf den Bauch, schiebt sich zentimeterweise vorwärts und kämpft gegen den aufsteigenden Höhenschwindel an. Als er endlich den Rand erreicht - er kann nicht sagen, ob es Sekunden oder Minuten dauerte - und mit den Händen umklammert, scheint sich die Gravitation verzehnfacht zu haben. Sein Körper wird von einer unsichtbaren Kraft nach unten und fest gegen das Dach gezogen. Er spürt, wie das ganze Gebäude schwankt. Er liegt mit dem Kinn auf dem Boden, nur so kann er seinen Sturz verhindern, und er weiß, dass sich das Dach nicht nach vorne neigen und er nicht abrutschen kann, obwohl ihn dieses Gefühl zu überschwemmen droht, als er über den Rand hinab und in die Tiefe blickt.
Er braucht nicht zu zählen. Er weiß, dass es 6 Körper sind, die 9 Stockwerke tiefer auf dem Asphalt liegen. Die Gaffer stehen wie erstarrt und von Polizei und Feuerwehr scheint niemand fähig, etwas zu unternehmen, denn es gibt nichts mehr zu tun. Rafael ist der Gefangene einer Momentaufnahme, gebannt in einem Foto, in dem nur er selbst lebendig ist. Was er sieht, macht keinen Sinn. Es macht für niemanden einen Sinn und der Mensch hält einfach inne, auch in seinem Schrecken, wenn jeglicher Sinn plötzlich verloren geht.
Der Mann, der sterben wollte, ist gesprungen und noch bevor er unten angekommen war, sprang Patricia, dann der erste Feuerwehrmann, dann Tonio und der Priester fast gleichzeitig, dann der zweite Feuerwehrmann. Sie traten einer nach dem anderen an den Rand des Daches und sprangen hinab. Keiner von ihnen zögerte eine Sekunde, keiner schrie im Fallen. Einer der Feuerwehrmänner hatte die Arme ausgebreitet. Er kippte im Fallen vornüber und schlug mit dem Kopf voran auf.
Es machte keinen Unterschied, für keinen von ihnen. Keiner überlebte. Tonio wurden durch die Wucht des Aufschlags die gebrochenen Rippen seitlich aus dem Leib gepresst, als er bäuchlings landete, von Patricias Gesicht blieb nicht mehr als eine blutige Masse übrig. Einer ihrer Ohrringe flog davon und rollte vor die Füße eines Polizisten, der ihn sah und nichts verstand.
Was sie taten schien ihnen selbstverständlich, unausweichlich, die logische Konsequenz dessen, was sie aus dem Mund des Verrückten gehört hatten, der ihnen danach nicht mehr verrückt vorgekommen war. Was immer sein Grund dafür war, jetzt und hier und auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden, es muss ein überzeugender Grund gewesen sein. Sie hörten diesen seinen Grund und es wurde der ihre. Sie sprangen ihm augenblicklich hinterher, ein Familienvater, eine Psychologin, ein Geistlicher, sie alle scheinbar ohne auch nur die Spur eines Zweifels an ihrer Tat. Welches unbeschreibliche Grauen kannte er, das ihnen drohte und vor dem sie sich in die Arme des Todes flüchteten? Welche Verlockung war es, die er ihnen verheißen hatte und der keiner von ihnen widerstehen konnte?
Rafael hasst Dächer, denn er hasst den Abgrund und die Tiefe. Der bloße Anblick eines Abgrunds zieht ihn hinab, der Horror wird zu einer Versuchung, die ihn ruft: "Gib auf, fall hinunter, spring, dann ist es endlich passiert und du brauchst keine Angst mehr zu haben." Er fürchtet nichts mehr als den Fall und alles in ihm scheut vor dem Abgrund zurück, doch wenn er ihm bis auf eine kritische Entfernung nahe genug gekommen ist, dann ist der Abgrund zugleich auch die Erlösung. Dann will er, dann muss er fallen, so als ob ihn die Schwerkraft um ein Vielfaches verstärkt anzöge, denn was passieren kann, das wird irgendwann passieren und so ist es besser, wenn es gleich passiert.
Rafael liegt auf dem Bauch und beobachtet. Er ist mit dem Dach verschmolzen und sieht zu, wie erst ein zweiter, dann ein dritter Rettungswagen eintrifft, wie auch die Gegenfahrbahn der Avenue Manuel Payno gesperrt wird, wie sie die Menge auseinander treiben und dann minutenlang nach etwas suchen, womit sie den letzten der 6 toten Körper bedecken können. Er liegt noch fast eine Stunde auf dem Dach und hat Zeit, eine Erklärung zu finden, für das, was ihnen allen widerfahren ist und ob es auch ihm widerfahren wäre, wenn er nur noch ein paar Sekunden länger geblieben wäre, bis denen unten auffällt, dass da noch einer fehlt, der noch oben sein muss. Und als sie herauf kommen und ihn aufheben, ihn vom Abgrund wegbringen und ihn stützen müssen, dass er ihnen nicht vornüber fällt, als sie ihn schließlich fragen, was um alles in der Welt bloß auf dem Dach geschehen ist, da weiß er nichts zu antworten und sein einziger Gedanke ist der, dass keiner von uns ins Paradies will, wir wollen alle nur der Hölle entfliehen.
In dem kleinen Aufenthaltsraum der Notrufzentrale im Colonia Benito Juárez ist gerade der zweite von insgesamt drei Deckenventilatoren ausgefallen. Rafael, der 24-jährige Rettungssanitäter, registriert es mit mexikanischem Gleichmut und der vagen Aussicht auf den bevorstehenden Feierabend. Die 10-Stunden-Schicht verlief bislang ohne besondere Vorkommnisse; nur zwei Verkehrsunfälle am frühen Morgen, aber mindestens zwei Dutzend Fälle von Hitzeopfern, meist alte Leute aus den ärmeren Vierteln, in Wohnungen ohne Klimaanlagen und ohne Ventilatoren; ein paar Infusionen, einige, bei denen es nichts half, transportierten sie ins Hospital Niños Heroes.
Seine Armbanduhr zeigt 15:42 Uhr. Um vier übernimmt die Spätschicht und es wäre für heute geschafft, wenn jetzt nichts mehr kommt. Aber er sitzt schon seit 10 Minuten hier und das ist länger als alle anderen Pausen am heutigen Tag. Noch weitere 18 Minuten ohne einen Zwischenfall wären fast ein Wunder bei über 35 Grad Hitze und der wieder einmal bedrückend dichten Smogglocke dort draußen über Mexico City. Wann war der Himmel zuletzt blau und die Luft klar? Dazu diese außergewöhnliche Hitzewelle. Seit über einer Woche schon lagen die Temperaturen über 30 Grad und sie stiegen von Tag zu Tag weiter an. Die Stadt liegt krank und sie macht krank. Sie pulsiert in der Schwüle wie ein Fieber, das beständig ansteigt. Sie schlägt wie ein einziges großes todbringendes Herz, einem finalen Kollaps entgegen.
Er greift nach einer Wasserflasche, die fast leer ist, und hört in weiter Ferne ein Telefon schrillen. Er weiß, es ist für ihn und Tonio, denn alle anderen sind unterwegs. Eine Stimme ruft über den Flur und weil er nicht schnell genug erscheint, steht Conchita schon in der Tür und braucht 3 oder besser 4 Leute. Der Feierabend hat sich erledigt und jetzt, da er die Gewissheit hat, ist es ihm leichter zumute, als mit der trügerischen Hoffnung, die gerade noch hartnäckig seinen Verstand vergiften wollte.
Conchita fragt nach dem Verbleib von Tonio, der gerade aus dem Waschraum kommt, und verkündet ihnen, dass man einen Code 3-15 erhalten habe. Tonio, der 45-jährige Vater dreier Kinder, lässt sich nicht anmerken, ob er erschreckt über die Meldung oder verärgert über seinen sich um unbestimmte Zeit verlängernden Dienst ist. Code 3-15 bedeutet einen Springer. Und das an einem Tag wie heute und noch dazu in Unterbesetzung.
Tonio erkundigt sich, wo er ist.
"Avenue Manuel Payno. Er steht auf dem Gebäude der La Jornada-Zeitung", sagt Conchita.
"Die sind bekannt für schlechte Nachrichten."
Mit dem kleinen, schon fast vollständig ergrauten Rettungsassistenten arbeitet Rafael zusammen, seit er beim Cruz Roja angefangen hat und er schätzt seine Professionalität ebenso wie seinen trockenen Humor.
Patricia als diensthabende Notfallpsychologin komplettiert das Team bei diesem Einsatz und keine zwei Minuten später rücken sie aus. Tonio hinter dem Steuer muss um nicht mehr als ein paar Ecken mit heulenden Sirenen und schon biegen sie in die breite Avenue Manuel Payno ein.
Wie fast immer bei einem Code 3-15 ist die Feuerwehr bereits vor Ort. Zwei Verkehrspolizisten sitzen in ihrem klimatisierten Fahrzeug und sehen auch keine Veranlassung auszusteigen, denn auf der Avenue fließt der Verkehr noch unbehindert weiter. Nur wenige Zuschauer stehen in vermeintlich sicherer Entfernung. Wer stehen bleibt, tut das nicht lange, denn in der Schwüle zu verharren ist unangenehmer als die Aussicht, Zeuge des Todes oder eines Happy End zu werden.
Rafael schaut nach oben. 9 Stockwerke über dem flimmernden Asphalt steht der Springer, direkt am Rand des Flachdaches. Nicht weit hinter ihm ist eine weitere Person zu erkennen. Zwei Einsatzkräfte der Feuerwehr und ein geistlicher Seelsorger sind schon oben. Es wird beschlossen, dass sie alle drei hinauf gehen und sehen, was auszurichten ist -falls überhaupt etwas.
Im Inneren des Gebäudes ist es dank der Klimaanlage angenehm kühl. Schweigend nehmen sie den Fahrstuhl bis in den 9. Stock. Sie müssen einen langen Flur entlang und dann noch über eine letzte Treppe, die direkt auf das Dach hinauf führt.
Er steht immer noch an der Kante. Seine Identität konnte bislang nicht geklärt werden und eigentlich weiß niemand, auf wen oder was sie sich hier einlassen.
Die Person hinter ihm, die Rafael schon von der Straße aus gesehen hat, ist der Geistliche. Die beiden Feuerwehrleute halten sich einige Meter zurück, je einer auf jeder Seite, bereit einzugreifen, wenn es nötig sein sollte.
Rafael bemerkt, dass der Springer sehr ruhig und gefasst wirkt. Er reagiert mit einem Lächeln auf Patricia, die sich ihm vorstellt und erklärt, dass sie mit ihm sprechen möchte.
Auch Tonio bleibt mit Rafael etwas im Hintergrund. Der Seelsorger scheint resigniert. Er überlässt Patricia bereitwillig das Gespräch mit dem am Abgrund, der ihr direkt in die Augen sieht und auf ihre Frage nach seinem Motiv antwortet:
"Sie wollen das nicht hören. Ganz bestimmt nicht."
Aber sie versucht es wieder und es geht ein paar Mal hin und her. Rafael bekommt nicht viel davon mit, zum einen, weil er zu weit entfernt ist, zum anderen, weil er den Springer so nahe am Abgrund stehen sieht und sich vorstellt, er selbst stünde dort. Doch würde er nicht lange stehen. Es wäre die bloße Angst vor dem Fall, die ihn abstürzen lassen würde. Er würde nur hinunter schauen und fallen. Es gibt keinen Halt, kein Geländer, und damit wäre sein Sturz besiegelt.
Sie muss gerade etwas gesagt haben, dass ihn aus der Reserve lockt, denn obwohl er eigentlich nicht über seine Gründe sprechen will, dreht er sich jetzt zu den hinter ihm Stehenden um, als wolle er seine Worte nicht mehr nur an Patricia allein richten:
"Ich werde Ihnen meinen Grund nennen, wenn Sie es unbedingt wünschen, und ich hoffe, Sie werden mich verstehen, denn danach werde ich springen."
Rafael hasst Dächer im Allgemeinen und dieses besondere beginnt er nun lautlos zu verfluchen. Der schwarze Teerbelag reicht nur noch ein paar Meter und dahinter der Abgrund und die Tiefe. Kein Geländer, kein Vorsprung, der Boden unter den Füßen hört einfach auf. Es ist der Abgrund, der ihn anzuziehen scheint, wenn er nur dicht genug davor steht. Sein Körper scheint zu wissen, dass er ohnehin fallen wird, also macht es keinen Sinn, sich länger dagegen zu wehren, so sehr auch der Verstand gegen diese Vorstellung rebelliert. Und der Abgrund scheint näher zu kommen, obwohl er sicher ist, dass seine Beine sich nicht von der Stelle bewegen.
Er kann hier oben ohnehin nichts weiter tun, Patricia und der Priester sind als seelischer Beistand genug, Tonio kommt nur zum Einsatz, wenn sich jemand verletzt, und die beiden Feuerwehrmänner sehen so aus, als ob sie jede Situation allein in den Griff bekommen würden. Er reißt seinen Blick mit Gewalt von der Kante des Daches los, die ihn zu hypnotisieren scheint, und sucht Blickkontakt zu Tonio. Der hat verstanden und deutet ihm an, dass er runter soll. Rafael wird unten gebraucht. Falls was passiert, kann unten mehr passieren als hier, die Passanten, die Gaffer, wenn es knallt, dann knallt es unten.
Der Selbstmörder beginnt wieder zu sprechen, aber Rafael ist schon durch die Tür und stolpert die Stufen hinab. Er hält kurz vor dem Treppenabsatz inne, während Patricia versuchen wird, dem dort oben einen Ausweg und eine Perspektive zu zeigen, jetzt da sie weiß, was sein Problem ist.
Und genau in diesem Moment hört er die Schreie, zwar gedämpft, aber unverkennbar unten von der Straße.
Das war´s. Aus und vorbei. Feierabend.
Der Schweiß läuft ihm jetzt nicht nur über die Stirn, sondern auch an Bauch und Rücken hinunter. Hinter seinen Schläfen pocht es. Er will jetzt nur noch nach unten, einfach ans Ende der Treppe hinabsteigen, in den Fahrstuhl und nichts wie runter. Unten den Job machen, aufräumen, zudecken, aufwischen, auf neue Anweisungen warten. Tonio sehen, der auch gleich kommen wird. Der Job, der unten auf ihn wartet, ist nicht angenehm, aber nicht schlimmer, als der Versuch, oben auf dem Dach eine Hoffnung zu verbreiten, an die man selbst nicht glaubt. Es ist passiert, das Schlimmste ist passiert, man muss sich nicht länger davor fürchten. Einfach wieder runter, er würde nicht den Fahrstuhl benutzen, sondern die Treppe. Die letzten Stufen in einem Sprung nehmen, so wie als Junge, wenn die Schule aus war und er wieder für einen Nachmittag übermütig wurde. Das wäre ein gutes Gefühl.
Etwas verwirrt ihn. Die Schreie sind so urplötzlich abgerissen, als hätte man einem Radio den Strom abgedreht. Als hätte etwas Unbegreifliches oder völlig Unerwartetes den Schrecken, einen Menschen in den Tod springen zu sehen, in eine sprachlose Leere verwandelt. Rafael will hinunter, aber er muss jetzt auch nach Tonio und nach Patricia sehen. Er ist immer noch im Einsatz, auch wenn der Verwirrte es nun für sich beendet hat. Widerwillig und mit schweren Beinen hastet er die Treppe wieder hinauf und betritt das Dach. Für einen Moment weiß er nicht, wo er sich befindet. Etwas ist falsch, das Dach ist falsch und ebenso der bleierne dunstige Himmel, der den Namen Himmel nicht verdient. Alles ist falsch hier, er hat die falsche Tür genommen, obwohl es doch nur eine gab. Denn auf dem Dach ist niemand mehr. Er steht ganz allein in der angestauten Hitze unter der Smogglocke von Mexico City und weiß nicht, was er tun soll. Sein Denken sucht nach einer Erklärung, für das, was er sieht oder vielmehr nicht sieht, und findet keine.
Er lässt sich auf die Knie hinunter und kriecht auf allen Vieren über die klebrige Teerpappe bis etwa 5 Meter vor den Rand des Daches. Dann legt er sich flach auf den Bauch, schiebt sich zentimeterweise vorwärts und kämpft gegen den aufsteigenden Höhenschwindel an. Als er endlich den Rand erreicht - er kann nicht sagen, ob es Sekunden oder Minuten dauerte - und mit den Händen umklammert, scheint sich die Gravitation verzehnfacht zu haben. Sein Körper wird von einer unsichtbaren Kraft nach unten und fest gegen das Dach gezogen. Er spürt, wie das ganze Gebäude schwankt. Er liegt mit dem Kinn auf dem Boden, nur so kann er seinen Sturz verhindern, und er weiß, dass sich das Dach nicht nach vorne neigen und er nicht abrutschen kann, obwohl ihn dieses Gefühl zu überschwemmen droht, als er über den Rand hinab und in die Tiefe blickt.
Er braucht nicht zu zählen. Er weiß, dass es 6 Körper sind, die 9 Stockwerke tiefer auf dem Asphalt liegen. Die Gaffer stehen wie erstarrt und von Polizei und Feuerwehr scheint niemand fähig, etwas zu unternehmen, denn es gibt nichts mehr zu tun. Rafael ist der Gefangene einer Momentaufnahme, gebannt in einem Foto, in dem nur er selbst lebendig ist. Was er sieht, macht keinen Sinn. Es macht für niemanden einen Sinn und der Mensch hält einfach inne, auch in seinem Schrecken, wenn jeglicher Sinn plötzlich verloren geht.
Der Mann, der sterben wollte, ist gesprungen und noch bevor er unten angekommen war, sprang Patricia, dann der erste Feuerwehrmann, dann Tonio und der Priester fast gleichzeitig, dann der zweite Feuerwehrmann. Sie traten einer nach dem anderen an den Rand des Daches und sprangen hinab. Keiner von ihnen zögerte eine Sekunde, keiner schrie im Fallen. Einer der Feuerwehrmänner hatte die Arme ausgebreitet. Er kippte im Fallen vornüber und schlug mit dem Kopf voran auf.
Es machte keinen Unterschied, für keinen von ihnen. Keiner überlebte. Tonio wurden durch die Wucht des Aufschlags die gebrochenen Rippen seitlich aus dem Leib gepresst, als er bäuchlings landete, von Patricias Gesicht blieb nicht mehr als eine blutige Masse übrig. Einer ihrer Ohrringe flog davon und rollte vor die Füße eines Polizisten, der ihn sah und nichts verstand.
Was sie taten schien ihnen selbstverständlich, unausweichlich, die logische Konsequenz dessen, was sie aus dem Mund des Verrückten gehört hatten, der ihnen danach nicht mehr verrückt vorgekommen war. Was immer sein Grund dafür war, jetzt und hier und auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden, es muss ein überzeugender Grund gewesen sein. Sie hörten diesen seinen Grund und es wurde der ihre. Sie sprangen ihm augenblicklich hinterher, ein Familienvater, eine Psychologin, ein Geistlicher, sie alle scheinbar ohne auch nur die Spur eines Zweifels an ihrer Tat. Welches unbeschreibliche Grauen kannte er, das ihnen drohte und vor dem sie sich in die Arme des Todes flüchteten? Welche Verlockung war es, die er ihnen verheißen hatte und der keiner von ihnen widerstehen konnte?
Rafael hasst Dächer, denn er hasst den Abgrund und die Tiefe. Der bloße Anblick eines Abgrunds zieht ihn hinab, der Horror wird zu einer Versuchung, die ihn ruft: "Gib auf, fall hinunter, spring, dann ist es endlich passiert und du brauchst keine Angst mehr zu haben." Er fürchtet nichts mehr als den Fall und alles in ihm scheut vor dem Abgrund zurück, doch wenn er ihm bis auf eine kritische Entfernung nahe genug gekommen ist, dann ist der Abgrund zugleich auch die Erlösung. Dann will er, dann muss er fallen, so als ob ihn die Schwerkraft um ein Vielfaches verstärkt anzöge, denn was passieren kann, das wird irgendwann passieren und so ist es besser, wenn es gleich passiert.
Rafael liegt auf dem Bauch und beobachtet. Er ist mit dem Dach verschmolzen und sieht zu, wie erst ein zweiter, dann ein dritter Rettungswagen eintrifft, wie auch die Gegenfahrbahn der Avenue Manuel Payno gesperrt wird, wie sie die Menge auseinander treiben und dann minutenlang nach etwas suchen, womit sie den letzten der 6 toten Körper bedecken können. Er liegt noch fast eine Stunde auf dem Dach und hat Zeit, eine Erklärung zu finden, für das, was ihnen allen widerfahren ist und ob es auch ihm widerfahren wäre, wenn er nur noch ein paar Sekunden länger geblieben wäre, bis denen unten auffällt, dass da noch einer fehlt, der noch oben sein muss. Und als sie herauf kommen und ihn aufheben, ihn vom Abgrund wegbringen und ihn stützen müssen, dass er ihnen nicht vornüber fällt, als sie ihn schließlich fragen, was um alles in der Welt bloß auf dem Dach geschehen ist, da weiß er nichts zu antworten und sein einziger Gedanke ist der, dass keiner von uns ins Paradies will, wir wollen alle nur der Hölle entfliehen.