Am Fluss

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Am Fluss


Island, Donnerstag, 21. Juni 2035.


Am Abend, SEM, barfuß, geht am Flussufer langsam hin und her. Neben ihm trägt ein Mann mit beiden Händen einen Kasten. Auf dem Kasten liegt ein Handy. Es regnet in Strömen. SEM trägt Trenchcoat. Der Mann neben ihm ein Overall.

SEM nachdenklich:
„Nichts.“

Er geht kurz ins Wasser, kommt zurück, stellt sich mit den nackten Füßen auf seine Schuhe.

Das Handy klingelt.

SEM hastig, nimmt das Handy vom Kasten:
„Ja, Hallo, Sem,... RK, du? endlich... du solltest gestern anrufen..., hörst du, gestern...“

Handy, eine klare jede Silbe betonende Stimme: „ Hallo Sem, dass du noch lebst... es ging nicht früher... Sie sagten, die Anlage wäre nicht ok,... noch nicht. Sechs Monate habe ich kein Wort gehört, verstehst du... sechs. Sie sagten, es sind jetzt sechs Monate um, dass sie mich nicht erschossen haben. Stimmt das? Ich hab kein Zeitgefühl mehr.“

SEM: „Deine Stimme klingt völlig anders. Bin gar nicht sicher, dass du das bist.“

Handy-Stimme: „Quatsch, ich erkenn dich doch, deine Stimme ist es, was soll das heißen..“

SEM: „Die Tonlage ist verändert. Wie nach ner Geschlechtsumwandlung.“ Er lacht. „Dein erster Anruf, und schon verspätet. - Meinst du, ich habe nichts sonst am Hals.- Einen Tag zu spät.“

Handy bitter: „Was ist schon ein Tag. Wo bist du überhaupt. Zu Hause? Wo ich bin? - Nein, keine Ahnung, dunkel ist es hier, sehr dunkel. Manchmal allerdings, das ist wie Blitzlichter, kurz, dann wieder weg. Aber es ist gut so. Es soll sich nichts ändern. Gar nichts.“

SEM: „Nicht? Wozu spreche ich denn mit dir, wenn nicht um dich zu verändern. “

Pause

„Du bestehst nur aus - Grenzen, Ufer in denen du mäanderst... du bist Schlick, Fischfutter bist du, ein Sack. - Ein alter Sack. Willst du jeden Morgen, jeden Abend, jedes Mal wenn du vom Klo aufstehst und in den Spiegel siehst, - und dabei siehst du deine Nase, den schiefen Mund, den Backenbart, die Augenbrauen, das Lid, siehst du das Lid?, genaugenommen siehst du es nicht... du siehst dich darin, wie du dich spiegelst in deinem eigenen Auge, dein Auge in deinem Auge. Und das immer wieder. Willst du das? Du wärest der erste, der das wollen würde.“

Pause

Handy:
„ Es hat lange gedauert... bis ich telefonieren... sie sagten, erst nach einem halben Jahr,... das ist lang, in der Dunkelheit, konnte die Hand nicht vor Augen... das ist Dunkelhaft... aber jetzt ist es heller. Meinst du es wird wieder solange dauern? Was ist mit mir, wo bin ich? Was hast du mit mir gemacht. Ihr habt gesagt, ihr schafft die Strafe ab, ich werde leben, du hast es angedeutet, und dann habt ihr Zeit um Zeit vergehen lassen und nichts ist passiert. Ihr habt mich betrogen. Aber man kann damit leben.“

Er lacht etwas meckernd.

SEM:
„Kenne die Vorschriften nicht. Konntest du beliebige Nummern wählen? Einfach so? Dass die dir trauen...die waren doch sauer... Eigentlich warst du schon so gut wie tot. Und peng. Konnte ja niemand ahnen, dass sich das schnell ändert...“

Handy: „ Interessiert mich nicht. Sie haben das abgeschafft, und mich nicht gefragt. Du hast mich auch nicht gefragt, du tust was du willst, meinst du, ich rufe gerne an?... denkst wohl, dass es Spaß macht, meinst du, ich mag dich, deine Art, dein Mitgefühl... du hast überhaupt keins, du bist das Fischfutter, der alte Sack, du, nicht ich... Erinnere mich gut an die Zelterei dort. Ungern.“

Kichernd: „Weißt du, dass du ein Schafsgesicht hast, weißt du das?... ein Schafsgesicht.“

Die Stimme blökt wie ein Schaf.

„Und du weißt auch, wieso sie die Strafe abgeschafft haben.. ich habe sie gesehen, diese...wie nennt ihr sie, Leergestalten, nein, nicht erschossen, welche Verschwendung... aber sehr nützlich, nicht wahr... hast du mir nicht gesagt, doch, du wolltest doch auch so ein Ding anschaffen...und, hast du?.. hast du so ein Ding bei dir zu Haus? Traue ich dir zu. Weißt du, dass man dir nicht trauen kann?, du hast so was. Wieso habt ihr die Todesstrafe abgeschafft?, und du immer vorne weg, warst doch sonst dafür. Irgendwann kneifst du sowieso den Hintern zusammen, hast du immer gesagt, andere quälen sich jahrelang, und hier: zack, vorbei.“

SEM: „Ja, habe ich mir zugelegt, sehr nützlich. Du warst gerade ein, zwei Monate weg, wirklich nett, wirklich... Wieso hast du nicht deine Schwester angerufen?“

Handy: „ Sie sagten, ich dürfte nur einen... nur einen Namen wählen. Wenn ich falsch wähle, wär es das, für diesmal.“

SEM: „Und woher hattest du die Nummer?“

Handy: „ Brauchte nur den Namen, den Rest machen die.“

SEM: „Dann hättest du doch Sabine anrufen können.“

Pause

Handy leise:
„Ich hatte den Namen vergessen...“

Pause

„Wir haben nicht mehr lange Zeit... und das nächste Gespräch, ... wieso die langen Pausen dazwischen, wieso nur alle halbe Jahr ein Gespräch?“

SEM leise: „Ich habe drauf bestanden, damals. Meinst du ich habe Lust, ständig mit dir zu sprechen? Ich brauche auch meine Ruhe.“

Pause

„RK, die Zeit ist um. Wir müssen aufhören.“

Handy zögernd: „Kannst du mir sagen, wo ich bin?... man sagt mir nichts... gar nichts...“

Pause

SEM:
„Ich glaub nicht, dass das eine gute Frage ist.“

Er sieht sich nach seinem Begleiter um, winkt ihn heran. Der Mann kommt, er geht etwas ruckartig, trägt den Kasten auf den Unterarmen. Sem blickt auf den Kasten, öffnet den Deckel und sieht auf die weißliche, pulsierende Masse, die Steckverbindungen zwischen Nervenfasern und den Kastenwänden, betrachtet die blasenförmigen Vorstülpungen.

SEM schüttelt den Kopf, er steckt das Handy in die Tasche und geht wieder in den Fluss hinein. Der Mann folgt ihm.

Sem nimmt ihm den Kasten ab und kippt den Inhalt samt Nährflüssigkeit in den Fluss.

SEM lauscht ins Handy. Hört nichts.

SEM:
„Genug telefoniert.“

SEM gibt dem Mann das Handy und geht. Der Mann folgt ihm mit etwas Abstand.
 



 
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