Am Gehsteig

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multimind

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Am Gehsteig

Jetzt, wo ich daliege, sehe ich, meine Handgelenke sind schief. Die Haut drüber schaut aus wie tintenfleckiges Löschpapier. Der Einkaufstrolley war schon die letzten Tage so schwer. Als wär das Metallgestell verzogen oder die Räder kaputt. Die Räder waren es wohl nicht.
Der junge Mann, neben den ich gefallen bin, redet so lieb und streichelt meine Hand. Mein Schutzengel? Rüberbegleiten wird er mich wohl nicht.
Mir tut gar nichts weh. Aber ich komme nicht mehr hoch. Wo sie mich wohl hin bringen? Das Spital kenn ich sicher schon. Das Sterben auch. Dreimal war´s vorbei mit meinen Bettnachbarn, wahrscheinlich legen sie jemanden wie mich gern da dazu, zum Lernen. Nein, ich weiß schon. Jemand junger wär unpassend.
Die Stimmen werden grad so leise. Pferde trappen. Pferde? Bist du das, Papa? Mit deinen Scheckigen? Das wär schön. Kannst mir dann erzählen, wie das bei dir war, das Sterben irgendwo im Graben, wahrscheinlich zerfetzt, hoffentlich warst du gleich tot. Ich hab dich so vermißt. Es ist nie vorbei gegangen.
Irgendwann geht jeder Schmerz vorbei, hat die Oma immer gesagt, ich hab das gehaßt, bei jeder blöden Gelegenheit dieser Spruch, wenn es noch richtig weh getan hat. Aber jetzt weiß ich, sie hat recht. Wenn man stirbt, stimmt es. Kann ich ihr dann ja mal zugeben, sie wird lachen und sagen, na, jetzt ist es zwar nicht mehr wichtig, aber schön.

Sieht man eigentlich die Leute, die man gar nicht gemocht hat auch wieder? So genau hab ich mir das nie überlegt.

Wo ist denn jetzt alles hin? Angst, Zorn, Glück, ich spür gar nichts mehr. Marillen hab ich eingekauft, die haben so schön saftig ausgeschaut, vielleicht nimmt der junge Mann sich eine. Ob er eine Freundin hat? Laß gut sein, Olga. Nicht immer dumm an die Liebe denken. Jetzt bist du achtzig, stirbst und gibst noch immer keine Ruh.
Den einen, den einzigen einen, den ich wollte, den kriege ich da oben auch nicht mehr. Den einen, der mich mein Herz nannte. Und den anderen – ich werd ihm nicht sagen, dass er es nicht war, nein, das werde ich nicht. Wozu. Es war schon recht.

Oben? Komm ich wirklich nach oben? Was ist, wenn’s abwärts geht? Aber geh, Olga, so sündig war es auch wieder nicht.
Wenn du denkst es geht nicht mehr kommt von irgendwo ein Lichtlein her – war das auch die Oma, die das immer gesagt hat? Oder die Mutter? Kann das sein, dass ich das nicht mehr weiß?
Irgendwas leuchtet.
Also Gott, geht´s nach oben? Willst mich haben? Ich glaub aber nicht an den Jüngsten Tag, das sag ich gleich.

Heute ist es recht. Jetzt hab ich vergessen, den Leuten zu sagen, sie sollen beim Begräbnis „Dein ist mein ganzes Herz“ spielen, blöd. Irgendwas vergißt man immer.
 
A

Architheutis

Gast
Hallo multimind,

ganz großer Text. Eine Geschichte über den Augenblick des Sterbens, die einen vom Fleck weg mitnimmt und bis zum letzten Satz dabei hält. Inhaltlich originell und bewegend. Bravo!

Ein einzelner Satz stößt auf:

Jemand junger wär unpassend.
Müsste "jüngerer" heissen, oder?

Gruß,
Archi
 

multimind

Mitglied
dialekt

Danke für die Bewertungen und Kommentare!

@Architheutis

"jemand junger" ist sicher Dialekt, wie auch ein paar andere Sätze in dem Text. Ich würde es daher eher so lassen. Die Frau würde so sprechen. Falls aber noch andere darüber "stolpern" werde ich es verändern
 



 
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