In dem Song "Green River" besingt John Fogerty seine Kindheitserinnerungen. Sein "Green River" war der Putah Creek der durch Nord-Californien fließt, und "Green River" nur eine Erfrischungs-Limonade. Mein "Green River" ist die Jagst - ohne Limonade.
Die Jagst ist mit 189 Kilometern Länge der längste Nebenfluss des Neckar. Die Jagst entspringt bei Walxheim und mündet bei Bad Wimpfen in den Neckar. Das Dörfchen Walxheim liegt in Nord-Württemberg und Bad Wimpfen weiter unten.
An der Jagst wurde ich geboren - in Jagstkirchen. Hätte ich damals schon aus dem Fenster der Geburtsklinik blicken können, ich hätte sie gesehen - die Jagst. Aber anstatt mir die Jagst zu zeigen, betrachtete die Hebamme meine Hände und sagte zu meiner Mutter: "Aus dem wird mal ein Maurer." Aber auch Hebammen können irren.
Die nächsten Dörfer flussaufwärts heißen Schrezheim, Saverwang und Schwabsberg. Das nächste Dorf flussabwärts heißt Rindelbach - scherzhaft auch als Rindelbeach-City bezeichnet. Das zweit nächste Dorf flussabwärts heißt Jagstzell. Aber da kam ich damals selten hin. Deshalb kannte ich es auch nicht.
Wenige Jahre nach meiner Geburt erbaute man ganz in der Nähe von Rindelbeach-City eine Kläranlage. Und der Chef der Kläranlage wohnte in der Nachbarschaft, er züchtete Hasen und seine Tochter hieß Marianne. Und er liebte Blumen und schmückte "seine" Kläranlage mit Geranien. Mit vielen, vielen Geranien. Und weil es die erste Kläranlage mit Geranien war, kam er in die Zeitung und der Bürgermeister verlieh ihm einen Orden mit Musik und Tralala - den Geranienorden von Jagstkirchen. Glaube ich.
Damals war der Himmel immer blau, es war immer warm und aus den Brunnen von Jagstkirchen flossen Milch und Honig. Im Mai flogen riesige Maikäferschwärme durch die Luft und im Sommer bogen sich die Büsche und Sträucher unter der Last der Zitronenfalter, die sich auf ihnen niedergelassen hatten. Bienen summten und Hummeln brummten, Vögel zwitscherten und die Glocken läuteten. Schon damals gab es viele Kirchen in Jagstkirchen. Und das ist auch heute noch so. Deshalb sagt man auch über Jagstkirchen: "Entweder die Sonne scheint oder die Glocken läuten."
Damals hießen die Mädchen Annette, Astrid, Bärbel, Marianne, Heidemarie, Monika, Veronika, Sigrid, Doris, Claudia und Sonja. Und die Buben hießen Anton, Michael, Robert, Rainer, Sigurd, Hans, Klaus, Werner, Thomas und - Silvan. Im Sommer trugen die Mädchen damals leichte Sommerkleidchen und Zöpfe. Im Winter trugen sie dicke Winterkleider und dicke Strumpfhosen. Und die Buben trugen im Sommer Seppelhosen ... und was sie im Winter anhatten, habe ich vergessen. Aber eigentlich war damals sowieso immer Sommer. Glaube ich.
Als ich 6 oder 7 Jahre alt war, nahm mir die Jagst einen Spielkameraden. Silvan hatte nicht aufgepasst. Er war beim Baden in der Jagst in den Sog des Jagst-Wehres geraten und ertrank. Silvan war ein Besatzungskind, seine Hautfarbe dunkel. Ein merkwürdiges Gefühl von Verlust und Traurigkeit durchströmte mich damals.
Glasperlenspiele
Eingekeilt zwischen Bahnlinie und Jagst liegt ein schmaler Streifen Gewerbegebiet. Vorne trennt eine Strasse das Gewerbegebiet von der Bahnlinie. Hinten verläuft ein schmaler Fußweg und trennt die Firmen-Hinterhöfe vom baumbestandenen Jagstufer. Nach dem Krieg hatte sich dort die Rhinestone GmbH angesiedelt. Rhinestone produzierte Glasperlen - facettenreiche, bunte Glasperlen.
Ich war 10, 11 oder 12 Jahre alt - glaube ich. Der Nachmittagsunterricht war vorbei. Und Robert und ich vertrödelten die Zeit. Und das Jagst-Wehr zog uns magnetisch an. Wir warfen Steine ins Wasser. Wir warfen Stöcke ins Wasser. Wir betrachteten unsere Zerrbilder im Wasser. Sonnenlicht brach sich im Wasser. Der Wind strich durch die Bäume. Es war warm und alles war grün. Sogar die Luft war grün. Und das Wasser der Jagst sowieso. Natürlich hatten wir auch Tütchen mit grünem Ahoi-Brausepulver dabei. Ja, hatten wir. Immer. Im Vergleich mit Ahoi-Brausepulver, mit Spucke in der Handfläche angerührt, ist Schöfferhofer Weizen ... Ach was, Ahoi-Brause mit Spucke ist unvergleichlich. Punkt. Doppelpunkt:
Irgendwann trödelten Robert und ich weiter, den schmalen Weg entlang, der die Jagst und die Firmenhinterhöfe im Gewerbegebiet trennt. Und dann entdeckten wir einen Schatz. Einfach so. Mal so nebenbei einen Schatz entdecken war damals kein Problem. Das passierte fast täglich. Direkt am Zaun der Rhinestone GmbH lag also ein Schatz. Perlen, Diamanten. Ein ganzer Haufen. Nein, viele Häufen. Glitzernde, facettenreiche und in allen regenbogenfarben schimmernde Glasperlen - Ausschuss. Wir waren dann oft dort. Eigentlich fast immer. Es war ein langer Sommer. In diesem Jahr gab es keinen Herbst. Und keinen Winter. Es war nur Sommer. Ein Sommer voller Glasperlen. Ja, so war das ...
Und unser Glück nahm kein Ende. Denn eines Tages trafen Robert und ich dort am Zaun eine gute Fee. Die Fee war eine Angestellte der Rhinestone GmbH und in den Händen hatte sie Schüsseln mit bunten Glasperlen - Ausschuss. Mit melodischer, sanfter Stimme sagte die gute Fee: "Kinder, nehmt euch soviel ihr wollt". Dann reichte sie uns die Schüsseln über den Zaun. Und als die Fee ein zweites Mal kam, da hatte sie außer weiteren Schüsseln mit buntem Strass auch noch Plastiktüten dabei. Als ich an diesem sehr späten Nachmittag nach Hause kam, schlug meine Mutter mehrfach die Hände über dem Kopf zusammen und hüpfte vor "Freude" an die Decke. Und die Rhinestone GmbH produzierte munter weiter bunte Glasperlen und - Ausschuss.
Irgendwann war meine Zeit als Glasperlenspieler und Rhinestone-Cowboy dann vorbei. Die Rhinestone GmbH wurde Jahre später von Swarovski aufgekauft und heute ist die Swarovski Rhinestone GmbH nur noch eine verwaiste Adresse im Internet.
So war das also - damals in Jagstkirchen. Glaube ich.
Die Jagst ist mit 189 Kilometern Länge der längste Nebenfluss des Neckar. Die Jagst entspringt bei Walxheim und mündet bei Bad Wimpfen in den Neckar. Das Dörfchen Walxheim liegt in Nord-Württemberg und Bad Wimpfen weiter unten.
An der Jagst wurde ich geboren - in Jagstkirchen. Hätte ich damals schon aus dem Fenster der Geburtsklinik blicken können, ich hätte sie gesehen - die Jagst. Aber anstatt mir die Jagst zu zeigen, betrachtete die Hebamme meine Hände und sagte zu meiner Mutter: "Aus dem wird mal ein Maurer." Aber auch Hebammen können irren.
Die nächsten Dörfer flussaufwärts heißen Schrezheim, Saverwang und Schwabsberg. Das nächste Dorf flussabwärts heißt Rindelbach - scherzhaft auch als Rindelbeach-City bezeichnet. Das zweit nächste Dorf flussabwärts heißt Jagstzell. Aber da kam ich damals selten hin. Deshalb kannte ich es auch nicht.
Wenige Jahre nach meiner Geburt erbaute man ganz in der Nähe von Rindelbeach-City eine Kläranlage. Und der Chef der Kläranlage wohnte in der Nachbarschaft, er züchtete Hasen und seine Tochter hieß Marianne. Und er liebte Blumen und schmückte "seine" Kläranlage mit Geranien. Mit vielen, vielen Geranien. Und weil es die erste Kläranlage mit Geranien war, kam er in die Zeitung und der Bürgermeister verlieh ihm einen Orden mit Musik und Tralala - den Geranienorden von Jagstkirchen. Glaube ich.
Damals war der Himmel immer blau, es war immer warm und aus den Brunnen von Jagstkirchen flossen Milch und Honig. Im Mai flogen riesige Maikäferschwärme durch die Luft und im Sommer bogen sich die Büsche und Sträucher unter der Last der Zitronenfalter, die sich auf ihnen niedergelassen hatten. Bienen summten und Hummeln brummten, Vögel zwitscherten und die Glocken läuteten. Schon damals gab es viele Kirchen in Jagstkirchen. Und das ist auch heute noch so. Deshalb sagt man auch über Jagstkirchen: "Entweder die Sonne scheint oder die Glocken läuten."
Damals hießen die Mädchen Annette, Astrid, Bärbel, Marianne, Heidemarie, Monika, Veronika, Sigrid, Doris, Claudia und Sonja. Und die Buben hießen Anton, Michael, Robert, Rainer, Sigurd, Hans, Klaus, Werner, Thomas und - Silvan. Im Sommer trugen die Mädchen damals leichte Sommerkleidchen und Zöpfe. Im Winter trugen sie dicke Winterkleider und dicke Strumpfhosen. Und die Buben trugen im Sommer Seppelhosen ... und was sie im Winter anhatten, habe ich vergessen. Aber eigentlich war damals sowieso immer Sommer. Glaube ich.
Als ich 6 oder 7 Jahre alt war, nahm mir die Jagst einen Spielkameraden. Silvan hatte nicht aufgepasst. Er war beim Baden in der Jagst in den Sog des Jagst-Wehres geraten und ertrank. Silvan war ein Besatzungskind, seine Hautfarbe dunkel. Ein merkwürdiges Gefühl von Verlust und Traurigkeit durchströmte mich damals.
Glasperlenspiele
Eingekeilt zwischen Bahnlinie und Jagst liegt ein schmaler Streifen Gewerbegebiet. Vorne trennt eine Strasse das Gewerbegebiet von der Bahnlinie. Hinten verläuft ein schmaler Fußweg und trennt die Firmen-Hinterhöfe vom baumbestandenen Jagstufer. Nach dem Krieg hatte sich dort die Rhinestone GmbH angesiedelt. Rhinestone produzierte Glasperlen - facettenreiche, bunte Glasperlen.
Ich war 10, 11 oder 12 Jahre alt - glaube ich. Der Nachmittagsunterricht war vorbei. Und Robert und ich vertrödelten die Zeit. Und das Jagst-Wehr zog uns magnetisch an. Wir warfen Steine ins Wasser. Wir warfen Stöcke ins Wasser. Wir betrachteten unsere Zerrbilder im Wasser. Sonnenlicht brach sich im Wasser. Der Wind strich durch die Bäume. Es war warm und alles war grün. Sogar die Luft war grün. Und das Wasser der Jagst sowieso. Natürlich hatten wir auch Tütchen mit grünem Ahoi-Brausepulver dabei. Ja, hatten wir. Immer. Im Vergleich mit Ahoi-Brausepulver, mit Spucke in der Handfläche angerührt, ist Schöfferhofer Weizen ... Ach was, Ahoi-Brause mit Spucke ist unvergleichlich. Punkt. Doppelpunkt:
Irgendwann trödelten Robert und ich weiter, den schmalen Weg entlang, der die Jagst und die Firmenhinterhöfe im Gewerbegebiet trennt. Und dann entdeckten wir einen Schatz. Einfach so. Mal so nebenbei einen Schatz entdecken war damals kein Problem. Das passierte fast täglich. Direkt am Zaun der Rhinestone GmbH lag also ein Schatz. Perlen, Diamanten. Ein ganzer Haufen. Nein, viele Häufen. Glitzernde, facettenreiche und in allen regenbogenfarben schimmernde Glasperlen - Ausschuss. Wir waren dann oft dort. Eigentlich fast immer. Es war ein langer Sommer. In diesem Jahr gab es keinen Herbst. Und keinen Winter. Es war nur Sommer. Ein Sommer voller Glasperlen. Ja, so war das ...
Und unser Glück nahm kein Ende. Denn eines Tages trafen Robert und ich dort am Zaun eine gute Fee. Die Fee war eine Angestellte der Rhinestone GmbH und in den Händen hatte sie Schüsseln mit bunten Glasperlen - Ausschuss. Mit melodischer, sanfter Stimme sagte die gute Fee: "Kinder, nehmt euch soviel ihr wollt". Dann reichte sie uns die Schüsseln über den Zaun. Und als die Fee ein zweites Mal kam, da hatte sie außer weiteren Schüsseln mit buntem Strass auch noch Plastiktüten dabei. Als ich an diesem sehr späten Nachmittag nach Hause kam, schlug meine Mutter mehrfach die Hände über dem Kopf zusammen und hüpfte vor "Freude" an die Decke. Und die Rhinestone GmbH produzierte munter weiter bunte Glasperlen und - Ausschuss.
Irgendwann war meine Zeit als Glasperlenspieler und Rhinestone-Cowboy dann vorbei. Die Rhinestone GmbH wurde Jahre später von Swarovski aufgekauft und heute ist die Swarovski Rhinestone GmbH nur noch eine verwaiste Adresse im Internet.
So war das also - damals in Jagstkirchen. Glaube ich.