Am Straßenrand

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Manchmal höre ich der Straße zu. An bestimmten Sommertagen kann man auf dem Balkon stehen und zusehen, wie die Autos vorbeirollen, jedes in seiner eigenen kleinen Welt, die nichts mit der des Wagens davor oder dahinter zu tun hat. Die Autos halten alle vor den gleichen Ampeln und bleiben auf den gleichen Spuren, aber jedes von ihnen fährt ohne sich des anderen bewusst zu sein. Der blaue Himmel dient in diesem beweglichen Stillleben als Hintergrund, die Gebäude auf beiden Seiten als schlafende Wachposten. Auch sie beobachten die Straße, diese steinige Monotonie. Ich fand diese Straße schon immer faszinierend und stelle mir gerne vor, wie ein Auto auf irgendeinem staubigen Highway langsam ausrollt und zum Stehen kommt, irgendwo. Ich will, dass es dort bleibt und sich nicht mehr bewegt, tage-, wochen-, monate-, jahrelang. Ich will dieses Auto genau hier, an diesem unfruchtbaren Straßenrand. Vielleicht wäre es hier glücklich? Und würde den Trick lernen, wie man hier sein kann ohne woanders hin zu wollen? Die Zeit würde vorbeigehen, aber wenn man hier ist, spielt die Zeit keine große Rolle. Verändert sich eigentlich irgendetwas am Straßenrand? Vögel huschen von Baum zu Baum, Schlangen finden ihren Weg durch das hohe Gras. Ein Windhauch könnte mal ein paar Blätter und Stiele verbiegen oder ein bisschen Staub aufwirbeln, so wie bei einem Maler, der an einem unendlichen Gemälde arbeitet; einem Gemälde, dass durch seine gewaltigen Ausmaße in sich selbst immer kleiner wird.

Vielleicht würdest du mich besuchen kommen? Auch wenn es nur für eine kurze Weile wäre, Zeit bedeutet hier nicht sehr viel. Tage können nur an Fingern abgezählt werden, und Stunden existieren erst gar nicht. Manchmal bleibt es wochenlang dunkel, und an anderen Tagen wird es nie Nacht. Es gibt viel zu tun. Am Tag kann man der Musik des Windes zuhören, wie er über den Boden tobt, begleitet von Grillen an Streichern und Fröschen an Rhythmusinstrumenten. Ich stelle mir vor, wie sich jede Grille ein bisschen anders anhört, und jeder Frosch seinen eigenen Beat hat. Nachts kann man den Sternen zusehen, wie sie entstehen und vergehen. Jeder von ihnen hält hundert Millionen Jahre durch, und dann ist er weg. Manchmal kann ich Planeten sehen, rote, grüne, und einen blauen, aber mit einem anderen Blauton als der der Erde. Ich schaue zu, wie sie durch ihre himmlischen Umlaufbahnen wandern, mit den Monden Verstecken spielen und mit den Kometen und Asteroiden um die Wette trotten.

Wenn du vorbeikämst, würde vielleicht einem von und einfallen, was man sagen könnte. Und wenn einem von uns etwas einfiele, würde es gesagt werden und dann würden die Worte ins Gras und auf den Boden laufen, mit den Kieselsteinen hüpften und sich im Klee verfangen. Und wenn der Wind kommt, würde er sie fortwehen, die Straße entlang, egal in welche Richtung, wohin auch immer gesprochene Worte wehen. An einem Tag könnten wir nur Fragen stellen, an anderen nur Antworten geben. Wir könnten uns auch versprechen, nie Fragen zu stellen, sondern nur Dinge zu sagen, deren wir uns sicher sind. Wir hätten unsere eigene Sprache, die mehr enthalten würde als nur Silben und Wörter. Die Bedeutungen wären vom Stand des Mondes abhängig, davon ob es regnet oder nicht, und davon wie die Wolken aussehen. Lass und niemals die gleichen Dinge zweimal sagen wenn wir reden, schließlich werden wir immer wissen, was wir bereits gehört haben. Außerdem gibt es in unserer Sprache Millionen von Möglichkeiten, etwas zu sagen. Vielleicht könnten wir Tage bestimmen, an denen wir nur darauf achten, wie sich Dinge anhören. Wir würden nur auf Tonfall, Satzbau und Ausdrucksweise achten. Und wenn wir alles gesagt haben, das gesagt werden muss, können wir schlafen und aufwachen und neue Sachen sagen, denn alles würde anders sein. Nicht so anders, dass es das vorher Gesagte ungültig machen würde, aber anders genug, um eine neue Bedeutung zu verdienen.

Es könnte auch so sein, dass wir am Straßenrand nicht einmal Menschen sein müssten. Ich könnte ein Hundewelpen sein, und nachts würde ich Welpenträume träumen; ich könnte Hasen durch die Felder jagen und durch das Gras rollen. Ich würde mich abends vor dem Schlafenlegen dreimal um mich selbst drehen und mit dem Schwanz über meiner Schnauze und den Augen einschlafen. Vielleicht würdest du ein Kätzchen sein wollen? Du könntest auf der Motorhaube schlafen und die Grillen im Staub jagen. Du könntest Stunden damit verbringen, dein Fell zu lecken und putzen, und es gäbe nie einen Grund aufzuhören, deine Streifen vor dem Spiegel einer Pfütze glatt zu streichen. Wir könnten die ganze Nacht durch mit Miauen und Bellen reden und mit Heulen und Jaulen diskutieren. Alles würde sich um Schnurhaare, Pfoten und Fell drehen, um Herumlümmeln und Träumen.

Um Tag und Nacht, Möglichkeit und Unendlichkeit. Wir würden zuschauen, wie sich die Vergangenheit in einen neuen Tag auflöst und der morgige Tag wäre irgendwo die Straße runter. Alles drehte sich um das Hier und nicht um das Da; um jetzt und nicht um später; um das Tun und nicht um das Planen. Wir würden den anderen Autos beim Vorbeifahren zusehen und winken und darüber traurig sein, dass sie weg sind, aber ohne uns Sorgen zu machen, denn wir werden sie wiedersehen. Und vielleicht, irgendwann später, mache ich mich auch wieder auf den Weg.
 



 
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