Am Ufer

Am Ufer

Die Welt hörte auf sich zu drehen, als sie sich zu ihm setzte.

„Hallo“, nickte sie ihm zu. Sie schenkte ihm noch ein leicht verlegenes Lächeln, um dann in die Wellen zu schauen, die unter ihren baumelnden Beinen gegen die Mole schwappten. Ihr Antlitz drohte - neben der bereits erstarrten Welt - auch noch ihn selbst zu lähmen. Überfordert und mit heißem Kopf drehte auch er sich wieder den Wellen zu.

„Hallo… Ganz schön windig heute, was?“, sagte er umständlich.

„Ja…“, sagte sie nur. Neugierig beäugte er sie von der Seite: Sie hatte die Hände locker auf dem Schoß gefaltet. In ihrem Gesichtsausdruck konnte er zwar eine Spur Verlegenheit erahnen, aber in erster Linie wirkte sie nachdenklich auf ihn.

Fragen die sich schon lange formiert hatten, drängten sich langsam in den Vordergrund seiner Gedanken: Warum sollte sich diese Frau einfach so neben ihn setzten? Mitten im Großstadtdschungel! Er hatte sie zuvor noch nie gesehen, und jetzt setzte sie sich einfach direkt neben ihn. Als wäre es das normalste der Welt! Misstrauisch drehte er den Kopf über die Schultern und schaute sich hinter ihnen auf der Uferpromenade um. Doch die Erwartung dort einen Stalker zu finden, vor dem sie sich neben ihm in Sicherheit bringen wollte, oder eine Gruppe ihrer Freunde, die gespannt auf die Einhaltung einer Wette warteten, wurde nicht erfüllt. Im Gegenteil: die anderen Menschen am Ufer schienen ihnen keinerlei Beachtung zu schenken.

„Da ist niemand.“, sagte sie, ohne ihren Blick von den Wellen und der im Wasser gespiegelten Abendsonne abzuwenden.

„Aber warum...“, begann er, doch sie unterbrach ihn bereits, die Frage wohl erwartend: „Weil ich es wollte.“

Er schluckte das nächste "Warum" herunter. Ihre Ohrringe glitzerten unter ihren blonden, an den Seiten nach hinten gesteckten Haaren.

„Und wer bist du?“, fragte er, während er die App ausschaltete, die seine Kopfhörer immer noch mit Musik versorgte.

„Ich bin Thea, und du?“, diesmal sah sie ihn an und lächelte. Ihm schien das Herz kurz stillzustehen.

Er sagte seinen Namen, und beide schauten wieder auf das Wasser. Der Wind war recht kühl, und ihm fing an zu frösteln, so dass er sich die Ärmel seines Pullovers runter krempelte. Auch sie zog ihre Jacke etwas enger. Ihr Kleidungsstil - nicht zu casual, nicht zu schick, und irgendwie cool, gemischt mit einem kleinem Bisschen sexy - vollendete in seinen Augen ihre ungewöhnliche Schönheit.

Irgendwann lehnte sie sich ohne Vorwarnung bei ihm an, und er hob unwillkürlich seine Hand, um ihr sanft den Hinterkopf zu kraulen. Er wusste nicht, warum er das tat, aber er tat es. Und sie schien nichts dagegen zu haben.

„Du wirkst etwas niedergeschlagen. Was ist los?“, fragte er unsicher.

„Ob du es glaubst oder nicht, aber seitdem ich hier sitze, geht es mir schon viel besser.“, sagte sie mit etwas verträumtem Tonfall .

Der aufbrausende Wind brachte den Geruch des Flusses, aber trotzdem konnte er die leichte, wohlriechende Note ihres Parfüms ausmachen. Ihre Haare wehten in der Brise, und er bekam eine ihrer Strähnen ins Auge. Kichernd entschuldigte sie sich, strich sich die Haare wieder hinter das Ohr, um sich erneut an ihn zu lehnen. Diesmal legte sie einen Arm um seine Hüfte.

Viel Zeit verging so, während beide, sich gegenseitig gegen den kalten Wind wärmend, weiterhin das Wasser und die Abendsonne betrachteten. Ihr Geruch und ihre Nähe betörten und erregten ihn. Ein paar Sätze wurden noch gesagt, ein paar Mal wurde leise gelacht, doch über ihre Beweggründe erfuhr er nichts mehr. Das Schauspiel des Spätsommerabends schritt voran, und es wurde dunkler und kälter, doch die beiden blieben dort über den Wellen sitzen, immer enger aneinandergeschmiegt, und sich gegenseitig den Rücken streichelnd.

Dann löste sie sich doch von ihm. Sie hob ihren Kopf und murmelte: „Ich muss jetzt leider gehen.“

Sie warf ihm ein trauriges Lächeln zu, und ein Kribbeln der Enttäuschung erfasste seinen Rücken und Nacken.

„Uhm. Okay…“ sagte er. „Wohin musst du denn, vielleicht kann ich dich ein Stück begleiten?“

Sie schüttelte den leicht gesenkten Kopf und drehte sich dann etwas zu ihm, um seine Hände in die Ihre zu nehmen. Mit einem unsicheren und gespannten Gesichtsausdruck - als hätte sie Angst vor etwas - sah sie ihn an.

Verwirrt suchte er nach seinen Worten.

„Ich kann dir meine Handynummer…“ doch sie schüttelte abermals den Kopf. Eine Träne lief ihr die Wange runter, und sie sah ihn aus erröteten Augen an.

„Es geht nicht“ sagte sie mit gebrochener Stimme und einem gezwungenem Lächeln. Dann hob sie ihre Hände an seine Wangen, um sein Gesicht dem ihren entgegenzuführen.

Absolute Stille und eine Sinfonie aus Glück eroberten gleichzeitig seine Welt. Seine Wahrnehmung von Zeit und Raum wurde auf den Kopf gestellt, geschüttelt und in einen Strudel geworfen. Und doch war es nur ein unkomplizierter Kuss. Ihre Lippen waren Kühl, und sie schmeckte etwas nach Pfefferminze. Ab und zu berührten sich ihre Zungenspitzen. Er Spürte ihre Tränen auf seiner Nase und seinen Wangen, und gleichzeitig wurde er von der Mischung aus lieblichem Parfüm und urtümlichen Eigengeruch übermannt.

Nach einer nicht bestimmbaren Zahl alles einnehmender Sekunden lösten sie sich.

Jetzt hatten sie beide Tränen in den Augen. „Was… warum?“ Er suchte in seinem versprengten Verstand nach Worten, doch sie hielt ihm einen Zeigefinger auf die Lippen.

„Es ist kompliziert. Aber ich danke dir für diese Zeit!“, sagte sie, und strahlte ihn aus verweinten und glücklichen Augen an.

Mit diesen Worten gab sie ihm noch einen Kuss auf die Wange, stand auf und ging davon.




Später, als die Sonne längst verschwunden war, und die Lichter der Stadt ihren Platz in der Reflexion auf dem Wasser eingenommen hatten, ging er gedankenverloren nach Hause. Er bemerkte die wenigen anderen Menschen nicht, die seinen Weg kreutzen. Langsam - ja, ganz langsam - begann sich die Welt wieder zu drehen.
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es ist sicher nicht ungewöhnlich, im "Großstadtdschungel" fremde Menschen zu treffen.

Was mir am besten an diesem Text gefällt ist das Gefühl des Protagonisten, dass er meint, die Welt höre sich auf zu drehen - und wie sie sich langsam wieder bewegt. Das hast du gut transportiert.

Einige kleine Rechtschreibfehler kannst du noch verbessern.

Gruß DS
 



 
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