Amazon, Retouren und Bodenproben

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seefeldmaren

Mitglied
zählung

Der Saal war leer. Die Tische standen quer.
Drei Listen lagen ungeordnet offen.
Ein Stift war weg. Das Kästchen stand nicht mehr
an seinem Platz. Man hatte nichts getroffen.

Ein Mann erschien, nahm einen neuen Zettel,
verglich die Spalte mit der Zahl am Rand.
Er sagte: Das wird später noch ergänzt,
und schrieb ein Kreuz, wo vorher keines stand.

rückgabe

Der Schlüssel lag verpackt im braunen Umschlag.
Die Nummer stimmte, doch das Datum fehlte.
Man wusste nicht, wie lang der Zugriff galt,
nur dass zuletzt ein dritter Name zählte.

Sie öffneten das Fach, es war nicht leer.
Drei Mappen lagen ungeknickt daneben.
Man las nicht laut. Es war schon viel zu spät.
Dann sagte einer: Lassen Sie es kleben.


freigabe

Ein feiner Riss verlief durch eine Fläche.
Die Folie klebte nicht mehr ganz am Rand.
Man schloss erneut, so wie es vorgeschrieben,
und schrieb das Wort: Noch einmal freigegeben.

Die Klappe war verriegelt, nicht versiegelt.
Ein Aufkleber war blass, doch gut zu tragen.
Der Scan ergab ein Feld mit leichten Spuren.
Man hob den Deckel, ohne nachzufragen.

prüfung

Die Schrauben waren leicht zu überdrehen.
Ein Protokoll lag offen auf dem Tisch.
Ein Mann verglich die Maße mit dem Plan
und sagte leise: Ja, ist nicht identisch.

Der zweite sah sich kurz im Raum umher.
Er schrieb zwei Zahlen neu, mit gutem Stift.
Dann klappte er das Deckblatt wieder zu
und legte alles dorthin, wo es griff.


überprüfung

Der Stempel war zu hell. Man zog ihn nach.
Die Akte wies am Rand noch einen Bruch.
Ein Haken fehlte bei der zweiten Spalte.
Der Prüfer schrieb: Bericht zurück an Buch.

Die Mappe war versiegelt, nicht genäht.
Der Deckel saß, doch etwas hat gefehlt.
Man schrieb erneut, mit sachlich fester Hand:
„Erledigt wie beantragt, Rückversand.“


eingang

Die Sendung kam am Mittwoch unverhofft,
der Umschlag leicht beschädigt an der Ecke.
Ein Prüfer sagte, das geschehe oft,
die Sendung sei jedoch auf guter Strecke.

Ein Stempel zeigte Druck vom ersten Mal.
Das Siegel war im Ganzen ungebrochen.
Die Pappe saß. Die Falzung war normal,
der Boden leicht verschoben, nicht versprochen.


weitergabe

Der Vorgang galt als gültig, trotz Verzögerung.
Man trug ihn in das nächste Buch von oben.
Ein Eintrag fehlte noch zur Zugehörung,
doch war der Rest bereits im Fach verschoben.

Die Prüferin vermerkte: Übergang.
Ein Haken stand noch offen in der Liste.
Der Deckel wurde zugemacht mit Zwang,
als ob man etwas darin still vermisste.

rückfrage

Ein Schreiben kam mit Stempel aus der Stelle,
die früher nicht für solche Fälle sprach.
Man las den Text, vermerkt in alter Zelle,
und fragte, was der Hinweis wohl versprach?

Die Zeile war in Klammern eingeschoben,
am Rand vermerkt, mit Bleistift angeschlagen.
Der Prüfer las sie leise, fast erhoben,
und strich dann durch. Man müsse nichts mehr fragen.

abschluss

Man zog die Mappe aus dem Fach zurück
und legte sie auf Nummer dreizehn-sieben.
Ein Blatt war leicht verrutscht, ein kleines Stück,
man konnte es mit einem Handgriff schieben.

Der Eintrag wurde nochmals laut gelesen.
Der Prüfer tippte zweimal auf das Feld.
Dann schrieb er: „Unbedenklich. Ohne Frist.“
Der Raum war still. Die Lampe surrte hell.

verlust

Man suchte nach dem Eintrag auf dem Band,
doch fand nur Lücken zwischen zwei Geräten.
Ein Protokoll war lesbar, nicht gesandt,
die Nummer ließ sich keinem Ort zuordnen.

Ein Zweiter nahm das Päckchen in die Hand
und legte es verkehrt in das Regal.
Er sagte nichts. Die Sendung blieb geschlossen.
Ein Kästchen war noch leer. Es war egal.

bodenproben

Ein Graben zog sich durch das Firmenland.
Man hatte ihn vermessen, nicht begonnen.
Zwei Stäbe steckten schräg im trocknen Sand.
Ein Schild lag da, verblasst und leicht verzogen.

Die Karten wurden nicht erneut geprüft.
Man ließ die Werte ruhen, wie gefunden.
Der Mann, der ging, vermerkte nichts im Buch
und sagte nur: Das reicht. Für diesen Boden.

zwischenfall

Dann trug ein Mitarbeiter es zum Lift:
Das Päckchen war versiegelt und verschlossen.
Er stolperte, die Sendung machte einen Drift
und ist im Bogen durch das Dach geschossen.

Es landete am Rand von Block-B zwei.
Das Fenster brach, das Päckchen war verschoben.
Der Hausdienst kam. Es war noch Platz dabei.
Man schrieb: „Defekt. Zur Prüfung aufgehoben.“
 

sufnus

Mitglied
Hey!
Ulf Stolterfoth meets Ror Wolf. :)
Eine hochinteressante Dadaiade, die wohltuenderweise weitgehend ohne expressionistische Auftrumpfungen auskommt.
Was dabei natürlich auffällt und auch eine Lesehürde für allfällige Schnellschussrezeptionen darstellt ist die Länge (nach Onlinemaßstäben oder Literaturzeitschrift-Maßstäben sogar: Überlänge).
Wobei hier die relative Länge natürlich auch Teil des "Gesamtkonzepts" ist. :)
Ich mag es sehr.
LG!
S.
 

seefeldmaren

Mitglied
Hey sufnus,

hätte nicht gedacht, dass das auf Resonanz stößt, aber umso mehr erfreut es mich!
Danke auch für die Sterne.

Maren
 

sufnus

Mitglied
Hey Maren!
Man könnte sicher überlegen, ob als "verkaufsfördernde" Maßnahme womöglich zwei, max. drei Teilgedichte streichbar wären, so dass die Länge des Zyklus etwas weniger lesehemmend wirkt. Aber es fällt mir beim Durchlesen nicht leicht, mich gedanklich von einzelnen Teilen zu trennen und diese so zu Streichkandidaten zu machen (was natürlich schon mal ein sehr gutes Zeichen ist ;) ).
Und dann ist - unabhängig von der Länge - natürlich zweierlei anzusprechen, was beim Lesepublikum zu einem verwirrten Rücksendeantrag führen könnte:
Das eine ist sicherlich, dass "die Handlung" (wenn man das so nennen will) über ganz weite Strecken ein irgendwie absurd-bürokratisches Auf-der-Stellen-Treten ist, ohne dass man als Leser*in so richtig nachvollziehen kann, "was da eigentlich passiert". Dieser Aspekt ist ja nun der eigentlich struktur-bildende und konzeptionelle Teil des Gedichtzyklus und den würde ich daher für "zumutbar", ja sogar für unverzichtbar und höchst rühmenswert erklären, auch wenn eben der/die eine oder andere damit nicht so viel wird anfangen können.
Das andere ist dann dieser Bruch, der durch die letzten beiden Teilgedichte "passiert" und der ja im vorletzten tatsächlich auch als "Graben" ins Bild rückt. Da bricht plötzlich etwas einigermaßen Fremdartiges in die routiniert ablaufenden (Schein-)Prozesse der vorangehenden Teile ein. Das ist auf jeden Fall auch nochmal ein Verstörungsmoment. Hier könnte man dann fragen: Ist es nötig (oder poetologisch "klug") dem Gedichtzyklus noch solch ein Art Knalleffekt zu verpassen? Zumal der ja in der letzten Zeile wieder in der Bürokratieroutine verpufft.
Ich würde sagen: Ja! Unbedingt! Das ist am Ende ja gerade der springende Punkt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man das auch anders sehen könnte (können könnte). :)
LG!
S.
 

seefeldmaren

Mitglied
Aber ich könnte mir vorstellen, dass man das auch anders sehen könnte (können könnte). :)
Hallo sufnus,

alle LeserInnen wird man, egal bei welchem Gedicht, nicht erreichen können. Vor vier Wochen bestellte ich mir eine Pflanzenlampe, die Zustellung dauerte bis gestern und welch ein Chaos und Mailverkehr mit dem Support entstand und was da alles so geschrieben wurde war der Wahnsinn. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Da entsanden die Gedichte, aus Wutfrust heraus.

Also, danke Amazon (und DHL) für die Lyrik. :D
Danke auch für die Sterne @sufnus und @Winterling - auch für deine Herausarbeitung und das Preisgeben deiner Gedanken.

Maren
 



 
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