Ameisen

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Seit einer halben Stunde sitze ich vor meinem Notebook und starre den Bildschirm an. Der Wind weht lau, der Himmel ist milchweiß überzogen und ab und zu röhrt auf der Hauptstraße hinter den Häusern ein Motorrad vorbei. Ansonsten: Stille. Ich stütze die Ellenbogen auf dem Tisch ab und mache nur ganz kurz die Augen zu, sie sind heute irgendwie viel schwerer als sonst… und höre ein Kichern. Ich öffne die Augen. Neben meinem Notebook hocken drei Ameisen und machen sich über mich lustig.
„Guck sie dir an, faul wie eine ganze Schar Blattläuse kurz vor dem Melken!“
„Die hat heute überhaupt noch nichts gemacht, oder?“
„Nö. Nur rumgesessen und gegessen und in so einem Buchdings geblättert.“
„Ob ich es in ihre Nasenlöcher schaffen würde?“
„Igitt! Aber heute hättest du gute Chancen. Wollen wir wetten?“
„Top! Ich setze den Tropfen Apfelkompott von heute morgen!“
Ich blinzele. Dann lächle ich grimmig. „Top!“ rufe ich, „ich wette drei zerquetschte Ameisen dagegen!“
„He! Was denn! Soviel Aggression!“ ruft die erste Ameise.
„Lasst uns stiften gehen!“ schreit die zweite, rührt sich aber nicht vom Fleck.
„Welche Ameisen meint sie?“ fragt die dritte. Ohje. Ein Schnellmerker.
„Tja, welche wohl?“ frage ich und beuge mich sehr dicht über den Tisch. Aus der Nähe betrachtet sehen sie aus wie drei kleine Aliens.
„Wir können doch über alles reden!“ ruft die Anführerin.
„So? Wie kommt ihr dazu, euch über mich lustig zu machen? Ich bin hier schließlich die Giesserin, die Pflanzerin und Betreuerin, ohne mich gäbe es hier keine Margariten, auf denen ihr eure Blattläuse weiden könnt!“ sage ich und haue mit der Faust auf den Tisch. Die drei Ameisen hopsen hoch.
„Du meine Güte“, sagt die erste, „du bist heute aber empfindlich. Du musst doch zugeben, dass du wirklich noch nichts vollbracht hast, oder?“
Ich schnaube. „Natürlich habe ich heute schon was gemacht, ich bin aufgestanden, habe gefrühstückt, wichtige Level in meinem Spiel geschafft, geduscht, ein Nickerchen gemacht… also, was jetzt?“
Die drei starren mich an. Die zweite Ameise fängt an, im Kreis herumzulaufen und zu deklamieren. „Arbeiten, arbeiten, arbeiten, das ist der Lebenssinn, vorwärts, nach oben, nach unten, immer für das Volk, arbeiten, arbeiten, arbeiten, das ist der Lebenssinn, graben, sammeln, jagen, arbeiten, arbeiten, arbeiten…“
Ich habe keine Lust mehr zuzuhören und haue nochmal mit der Faust auf den Tisch. „Klauen, stehlen und belagern meint ihr wohl, was? Was ist mit meinem Apfelkompott, das ihr heute morgen übernommen habt? Gestern habe ich eine von euch in der Schaumkrone meines Rhabarberbiers gefunden! Nicht mal Wasserflaschen sind vor euch sicher!“
Die dritte Ameise richtet sich auf. Sie sieht empört aus. „Wenn bei uns Dürre herrscht und du so dumm bist, Wasser stehen zu lassen, bedienen wir uns, das ist doch wohl klar, oder?“
Ich zische irgendwas vor mich hin.
„Und das mit der Schaumkrone war ein Malheur, wenn Nr. 1268 gewusst hätte, dass man im Schaum einsinkt, wäre er wohl vorsichtiger gewesen.“ Die drei Ameisen senken die Köpfe und lassen die Fühler hängen. „Friede seinen Beinen, möge er für immer arbeiten“, murmeln sie im Chor.
Ich zucke mit den Schultern. „Wieso das? Ich habe ihn nur über das Geländer geschnipst, da war er bei bester Gesundheit“, erkläre ich.
„Das war Nr. 1743. Der ist heute auf Patrouille am Nachbarbalkon.“
„Und wo ist… oh.“ Entsetzt schlucke ich. Die drei Ameisen verziehen keine Miene und ich reiße mich zusammen. „Auf jeden Fall habe ich heute wichtige Dinge erledigt, Menschendinge, und wenn ihr arbeitssüchtigen Landplagen das nicht versteht, selbst schuld.“ Zufrieden lehne ich mich zurück. Damit ist die Diskussion wohl beendet.
„Du wolltest die Hühnergötter wieder aufhängen, schon letzte Woche hast du davon geredet, wir haben dich gehört! Und? Wo sind sie?“ Die zweite Ameise richtet sich auf und stemmt das erste Paar Beine in die Seite.
„Keine Ahnung, ich bin halt noch nicht dazu gekommen, und wozu braucht ihr überhaupt Hühnergötter, die sind doch total nutzlos für euch! Kein Zucker, kein Bier, nichts zu holen auf den Dingern!“ frage ich genervt.
„Die schaukeln so schön“, flüstert die dritte Ameise und bekommt sofort Seitenhiebe von den zwei anderen. Sofort redet die erste weiter: „Und du wolltest wieder Johanniskraut pflanzen, das hast du auch nicht gemacht. Faul, du bist einfach faul!“
„Das Johanniskraut hat sich ausgebreitet wie eine Plage, es hätte den ganzen Balkon übernommen, wenn ich es gelassen hätte.“ Wieso verteidige ich mich eigentlich?
„Der ganze Balkon voller Johanniskraut“, murmelt die dritte Ameise mit glasigen Augen, „ich könnte endlich mal schlafen…“ Die anderen zwei wirken auch etwas benommen. Aha. Soviel zum Thema ‚arbeiten, arbeiten, arbeiten‘. „Und überhaupt!“ rufe ich, „wieso seid ihr auf meinem Balkon? Im zweiten Stock? Was wollt ihr hier?“
Sofort stellen die drei sich auf wie ein kleines Bataillon und fangen an zu singen: „Wir besiedeln, wir erobern, wir arbeiten, arbeiten, arbeiten, immer weiter, immer voran, alle zusammen, niemals allein, wir besiedeln, wir erobern…“
„Schluss jetzt!“ schreie ich und donnere noch einmal mit der Faust auf den Tisch. „Ihr macht euch jetzt davon, oder ihr endet wie Nr… Nr. eintausenzweihundertirgendwas! Lasst euch hier nicht mehr blicken!“
„Ist ja schon gut“, sagt die erste Ameise kühl, „wir sind schon weg.“
„Und kommen niemals wieder…“ ruft die zweite.
„Aber lass ja keinen Kuchen herumstehen, ich garantiere für nichts“, kräht die dritte und dann marschieren sie über den Balkontisch davon und verschwinden in einer Holzlücke. Kurz bevor sie weg sind, höre ich, wie die erste zur zweiten sagt: „Meinst du, sie hat bemerkt, dass Nr. 388 und Nr. 2954 in den Lüfter ihres Notebooks gekrochen sind?“
„Nö. Sie ist einfach… tja, ein Mensch. Kann sie ja nichts für.“
„Morgen erobern wir dann das Wohnzimmer, ok?“
„Jaaa! Wir erobern, wir besiegen, wir besiedeln…“ singen alle drei einstimmig und sind verschwunden.
Ich spitze meinen Mund. Im Lüfter, ja? Ich hebe mein Notebook an, schüttele es kräftig und höre Gejohle aus seinem Inneren. Wütend schüttele ich noch ein …
 

Klaus K.

Mitglied
stachelbeermond,

hey, das ist mal eine nette, lustige Idee! Die drei Kadetten sind Spitze... Moment, was krabbelt denn da auf meiner Tastatur?


Mit bestem Gruß, Klaus
 
Hallo Klaus,

dankeschön! Und ich kann nur warnen - sie sind überall und ich vermute, sie bereiten die Weltübernahme vor. Wenn sie sie nicht längst übernommen haben!

Beste Grüße,
Stachelbeermond
 



 
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