Amira

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Marc Hecht1

Mitglied
Amira war elf Jahre alt – und als sie jetzt vor dem Haus an der Dorfstraße von Brökel saß, blickte sie aufmerksam umher. Die grüne Pracht der Natur entzückte sie, die Wiesen, die Büsche und Bäume. Schön war das. Überall war es grün. Ganz anders als in Hama. Hama ist in Syrien, vor einem Jahr war Amira von dort nach Brökel gekommen, einen Ort an der Elbe.
Es waren die ruhigsten Tage, an die sie sich erinnern konnte.
Amira hatte schnell Freunde gefunden in Brökel. Zuerst waren es Tiere. Bobby, der schwarze Kater der Nachbarn, schlich um sie herum, suchte ganz offensichtlich ihre Aufmerksamkeit und schnurrte ausdauernd, wenn sie ihn streichelte.
Später kam Festus, der Airdale eines anderen Nachbarn. Und auch Festus wollte ihr Freund sein, setzte sich vor sie und legte seine Pfote auf ihren Schoß.
Ja, Amira war entzückend.
Doch der Mann, der jetzt aus dem Haus kam und an ihr vorüberging, beachtete sie nicht, war in Gedanken. Sehr vornehm sah er aus, blauer Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte, Amira sah schüchtern auf.
„Wie geht's“, fragte der Mann, offenbar in Gedanken.
„Mir gut“, sagte Amira.
Der Mann stutzte und blieb stehen. „`Mir gut´ ist kein Satz“, erklärte er, „`danke, mir geht es gut´ musst du sagen.“
„Danke, mir geht es gut“, wiederholte Amira eifrig.
Der Mann nickte und ging weiter. Und Amira freute sich. Sie hatte wieder etwas gelernt, im Vorbeigehen, sozusagen, das war doch schön! Sie sah umher und jetzt kam noch ein Mann an ihr vorbei, älter und dicker, diesmal. Furchtsam sah sie wieder auf.
„Na, mien Deern“, meinte der Mann gutmütig, und Amira sagte schüchtern: „Danke, mir geht es gut.“
„Dat is scheun“, sagte der Mann. Und auch er ging weiter.
Amira sah ihm nach, auch dieser Mann war offensichtlich nett, aber sie hatte kein Wort verstanden, er sprach offenbar ein anderes Deutsch. Sie bekam einen Schreck, weil es wohl von dieser, ohnehin schon so schwierigen Sprache, auch noch mehrere Versionen gab. Resigniert schüttelte sie den Kopf und blickte auf die Wiesen und auf die Elbe, sah dann aber entschlossen auf. Gut, wenn es denn eben so war: Sie würde dann nicht nur ein Deutsch lernen, sondern zwei Deutsch.
 

Blue Sky

Mitglied
Klingt wie ein Aufruf an alle, sich mit dem ganzen Deutsch zu beschäftigen. Mit elf hat man sogar die besten Voraussetzungen dafür meine ich, und es kann ja auch richtig Bock machen. Wenn jemand eine Tür dafür öffnet, gehts leichter.

LG
BS
 

Klaus K.

Mitglied
Marc,

das "hat was"! Und dann die "zwei Deutsch" am Ende! - Aber die Erfahrung machen wir ja auch, man muss nur mal von einem Bundesland in ein anderes wechseln, dann glaubt man auch man versteht nichts mehr! Die Bewohner geben sich teilweise auch keinerlei Mühe ihren grauenhaften Dialekt zu unterdrücken, weder im persönlichen Gespräch, noch bei Interviews vor laufender Kamera.
Das Flüchtlingskind hier bei dir bringt das auf den Punkt! Eine m.E. gelungene Darstellung der Problematik!

Mit Gruß, Klaus
 



 
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