Amor, Sohn des Mars

Eine von Bodos Stammkneipen damals hatte den Grundriss eines Tortenstücks, gleichschenkliges Dreieck und Kreisbogenausschnitt als Schmalseite. Es war ein Ecklokal in einem alten Haus mit abgerundeter Fassade. Ursprünglich war die weit ausschwingende runde Ecke eine Pinte für Hafenarbeiter gewesen. Die meisten ihrer Wohnblocks im Viertel waren im Krieg zerbombt worden und Hafenarbeiter verkehrten längst nicht mehr in der Bierbar. Inzwischen hatten Büroangestellte sie für sich entdeckt. Hat was Dynamisches, fanden sie, wenn sie auf dem Platz davor ihre Autos oder Motorräder parkten und die Fassade kurz musterten. Dann gingen sie mit energisch federndem Schritt auf den Eingang zu, die drei Stufen hinauf und durch die massive Tür hinein.

Drinnen trug eine schwarzlackierte Eisensäule die hohe Decke; rund um die Säule in Ellenbogenhöhe ein schmales Abstellbord für Gläser und Flaschen. Ein riesiges Gründerzeitbuffet, vom ewigen Qualm verfärbt und zernagt, dräute hinter dem Tresen.

Um Mitternacht wurde es fast immer voll. Ein Stammgast erklärte einem Fremden den Ablauf der Nacht: „Von halb zwölf bis halb eins hier im X, dann ins Y und ab halb zwei endlich alle im Z. Das ist der Circulus vitiosus bei uns.“ Bodo, der es aufschnappte, dachte, das sei ja gar kein Circulus. Sondern? Ein anderer Tourist fand das von Hafenarbeitern aufgegebene und nun von Angestellten bevölkerte Gehäuse echt rustikal.

Die Säule bildete mit dem Abstellbord und der Traube biertrinkender Männer um sie herum einen Pfropf. Die kleine Stehbierhalle zerfiel so in mehrere Stauräume, die Zirkulation war erschwert. Eigentlich hasste Bodo Kneipen, in denen man nicht auf und ab gehen kann. Während aus den Boxen an der Decke stampfende Musik erdröhnte, stand man darunter zusammengepresst wie Spargelspitzen in einer Blechdose. Von Körpern nahm man Ausschnitte wahr, von Köpfen Profile, von Gespräche Satzfetzen. Bodo langweilte sich und dachte schon an die Zeit, zu der man ins Y wechselt. Dort würde es zwar auch beengt sein, aber er kann ja später noch ins Z, wo man, jedenfalls gegen Morgen, etwas freier atmet.

Außerdem war es im vorigen Winter eine Zeitlang noch schlimmer gewesen. Die beiden Wirte hatten den Zeitpunkt hinausschieben wollen, zu dem die Gäste der betriebsamen Langeweile entfliehen und sie dabei doch nur an einen anderen Ort mitnehmen. Also suchten die Kneipiers neue Attraktionen für ihr Lokal. Die rustikale Atmosphäre sollte noch machomäßiger werden. Der Stil, der herauskam, war military.

Bodo erinnerte sich später vor allem an das große, schwere, engmaschige Tarnnetz aus NATO-Beständen, das sie zwischen einem Türpfosten und der Mittelsäule aufgespannt hatten, von der Decke bis zum Dielenboden. Aus Stauräumen wurden so Staukammern. Das Gedränge begann gleich hinter der Tür; fast unmöglich, zum Tresen vorzudringen, bis einen eine Woge neuer Gäste doch um die Säule herumspülte. Angestrengt bemüht, die Eingetroffenen durch das dichte Netz zu erkennen, starrte man auf einmal seinem Intimfeind in die Augen.

Bodo kam mit Günther ins Gespräch. Sie standen eingekeilt nebeneinander und Günther sagte: „Du schaust missmutig drein. Gefällt es dir nicht?“ - „Man kann’s mit der Nachrüstung auch übertreiben. Mich stört, dass der militärische Scheißkram jetzt sogar zivile Bierkneipen erobert.“ - Günthers Lachen klang amüsiert. „Mich nicht. Und dann, mein Lieber, habe ich ja verweigert und Ersatzdienst gemacht. Habe ich also nicht das Recht, Spaß an der witzigen Dekoration zu haben?“

Sie wurden unterbrochen, als sich ein Paar an ihnen vorbei den Weg hinaus zu bahnen suchte. Die beiden strandeten am Netz, das einige auf der anderen Seite gerade vordrückten und ausbeulten. Der Größere, die Rechte auf der Schulter des Begleiters, zerrte mit der Linken eine Weile an den Schnüren. Endlich kamen sie durch. Sie lachten sich an, als sie die Tür passierten.

„Eine schöne Szene“, fand Günther. - „Hm, sozusagen: Amor, Sohn des Mars …“ - Aber sie sind doch im gleichen Alter.“ - „Nein, es war sinnbildlich, ich meine, die ganze Situation, das Ambiente und was es mit den Gästen macht.“

Bodo sollte auch noch über das Riesenmoskitonetz grinsen. Hatten die Behörden eingegriffen, war gegen feuerpolizeiliche Vorschriften verstoßen worden? Er betrat schlecht gelaunt die Bar und fühlte sogleich, wie seine Mundwinkel unwiderstehlich nach oben gezogen wurden. Das Netz – es war nicht gefallen, das nicht. Sie hatten es vielmehr wie eine Tüllgardine zur schönsten Portiere gerafft, unter der man bequem hindurchschritt.

Günther kam auf ihn zu und deutete auf die verwandelte Dekoration: „Recht so? Zivil genug?“ - „Ja, und auch noch komisch. Aber auf die Dauer würde ich etwas edleren Stoff empfehlen, vielleicht blauen Samt.“ - Günther im Weitergehen: „Zum Beispiel. Oder noch etwas anderes. Anything goes.

Im Mai fiel die militärische Tüllgardine. Sie verwandelten das Lokal in einen Frühlingswald. Frisch belaubte Sträucher waren ausgegraben, einige kleine Bäume gefällt und mit bunten Glühbirnen versehen worden, um aus der alten Hafenarbeiterkneipe für zwei Nächte eine illuminierte Stadtparkecke zu machen. Barbarisch, fand Bodo. Aber die anderen Gäste sagten anerkennend, die Wirte ließen sich immer was Neues einfallen.

Es kam der Sommer und sie schütteten weißen Sand ins Lokal. Man stapfte unbeholfen durch eine Dünenlandschaft und lag um Mitternacht in Liegestühlen, von grellem Scheinwerferlicht angestrahlt.

Jetzt darf man sich auf den Herbst freuen. Wie Bodo hört, wird es ein Weinfest geben. Sie werden Girlanden aufhängen und echte, reife Trauben an ihnen befestigen. Die Trauben werden im Zigarettenqualm gegrillt werden. Es wird sehr komisch werden, zum Kichern.
 



 
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