An der Theke

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cecil

Mitglied
An der Theke

Kaputtgehen kann man leichter als du denkst Kumpel
stell dir nur mal vor du arbeitest
buckelst tatsächlich auf dem Großmarkt machst Schicht
Kisten schleppen Zigarettenpause Kisten schleppen Feierabend

Das Geld legst du an in Kino und Kneipe
bei Gelegenheit in Frauen und am 20. bist du blank
denn du bist noch jung und willst nichts verpassen

Wer dir dann ein Bier zahlt ist dein Freund
wer Schnaps ausgibt ein guter Freund

An der Theke musst du dir jeden Scheiß anhören
weil deine Gönner gern reden wenn sie trinken
weil sie viel reden wenn sie viel trinken

Sie haben zu Hause alle irgendeine Frau
auf die sie sich legen können im Suff
das erzählen sie dir denn du bist noch jung
denn sie wollen dass du das Leben verstehst
und das ist halt Saufen und Weiber
wenn sie eins von beiden nicht mehr können
konzentrieren sie sich aufs andere
wenn beides nicht mehr klappt
arbeiten sie zwei Schichten oder verrecken grußlos

Und das erzählen sie dir ständig an der Theke
und du hörst zu für den Schnaps
und dir gehen die Typen auf die Nerven

Aber irgendwann wenn du besoffen genug bist
kommst du endlich auf den Trichter und überlegst
warum diese Burschen so sind wie sie sind
warum sie soviel saufen nach Feierabend
warum sie sich Zuhörer kaufen müssen
dann wird es dir erst richtig schlecht Kumpel
denn in dem Moment blickst du zum ersten Mal durch
da nennst du die Typen zum ersten Mal Freunde
ohne zu schleimen für die nächste Runde
da fühlst du zum ersten Mal ihre Ohnmacht

Doch wenn du wieder nüchtern bist merkst du
dass sich überhaupt nichts geändert hat
dass du den Schnaps den andere zahlen
nie wirklich verdienen kannst als Zuhörer
denn auf einmal hast du Verständnis
und so was macht kaputt
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Hallo Cecil,

aus dem Arbeiterleben. Du beschreibst uns, wie so ein Tag verlaufen kann. Mit allen Schikanen: Schuften bis zum Umfallen, dann nach Feierabend beginnt das eigentliche Leben. Ein sinnloses Freizeit-Leben, das den jungen Arbeiter im Grunde dazu bringt, sich nicht gegen die Ausbeutung zu wehren. Was da zum Feierabend geredet wird, ist allerhand Aufmüpfiges aus ohnmächtiger Wut, aber es bleibt an der Oberfläche und bringt ihm lediglich die Erkenntnis, dass diese Reden kaputtmachen, das heißt: den jungen Kumpel vom Nachdenken und letztlich vom Handeln abbringen. Präzise beschreibst du die Situation der Arbeiterklasse in Deutschland. Beabsichtigt? Du hast genau den Ton getroffen, das macht dein Gedicht, obwohl man es meiner Ansicht nach etwas mehr verdichten könnte, lesbar. Solche Gedichte werden gebraucht, nicht nur Szenen aus der dekadenten Kleinbürgerschicht, die im allgemeinen in den Lyrikblogs vorherrschen. Ich nehme an, du kennst dieses Milieu ganz gut, und deshalb möchte ich dich ermutigen, mehr davon zu schreiben. Es wird benötigt, um Klarheit in den Köpfen zu schaffen.

Lieben Gruß, Hanna
 
G

Gelöschtes Mitglied 24409

Gast
Hallo cecil,

ich habs gerne gelesen; mutig, in die unteren Bereiche der Gesellschaft vorzudringen und klar und einfach zu zeigen, wies den Menschen dort geht!

Kompletter Blödsinn, mit Verlaub, ist blackouts Behauptung, das Kleinbürgertum sei dekadent!
Liebe Hanna, Kleinbürger haben durch knüppelharte Arbeit sich ein wenig von dem zurückgeholt, was ihnen Kirche, Kaiser und Kriminelle geklaut haben: Grund und Boden! Schau bitte mal in die Biografielisten, wer dort aus dem Kleinbürgertum (nicht Spießbürgertum!) stammt und Großartiges geleistet hat - das ist doch keine Dekadenz!

Für Dich, lieber cecil, fünf Punkte! (Ich habe natürlich auch die ganze Zeit an mein Gedicht wiederholt gedacht ... es hat nur eine andere Herangehensweise).


Kristian
 



 
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