Hallo Allian,
du scheinst mir an der eigenen Weiterentwicklung sehr interessiert zu sein, deshalb werde ich mich deinem Gedicht gern und ausführlicher widmen.
Zunächst einmal zu den Dingen, die ich kritisch sehe:
Auch du bist leider der grassierenden Adjektivgrippe verfallen. Hier ließe sich einiges nachbessern. Für die erste Textgruppe - hier könnte man allerdings auch Strophe sagen - gebe ich dir ein paar Tipps
Anders
Ähren tauchen das Feld in goldenes Gewand
ihre einsame Masse verschlingt mich geradezu
tonlos versinke ich in dieser erstickenden Welt
sie lässt mich nicht los - während ich ertrinke
"Goldenes Gewand": Welches Synonym ließe sich dafür finden, welches Zauberwort? Ein Prachtgewand? Ein Sterntalergewand? Wenn du "golden" beibehalten möchtest, vielleicht eher "goldenes Kleid" (Rhythmus)
Einsame Masse: Das ist für mich schief, denn Masse ist nicht einsam. - Ich weiß schon, was du sagen möchtest und im folgenden Vers auch aussprichst. Es passt aber eben nicht zur einsamen Masse. Es geht in diesem Vers eigentlich um das Gefühl des Verschlungen-Werdens. Wodurch kann man verschlungen werden? Ein Loch (passt hier nicht), ein lauerndes Maul (passt auch nicht), auf diese sortierende Weise kannst du aber eine passende Metapher finden.
Der letzte Vers ist sehr gut.
ihr Staub erblindet meine Ohren und Augen
sterbendes Pfeifen hat Orientierung verloren
das Korn neigt sich stumm über meinem Kopf
sieht auf mich herab - indes leiser Regen fällt
Hier stelle ich lediglich das "sterbende Pfeifen" zur Disposition, mal abgesehen davon, dass dieser Vers grammatikalisch ein wenig misslungen ist. Ein Kornfeld rauscht, bläht sich, wirbelt auf, weht ... aber pfeift m. e. nicht. Im Wind kann ein Feld ein starkes Geräusch verursachen, etwas Sausendes vielleicht ... In der Lyrik wird es durchaus toleriert, ja, geschätzt, wenn etwas Eigenes erfunden wird.
er klopft an - ungebetener Gast - schlägt hastig
lässt meine Lippen leuchten, wenn er spricht
tränkt üppig mich in kalter Nässe - und vergisst
im Saum frustrierter Erde - seine heilende Kraft
Wo kommt "
der ungebetene Gast" plötzlich her? Wieso lässt er LyrI leuchten und vergisst andererseits seine "heilende" Kraft? Auch hier könntest du durch Vermeidung bzw. Umformung der Adjektive größere Ruhe und Klarheit in den Text bringen.
Inhaltlich finde ich dein Gedicht tadellos. Es geht hier um ein Gefühl, dass an einem wogenden Feld auftreten kann, ebenso wie am aufgewühlten Meer. Dieses Gefühl des Verschlungenseins oder dem Wunsch danach. - Dieses Gefühl des Regens auf der Haut.
Wenn du es schaffen solltest, die Metaphern geradezurücken und
etwas Überschwang herauszunehmen, könnte etwas richtig Gutes daraus werden.
Sei auch versichert, dass meine frühen Texte den deinen in dieser Hinsicht in nix nachstanden.
Wahrscheinlich neigen wir zu Beginn unserer steilen Lyrikerkarrieren fast alle dazu, so richtig auszuholen.
Was ich jetzt schon ganz wunderbar finde: Du zeigst ein ausgesprochen gutes Rhythmusgefühl, was sehr wichtig, geradezu ausschlaggebend ist. Lyrik hat ja viel mit Musik zu tun. Um diese "angeborene" Begabung weiter auszubauen, könntest du dich ruhig einmal in gereimten Gedichten versuchen. Die haben nämlich den Vorteil, dass sie die Gedankenwelt sozusagen vollautomatisch strukturieren. -
Und du hast Fantasie - ebenfalls eine wichtige Voraussetzung der Dichtkunst.
Dabei möchte ich es vorerst belassen und wünsche dir viel Erfolg. Deine "natürlichen" Anlagen lassen mich auf Weiteres gespannt sein.
LG orlando