Andi entdeckt die Welt

Andi entdeckt die Welt
Ein (unvorhergesehenes) Erlebnis beim Käppelijoch

Andi hatte an diesem Abend zuviel getrunken. Eindeutig. Aber was sollte er auch anderes tun, wo ihn doch noch am selben Tag die Freundin verlassen hatte. Drei rekordverdächtige Wochen waren sie ein Paar gewesen. „Es ist mir zu langweilig mit dir“, hatte sie ihm per SMS mitgeteilt. Und die neue Frisur gefalle ihr im Übrigen auch nicht sonderlich. Zu langweilig. Pah!

In der Disko schüttete Andi gleich literweise Whisky-Cola die Kehle hinab. Zu dröhnendem Techno tauchte er für einige Zeit in Welten, die viel schöner und lustiger waren als die wirkliche. Einmal kam er mit einer gut bestückten Blondine ins Gespräch. Sie unterhielten sich über den neusten Trend und tauschten gegenseitig die Natelnummern aus.

Gegen Mitternacht leerte sich das Tanzlokal zusehends. Um ein Uhr morgens torkelte Andi mit seinen drei Freunden schwer betrunken und unanständig laut grölend durch die Rheingasse. Verschwommen erblickte er die veralteten Reihenhäuser zu beiden Seiten, sah unscharf die Leuchtschilder der zwielichtigen Spelunken, wo die Huren lebten. Die nähere Umgebung schien sich in einem wilden Wirbel zu drehen, und am liebsten wäre Andi darin versunken. Aber das ging nicht. Er musste nach hause. Zu Fuss, und das erst noch bis zur Spitalstrasse.

Trotz seiner desolaten Verfassung gelang es Andi halbwegs, die schmerzend engen Jeans und das luftige T-Shirt zurechtzurücken sowie mit der Hand kurz übers Haar zu fahren, als eine ansehnliche Mädchengruppe die Strasse überquerte. Die vier Freunde zückten ihre Natels. "Ich habe drei neue SMS", meinte Markus stolz, wurde aber von Andi überboten, der mit sieben neuen Mitteilungen auftrumpfen konnte.

Weil Markus einen Freund hatte, der Andi doof fand, und Mike wegen einem anderen Freund nicht mit Markus gesehen werden durfte, (und er im Übrigen Hannes zu wenig cool empfand, um in seiner Gesellschaft beobachtet zu werden und Andi im Stillen dasselbe über Mike dachte), ging ein jeder der vier Freunde alleine nach Hause. Andi schwankte bis zum noblen Restaurant an der Ecke, wo er erschöpft innehielt. Die Strassen waren wie leer gefegt. In dieser Stadt war einfach nichts los. Als Andi beim Betrachten der Mittleren Brücke plötzlich zwei Mittlere Brücken erkannte, spürte er einen starken Drang in seinem Magen. Der viele Alkohol hatte ihm nicht wohl bekommen. Ehrlich gesagt hatte er nach dem ersten Drink sowieso genug intus gehabt. Und eigentlich verabscheute er Whisky-Cola. Gegenüber des noblen Restaurants, auf der anderen Strassenseite, erkannte Andi eine Statue. Sie war ihm zuvor noch nie aufgefallen. ‚Wahrscheinlich ist sie so ein blödes Denkmal, das allen bloss im Wege steht‘, dachte er sich. Die weibliche Figur sass auf der Brüstung, welche schroff zum unteren Rheinweg abfiel.

Als Andi die Statue erreichte, bemerkte er, dass sie neben sich einen schweren Koffer abgestellt hatte. Dahinter konnte sich Andi im Dunkeln ausruhen, ohne gesehen zu werden. Schlaff lehnte er sich über die Brüstung und wartete, bis sein Magen den Alkohol ausspucken würde. Wie gut, dass der Zufall ihn zu der Statue geführt hatte. Still glitten die Wassermassen im Dunkeln der Nacht den Rhein hinunter. Ach, wie schlecht er sich doch fühlte.

Ein verzweifeltes Würgen war das Resultat seiner Bemühungen. Andi hätte sich eigentlich ganz gerne übergeben, weil er sich danach wahrscheinlich viel besser gefühlt hätte. Aber heute hatte irgend jemand seinen Magen verknotet. Erschöpft neigte er sich zurück. Er wollte einige Momente ruhig durchatmen, um dann weiterzuziehen. Da vernahm Andi plätschernde Geräusche vom Flussufer. Überrascht blickte er über die Brüstung nach unten, erkannte aber nichts, weil ihm die vielen Bäume die Sicht versperrten.

Den Wetterumschwung bemerke Andi erst jetzt: Zum einen war es viel kühler geworden. In seinem kurzärmligen T-Shirt hatte Andi es zwar schon vorher als kalt empfunden, aber nun schlotterte er am ganzen Körper. Zum anderen war das Münster und der übrige Hintergrund von dichten Nebelschwaden eingehüllt worden. Auch war ein frischer Nachtwind aufgezogen.

Wieder vernahm er die plätschernden Geräusche, die irgendwie eigenartig klangen. Sie hatten sich genähert. Andi machte sich klein und blickte auf sein Natel. Es hatte vollen Empfang. Dann wagte er aus seinem sicheren Versteck, vorsichtig über die Brüstung zu spähen. Da! Ein kleines, veraltetes Fischerboot schlich sich in der Finsternis der Nacht nicht weit vom Ufer entfernt rheinaufwärts. Aus dem winzigen Kabinenfenster drang schummriges Licht.
Das Fischerboot erreichte die Mittlere Brücke, stellte sich quer zur Strömung und legte an einem morschen Steg an. Die Strassen waren wie leer gefegt. Nirgendswo brannte mehr Licht. Alle Freunde lagen schlafend im Bett. Andi war ganz alleine und hörte Stimmen in seinem Kopf.

Die Zeit verstrich, ohne das sich etwas nennenswertes ereignet hätte. Pfeifender Wind strich über den Rhein und zerfurchte das Wasser zu kleinen Wellen. Unvermittelt begann ein Glöckchen zu bimmeln, nicht laut, eher leise, beängstigend, fast geisterhaft. Es war in jener unheimlichen Kapelle auf der Mittleren Brücke untergebracht. Obwohl Andi gewiss schon tausendmal an dem Türmchen mit dem Eisengitter vorbeigegangen war, hatte er sich nie geachtet. Was sollte ihn das auch interessieren? Wichtig war vielmehr, sich um einen lässig-selbstsicheren Schritt zu bemühen und den Anderen zu zeigen, dass man jemand war.

Jetzt regte es sich unten beim Fischerboot. Unter Andis Argusaugen wurde knarrend die Kabinenluke geöffnet. Ein kleinwüchsiger, buckliger Mann kam zum Vorschein. Seine Kleidung bestand aus schmutzigen Lumpen, auf dem Kopf trug er einen schwarzen Hut, welcher ihm tief ins Gesicht fiel. Den Kopf kraftlos vorgebeugt schritt der Mann, schwerfällig wie ein Gefangener an Ketten, über den Steg an Land. Dicht hinter seinem Rücken folgten weitere düstere Gestalten, die einer nach dem anderen aus dem Fischerboot stiegen. Andi fiel auf, dass ihre Hände an rasselnde Ketten gefesselt waren. Und an ihren Füssen klebten schwere Eisengewichte. Wer waren diese geheimnisvollen Menschen und was hatten sie zu verbergen? Verbrecher, Mörder, Psychopathen? Sollte er die Polizei rufen? Nein, damit würde er sich wahrscheinlich bloss lächerlich machen.

Rasch trug der Wind den scheusslichen, nach Fäulnis stinkenden Gestank der Verdammten in Andis Nase. Die grausige Schar schleppte sich in einem zähen Zug unter dem schaudernden Gebimmel des Glöckchens die Stufen zur Mittleren Brücke hinauf. Klirrend streiften die Eisenketten über das Pflaster. Jener Mann, welcher den mysteriösen Zug anführte und auch als erster aus dem Fischerboot gestiegen war, erklimmte soeben den letzten Tritt, als er plötzlich stehen blieb. Die Kolonne geriet ins Stocken und verharrte. Andi blickte auf einen Treppenaufgang voll mit buckligen und düsteren Gestalten, sonst aber sah er keine Menschenseele.

Der Anführer hob seinen Arm, streckte ihn, drehte sich in Zeitlupengeschwindigkeit um seine Achse und zeigte dann mit dem knochigen Finger direkt auf Andi. Totenstille trat ein. Hunderte von leeren Augen starrten Andi an. Der Anführer lispelte einen Satz, den Andi sehr gut verstand.
Der gespenstische Zug kämpfte sich weiter. Andi kam die Gewissheit, dass dessen Ziel offenbar die Kapelle darstellte; er hatte aber dummerweise keine Ahnung, weshalb.

Für einen kurzen Moment verdeckten eisige Nebelschleier Teile der Mittleren Brücke, mitsamt der seltsamen Gruppe. Als Andi sie alsbald wieder erblickte, befanden sie sich nur noch wenige Meter von der Kapelle entfernt. Doch schienen sie allesamt zu Stein erstarrt – bis die traurigen Gestalten ein jämmerliches Klagelied anstimmten, dass Andi fürchterlich erschreckte.

Was sich nun abspielte, war schrecklich: Während der dicht aneinander gedrängte Zug das Klagelied summend erhielt, stieg jeweils eines der Mitglieder auf den Brückenbord und stürzte sich, scheinbar dazu gezwungen und flehentlich schreiend, in die tiefschwarzen Fluten des Rheins, wo es für immer verschwand. Dem Vorangegangen folgte der Nächste. Seltsam war, dass beim Aufprall der Körper auf das kalte Wasser keine klatschende Geräusch zu vernehmen waren. Doch das bemerkte Andi kaum.

Mit der Zeit schwand die Gruppe auf einen winzigen Haufen, und schliesslich war nur noch der Anführer verblieben. Das herzzerreissende Summen war erloschen, die Glocke der Kapelle läutete hingegen unaufhörlich weiter.

Als sich auch der Anführer daran machte, auf die Brüstung zu steigen, blickte er ein letztes Mal zu Andi. Er brauchte den Satz nicht zu wiederholen. Dann ging er schweigend in den Fluten des Rheins unter. Andi war wieder ganz alleine.
Alsbald besserte sich die Wetterlage. Die Nebelschwaden lösten sich auf, der Himmel wurde klarer, es wurde wärmer. Das alte Fischerboot hatte sich im Nichts aufgelöst. Eine einsame Strassenbahn ächzte quietschend über die Mittlere Brücke.

Noch lange blieb Andi auf dem Koffer der Statue sitzen. Schweigend, aber denkend. Irgendwann, als erste Sonnenstrahlen sich in die ausgestorbenen Gassen der Stadt verirrten, nickte Andi ein. Er kam erst wieder zu sich, als er von einem stämmigen Polizist wachgerüttelt wurde. Der Polizist stellte einige Fragen. Andi gab höflich Antwort und ging in Gedanken versunken nach Hause. Zuvor aber schmiss er noch sein Natel in den Rhein, der es gierig verschluckte.

***

Später wurde aus Andi ein berühmter Historiker, Politiker und Philosoph, der seiner Heimatstadt viel Ruhm und Ehre einbrachte. Besonders sein offener Umgang mit den Menschen wurde bewundert. Als er kurz vor seinem Tode von einem jungen Journalisten gefragt wurde, worin sein immenses Interesse für Geschichte gründete, antwortete er: „Viele Menschen in dieser Stadt und auf der Welt gehen mit Augen durchs Leben, die blind sind. In meinen jungen Jahren gehörte ich auch zu ihnen. Bis zu einem nächtlichen Erlebnis, als man mir endlich Augen öffnete, die sehen konnten. Und so begann ich jene Scheinwelt allmählich zu verstehen und begriff, welche Trostlosigkeit sich hinter ihrer Fassade verbirgt.“
 



 
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